SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2007, Seite 21

Sind die Alten schuld an leeren Kassen?

Wie mit demografischen Mythen Politik gemacht wird

Ernst Kistler: Die Methusalem-Lüge. Wie mit demografischen Mythen Politik gemacht wird, München: Hanser, 2006, 270 Seiten, 19,90 Euro
Karl Otto Hondrich: Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist, Frankfurt: Campus, 2007, 280 Seiten, 19,90 Euro

Dass die Sozialversicherungen durch den Bevölkerungsrückgang belastet würden, ist ein Märchen.
Die demografische Entwicklung macht den "ausufernden Sozialstaat" unbezahlbar, heißt es. In seinem Bestseller Ist Deutschland noch zu retten? fordert der marktradikale Hans-Werner Sinn sogar eine Rentenkürzung um die Hälfte für Kinderlose, erst bei drei Kindern soll das heutige Rentenniveau gewahrt bleiben. Der Spiegel widmete dem Thema ein ganzes Dossier; das Titelblatt zierte ein Baby und die Bildunterschrift lautete: "Der letzte Deutsche". FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher würzte seine Dekadenzfantasien mit kräftigen Prisen eines antiislamischen Rassismus. Schließlich plädiert die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Eva Herman für eine Rückkehr zur traditionellen Frauenrolle und lobt die Familienpolitik der Nazis. O tempora, o mores!
Der Koalitionsvertrag vom Herbst 2005 führt die vier großen Herausforderungen an, vor denen Deutschland stehe: Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Globalisierung und die Bevölkerungsentwicklung. Empirisch völlig unhaltbar wird behauptet: "Die Sozialversicherungen sind ... durch den demografischen Wandel ... erheblich belastet." Dabei wird in der Regel auf die gestiegene Lebenserwartung und die daraus resultierenden längeren Bezugszeiten der Renten verwiesen.
Aber die mittlere Generation muss mit ihrer Erwerbstätigkeit nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen versorgen. Dies gilt übrigens unabhängig davon, ob das System umlagefinanziert ist (wie die öffentliche Rentenversicherung) oder ob man auf die Kapitaldeckung setzt (wie bei der Riesterrente). Aufgrund der fallenden Geburtenrate kommen heute auf 100 Erwerbstätige 65 Alte und Junge; vor 25 Jahren waren es (wegen der höheren Kinderzahl) noch 78. Die Lage könnte sich daher eigentlich günstiger gestalten als früher, hätte die Politik nicht massiv zugunsten der Reichen umverteilt.
Grundlage für die demografischen Horrorszenarien ist u.a. die Zehnte koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts von 2003. Die Wiesbadener Statistiker versuchten sich in einer Vorausberechnung der möglichen Bevölkerungsentwicklung in neun Szenarien, in denen die Konsequenzen einer unterschiedlichen Zunahme der Lebenserwartung, verschiedener Zuwanderungsraten, unterschiedlicher Geburtenzahlen usw. dargelegt wurden. Bei hoher Zuwanderung würde die Bevölkerung zunächst etwas ansteigen und dann bis 2050 leicht zurückgehen; unter ungünstigsten Bedingungen käme es bis 2050 zu einem Bevölkerungsrückgang auf etwa 67 Millionen. Dieses letzte Szenario haben zahlreiche Schreiberlinge à la Schirrmacher als mehr oder weniger unabwendbar hingestellt.

"Die Methusalem-Lüge"

Es hat einige Zeit gedauert, bis (in größeren Verlagen) Bücher erschienen sind, die die Mythenbildungen der Neokonservativen und Neoliberalen aufs Korn nehmen. Auf zwei der interessantesten Veröffentlichungen soll hier eingegangen werden. Ernst Kistler wendet sich schon im Titel Die Methusalem-Lüge gegen das Gebräu von Schirrmacher und versucht, sechs wichtige Mythen der Demografiedebatte zu demontieren. Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt auf, wie unsicher demografische Annahmen sind und wie groß z.B. die regionalen Unterschiede, die in den Studien zumeist nicht auftauchen.
Mythos I liegt in der Behauptung, die demografische Entwicklung werde schon bald zu einem "spürbaren Arbeitskräftemangel" führen, wenn sich die geburtenstarken Jahrgänge nach 2015 vom Arbeitsmarkt in die Rente verabschieden.
Zahlreiche Unternehmervertreter von Braun über Hundt bis Kannegießer fordern mit dieser Begründung die Verlängerung der Wochen- wie auch der Lebensarbeitszeit. Dienstbare Politiker sind schnell bei der Hand, sich die Forderung zu eigen zu machen. Kistler zitiert die Herzog-Kommission, die schrieb: "Arbeitsmarkt- und Gesellschaftspolitik müssen und können erhebliche Anstrengungen unternehmen, damit das künftig vorhandene Potenzial an Erwerbspersonen besser eingesetzt werden kann. Dazu gehört, dass die Erwerbsphase früher einsetzt und insgesamt länger andauert." Kistler macht deutlich, dass es sich hier um "Klassenkampf von oben handelt" und nicht mit einer Schrumpfung, sondern einer Alterung des Erwerbtätigenpotenzials zu rechnen ist.
Dies führt uns zu Mythos II, nämlich der Behauptung, alternde Belegschaften seien weniger produktiv und innovativ. Der Autor zitiert eine Reihe von neueren wissenschaftlichen Studien, die nachweisen, dass ältere Arbeitende aufgrund ihrer Erfahrungen in den meisten Berufen durchaus mithalten können, sofern die Betriebe vernünftige Fortbildungsmaßnahmen organisieren. Bei der Zahl der Krankmeldungen liegen junge Leute deutlich vor den Älteren, nur bei der Dauer der Erkrankungen liegen die Älteren vorn. Und auch für die Behauptung, die Älteren seien "teurer" als die Jungen, lasse sich kein empirisch nachvollziehbarer Beweis finden.
Die Propaganda des Unternehmerlagers, es würde große Anstrengungen unternehmen, um ältere Menschen im Betrieb zu halten, wird mit eindeutigen Fakten widerlegt. Jahrzehntelang haben die Betriebe ältere "Arbeitnehmer" zulasten der Sozialkassen rausgeekelt. Die Älteren sind am meisten von der dramatisch angestiegenen Langzeitarbeitslosigkeit betroffen; 55% der Arbeitslosen zwischen 55 und 60 sowie 54% der Arbeitslosen zwischen 60 und 64 Jahren sind bereits länger als ein Jahr ohne Job.
Auch für die Behauptung, fast allen Rentnern gehe es gut und der "silberne Markt" sei eine große Zukunftsbranche, fehlt der empirische Beweis. Zwar ist Altersarmut im Gegensatz zur Kinderarmut heute noch relativ selten, doch blenden die meisten Aussagen über die Lage der Alten die nach Regionen und Schichten extrem ungleiche Einkommensverteilung sowie die Tatsache aus, dass sich die Renten in den letzten Jahren auf Talfahrt begeben haben: Ein Durchschnittsrentner hat in den letzten zehn Jahren gut 40 Euro im Monat eingebüßt.
Bei den Mythen V und VI geht es um die Rente mit 67 sowie die These, die Alterung der Gesellschaft habe zu einer "Überforderung des Sozialstaats" geführt. Kistler zeigt auf, dass die Rente mit 67 nichts anderes ist als ein "verkapptes Rentenkürzungsprogramm" und das unter Bedingungen, wo die neu in Rente gehenden Alten im Schnitt bereits 14,3% Abschlag in Kauf nehmen müssen.
Im letzten Teil setzt sich der Autor mit dem Argument auseinander, die angebliche "Überalterung der Gesellschaft" sei schuld an den leeren Kassen. Die wirklichen Ursachen liegen in der Massenarbeitslosigkeit, der starken Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen, der seit 1982 fast permanent fallenden Lohnquote sowie der Finanzierung des Anschlusses der DDR aus den Sozialkassen. Das Fazit lautet: "Ohne Verteilungsgerechtigkeit keine Generationengerechtigkeit."
Das Buch sei allen wärmstens empfohlen, die sich in der politischen Debatte mit den Kalauern des "Alltagsverstands" oder den Ergüssen der medialen Vorbeter auseinanderzusetzen haben. Die Thesen werden mit etwa fünfzig zum Teil wertvollen Grafiken unterstrichen.

"Weniger sind mehr"

Das letzte Buch des in diesem Frühjahr verstorbenen Frankfurter Soziologen Karl Otto Hondrich setzt sich vor allem mit den Aufgeregtheiten über die geringe Kinderzahl "der Deutschen" auseinander. Er behandelt die "Angstthemen" der neuen deutschen "Schreckensgemeinschaft", als da sind "Globalisierung, einschließlich des globalen Terrorismus, Islamismus und eben der Fall der Geburtenrate".
Über den Zustand der deutschen Gesellschaft habe sich in kurzer Zeit ein biologistischer Konsens herausgebildet, wonach es sich um eine "vergreisende, kinderlose, schrumpfende Gesellschaft" handle. Hondrich setzt dagegen, dass der Anteil der Alten in allen Gesellschaften steigt und dies insgesamt eine positive Entwicklung ist: "Alle Kulturen werden sich umstellen, von einer breiten Reproduktionsbasis mit hoher Sterblichkeit auf eine schmale Basis lang lebender Individuen."
"Die kinderlose Gesellschaft als Schreckensvision der Zukunft wird es nicht geben. Wohl aber eine Gesellschaft mit weniger Kindern als bisher. Das ist ein Schlag gegen die Gewohnheiten, mit denen wir, unsere Eltern und Großeltern aufgewachsen sind. Dass Kinder, Familien oder die Gesellschaft insgesamt daran Schaden nehmen, ist nicht zu erkennen. Auch wenn die Familien weniger und nur aus freien Stücken gegründet werden, wenn sie kleiner werden: Emotionale Wärme und gegenseitige Unterstützung, die Werte, die die Familie im Kern ausmachen und die sich auf die Kinder übertragen, werden nicht weniger, sondern mehr."
Hintergrund dieser Entwicklung sind für Hondrich, der deutlich in der Tradition des französischen Soziologen Durkheim steht, die "Selbstlenkungskräfte der Gesellschaft", deren "Eigensinn und Eigenweg", die stärker seien als alle interessen- oder wertegeleiteten politischen Vorgaben und Entscheidungen. Hondrich sieht daher die "Subventionspolitik" des Staates durchaus kritisch. Dabei schießt er an einigen Stellen über das Ziel hinaus, so wenn er die angeblich sehr erfolgreiche französische "Geburtenpolitik" kritisiert, weil sie sich "eine Jugendarbeitslosigkeit eingehandelt (hat), die um ein mehrfaches höher liegt als die deutsche und in den Vorstädten 40—50% erreicht".
Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieser Zusammenhang so besteht, denn auch Länder wie Italien oder Griechenland weisen eine hohe Jugendarbeitslosigkeit auf, obwohl dort die Geburtenraten niedrig sind. Und hier liegt die Schwäche des Ansatzes von Hondrich: Er geht viel zu wenig auf den Zusammenhang zwischen den Krisen der kapitalistischen Entwicklung und deren Folgen für die jeweilige Geburtenrate ein. Oder ist es Zufall, dass z.B. die (vergleichsweise gut abgesicherten) Beamten in Deutschland deutlich mehr Kinder bekommen als die übrigen Bevölkerungsschichten?
Man muss Hondrich aber ganz und gar Recht geben, wenn er den Demografiepessimisten entgegnet, dass die Wirtschaft eines Landes nicht von den dort geborenen Kindern abhängig ist. Im Gegenteil, prosperierende Volkswirtschaften wie die Schweiz, Luxemburg, die USA, die VAR usw. verlassen sich auf den Import von Arbeitskräften, und es gibt eine Art "Gesetz sinkender Reproduktivität durch steigende Produktivität", anders gesagt: Das Kinderkriegen steht in einem deutlichen Gegensatz zum Zwang zur Steigerung der Wirtschaftsleistung. Kinder werden damit "zu Konkurrenten nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für den Sozialstaat" — dessen Finanzierung ja in erheblichem Maße an der Steigerung der Produktivität hängt. Dieser Gegensatz ist gerade in Deutschland aufgrund weithin fehlender Betreuungseinrichtungen besonders ausgeprägt.

Paul B. Kleiser


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