SoZ - Sozialistische Zeitung |
Dass die Sozialversicherungen durch den Bevölkerungsrückgang belastet würden, ist ein
Märchen.
Die demografische Entwicklung macht den
"ausufernden Sozialstaat" unbezahlbar, heißt es. In seinem Bestseller Ist Deutschland noch
zu retten? fordert der marktradikale Hans-Werner Sinn sogar eine Rentenkürzung um die Hälfte
für Kinderlose, erst bei drei Kindern soll das heutige Rentenniveau gewahrt bleiben. Der Spiegel
widmete dem Thema ein ganzes Dossier; das Titelblatt zierte ein Baby und die Bildunterschrift lautete:
"Der letzte Deutsche". FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher würzte seine Dekadenzfantasien mit
kräftigen Prisen eines antiislamischen Rassismus. Schließlich plädiert die ehemalige
Tagesschau-Sprecherin Eva Herman für eine Rückkehr zur traditionellen Frauenrolle und lobt die
Familienpolitik der Nazis. O tempora, o mores!
Der Koalitionsvertrag vom Herbst 2005
führt die vier großen Herausforderungen an, vor denen Deutschland stehe: Arbeitslosigkeit,
Staatsverschuldung, Globalisierung und die Bevölkerungsentwicklung. Empirisch völlig unhaltbar
wird behauptet: "Die Sozialversicherungen sind ... durch den demografischen Wandel ... erheblich
belastet." Dabei wird in der Regel auf die gestiegene Lebenserwartung und die daraus resultierenden
längeren Bezugszeiten der Renten verwiesen.
Aber die mittlere Generation muss mit ihrer
Erwerbstätigkeit nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen versorgen. Dies gilt übrigens
unabhängig davon, ob das System umlagefinanziert ist (wie die öffentliche Rentenversicherung)
oder ob man auf die Kapitaldeckung setzt (wie bei der Riesterrente). Aufgrund der fallenden Geburtenrate
kommen heute auf 100 Erwerbstätige 65 Alte und Junge; vor 25 Jahren waren es (wegen der höheren
Kinderzahl) noch 78. Die Lage könnte sich daher eigentlich günstiger gestalten als früher,
hätte die Politik nicht massiv zugunsten der Reichen umverteilt.
Grundlage für die demografischen
Horrorszenarien ist u.a. die Zehnte koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen
Bundesamts von 2003. Die Wiesbadener Statistiker versuchten sich in einer Vorausberechnung der
möglichen Bevölkerungsentwicklung in neun Szenarien, in denen die Konsequenzen einer
unterschiedlichen Zunahme der Lebenserwartung, verschiedener Zuwanderungsraten, unterschiedlicher
Geburtenzahlen usw. dargelegt wurden. Bei hoher Zuwanderung würde die Bevölkerung zunächst
etwas ansteigen und dann bis 2050 leicht zurückgehen; unter ungünstigsten Bedingungen käme
es bis 2050 zu einem Bevölkerungsrückgang auf etwa 67 Millionen. Dieses letzte Szenario haben
zahlreiche Schreiberlinge à la Schirrmacher als mehr oder weniger unabwendbar hingestellt.
Es hat einige Zeit gedauert, bis (in größeren Verlagen) Bücher erschienen sind, die die
Mythenbildungen der Neokonservativen und Neoliberalen aufs Korn nehmen. Auf zwei der interessantesten
Veröffentlichungen soll hier eingegangen werden. Ernst Kistler wendet sich schon im Titel Die
Methusalem-Lüge gegen das Gebräu von Schirrmacher und versucht, sechs wichtige Mythen der
Demografiedebatte zu demontieren. Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt auf, wie unsicher demografische
Annahmen sind und wie groß z.B. die regionalen Unterschiede, die in den Studien zumeist nicht
auftauchen.
Mythos I liegt in der Behauptung, die
demografische Entwicklung werde schon bald zu einem "spürbaren Arbeitskräftemangel"
führen, wenn sich die geburtenstarken Jahrgänge nach 2015 vom Arbeitsmarkt in die Rente
verabschieden.
Zahlreiche Unternehmervertreter von Braun
über Hundt bis Kannegießer fordern mit dieser Begründung die Verlängerung der Wochen-
wie auch der Lebensarbeitszeit. Dienstbare Politiker sind schnell bei der Hand, sich die Forderung zu eigen
zu machen. Kistler zitiert die Herzog-Kommission, die schrieb: "Arbeitsmarkt- und Gesellschaftspolitik
müssen und können erhebliche Anstrengungen unternehmen, damit das künftig vorhandene
Potenzial an Erwerbspersonen besser eingesetzt werden kann. Dazu gehört, dass die Erwerbsphase
früher einsetzt und insgesamt länger andauert." Kistler macht deutlich, dass es sich hier um
"Klassenkampf von oben handelt" und nicht mit einer Schrumpfung, sondern einer Alterung des
Erwerbtätigenpotenzials zu rechnen ist.
Dies führt uns zu Mythos II,
nämlich der Behauptung, alternde Belegschaften seien weniger produktiv und innovativ. Der Autor
zitiert eine Reihe von neueren wissenschaftlichen Studien, die nachweisen, dass ältere Arbeitende
aufgrund ihrer Erfahrungen in den meisten Berufen durchaus mithalten können, sofern die Betriebe
vernünftige Fortbildungsmaßnahmen organisieren. Bei der Zahl der Krankmeldungen liegen junge
Leute deutlich vor den Älteren, nur bei der Dauer der Erkrankungen liegen die Älteren vorn. Und
auch für die Behauptung, die Älteren seien "teurer" als die Jungen, lasse sich kein
empirisch nachvollziehbarer Beweis finden.
Die Propaganda des Unternehmerlagers, es
würde große Anstrengungen unternehmen, um ältere Menschen im Betrieb zu halten, wird mit
eindeutigen Fakten widerlegt. Jahrzehntelang haben die Betriebe ältere "Arbeitnehmer"
zulasten der Sozialkassen rausgeekelt. Die Älteren sind am meisten von der dramatisch angestiegenen
Langzeitarbeitslosigkeit betroffen; 55% der Arbeitslosen zwischen 55 und 60 sowie 54% der Arbeitslosen
zwischen 60 und 64 Jahren sind bereits länger als ein Jahr ohne Job.
Auch für die Behauptung, fast allen
Rentnern gehe es gut und der "silberne Markt" sei eine große Zukunftsbranche, fehlt der
empirische Beweis. Zwar ist Altersarmut im Gegensatz zur Kinderarmut heute noch relativ selten, doch
blenden die meisten Aussagen über die Lage der Alten die nach Regionen und Schichten extrem ungleiche
Einkommensverteilung sowie die Tatsache aus, dass sich die Renten in den letzten Jahren auf Talfahrt
begeben haben: Ein Durchschnittsrentner hat in den letzten zehn Jahren gut 40 Euro im Monat
eingebüßt.
Bei den Mythen V und VI geht es um die
Rente mit 67 sowie die These, die Alterung der Gesellschaft habe zu einer "Überforderung des
Sozialstaats" geführt. Kistler zeigt auf, dass die Rente mit 67 nichts anderes ist als ein
"verkapptes Rentenkürzungsprogramm" und das unter Bedingungen, wo die neu in Rente gehenden
Alten im Schnitt bereits 14,3% Abschlag in Kauf nehmen müssen.
Im letzten Teil setzt sich der Autor mit
dem Argument auseinander, die angebliche "Überalterung der Gesellschaft" sei schuld an den
leeren Kassen. Die wirklichen Ursachen liegen in der Massenarbeitslosigkeit, der starken Zunahme von
prekären Beschäftigungsverhältnissen, der seit 1982 fast permanent fallenden Lohnquote sowie
der Finanzierung des Anschlusses der DDR aus den Sozialkassen. Das Fazit lautet: "Ohne
Verteilungsgerechtigkeit keine Generationengerechtigkeit."
Das Buch sei allen wärmstens
empfohlen, die sich in der politischen Debatte mit den Kalauern des "Alltagsverstands" oder den
Ergüssen der medialen Vorbeter auseinanderzusetzen haben. Die Thesen werden mit etwa fünfzig zum
Teil wertvollen Grafiken unterstrichen.
Das letzte Buch des in diesem Frühjahr verstorbenen Frankfurter Soziologen Karl Otto Hondrich setzt
sich vor allem mit den Aufgeregtheiten über die geringe Kinderzahl "der Deutschen"
auseinander. Er behandelt die "Angstthemen" der neuen deutschen
"Schreckensgemeinschaft", als da sind "Globalisierung, einschließlich des globalen
Terrorismus, Islamismus und eben der Fall der Geburtenrate".
Über den Zustand der deutschen
Gesellschaft habe sich in kurzer Zeit ein biologistischer Konsens herausgebildet, wonach es sich um eine
"vergreisende, kinderlose, schrumpfende Gesellschaft" handle. Hondrich setzt dagegen, dass der
Anteil der Alten in allen Gesellschaften steigt und dies insgesamt eine positive Entwicklung ist:
"Alle Kulturen werden sich umstellen, von einer breiten Reproduktionsbasis mit hoher Sterblichkeit auf
eine schmale Basis lang lebender Individuen."
"Die kinderlose Gesellschaft als
Schreckensvision der Zukunft wird es nicht geben. Wohl aber eine Gesellschaft mit weniger Kindern als
bisher. Das ist ein Schlag gegen die Gewohnheiten, mit denen wir, unsere Eltern und Großeltern
aufgewachsen sind. Dass Kinder, Familien oder die Gesellschaft insgesamt daran Schaden nehmen, ist nicht zu
erkennen. Auch wenn die Familien weniger und nur aus freien Stücken gegründet werden, wenn sie
kleiner werden: Emotionale Wärme und gegenseitige Unterstützung, die Werte, die die Familie im
Kern ausmachen und die sich auf die Kinder übertragen, werden nicht weniger, sondern mehr."
Hintergrund dieser Entwicklung sind
für Hondrich, der deutlich in der Tradition des französischen Soziologen Durkheim steht, die
"Selbstlenkungskräfte der Gesellschaft", deren "Eigensinn und Eigenweg", die
stärker seien als alle interessen- oder wertegeleiteten politischen Vorgaben und Entscheidungen.
Hondrich sieht daher die "Subventionspolitik" des Staates durchaus kritisch. Dabei schießt
er an einigen Stellen über das Ziel hinaus, so wenn er die angeblich sehr erfolgreiche
französische "Geburtenpolitik" kritisiert, weil sie sich "eine Jugendarbeitslosigkeit
eingehandelt (hat), die um ein mehrfaches höher liegt als die deutsche und in den Vorstädten
4050% erreicht".
Es stellt sich jedoch die Frage, ob dieser
Zusammenhang so besteht, denn auch Länder wie Italien oder Griechenland weisen eine hohe
Jugendarbeitslosigkeit auf, obwohl dort die Geburtenraten niedrig sind. Und hier liegt die Schwäche
des Ansatzes von Hondrich: Er geht viel zu wenig auf den Zusammenhang zwischen den Krisen der
kapitalistischen Entwicklung und deren Folgen für die jeweilige Geburtenrate ein. Oder ist es Zufall,
dass z.B. die (vergleichsweise gut abgesicherten) Beamten in Deutschland deutlich mehr Kinder bekommen als
die übrigen Bevölkerungsschichten?
Man muss Hondrich aber ganz und gar Recht
geben, wenn er den Demografiepessimisten entgegnet, dass die Wirtschaft eines Landes nicht von den dort
geborenen Kindern abhängig ist. Im Gegenteil, prosperierende Volkswirtschaften wie die Schweiz,
Luxemburg, die USA, die VAR usw. verlassen sich auf den Import von Arbeitskräften, und es gibt eine
Art "Gesetz sinkender Reproduktivität durch steigende Produktivität", anders gesagt:
Das Kinderkriegen steht in einem deutlichen Gegensatz zum Zwang zur Steigerung der Wirtschaftsleistung.
Kinder werden damit "zu Konkurrenten nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für den
Sozialstaat" dessen Finanzierung ja in erheblichem Maße an der Steigerung der
Produktivität hängt. Dieser Gegensatz ist gerade in Deutschland aufgrund weithin fehlender
Betreuungseinrichtungen besonders ausgeprägt.
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