SoZ - Sozialistische Zeitung |
Nach einigen Jahren Pause gibt es in der lateinamerikanischen Linken
wieder Strategiedebatten. Erneut werden Einschätzungen und Vorgehensweisen analysiert, wie das
sozialistische Ziel erreicht werden soll. Die Diskussion bezieht sich auf sechs große Themen: die
materiellen Bedingungen, das Kräfteverhältnis, die sozialen Akteure, das Massenbewusstsein, die
institutionellen Rahmenbedingungen und die Organisierung der Unterdrückten.
Die erste Debatte greift eine klassische Kontroverse auf: Sind die Produktivkräfte in Lateinamerika
reif genug, um den Versuch einer sozialistischen Umgestaltung zu unternehmen? Reichen die bestehenden
Ressourcen, Technologien und Qualifikationen aus, um einen sozialistischen Prozess in die Wege zu
leiten?Die Länder in Lateinamerika sind weniger auf einen solchen Wandel vorbereitet als die
entwickelten Nationen, stehen aber unter einem größeren Druck. Ihre Lage in den Bereichen
Ernährung, Bildung und Gesundheitsversorgung ist viel katastrophaler, zugleich verfügen sie
über weniger materielle Ressourcen, um die Probleme zu lösen. Dieses Paradox ist die Folge von
Lateinamerikas peripherer Situation und der daraus resultierenden Rückständigkeit der
Landwirtschaft, der bruchstückhaften Industrialisierung und seiner finanziellen Abhängigkeit.
In der Linken gibt es traditionell zwei
Antworten auf das Dilemma: Unterstützung eines Schritts hin zu einem fortschrittlichen Kapitalismus,
oder Einleitung des Übergangs zu einem Sozialismus, der den unzulänglichen regionalen Bedingungen
angepasst ist.
Eine andere ebenso wichtige Debatte
betrifft die Aktualität dieses Wegs. Nach dem Ende einer traumatischen Periode des Rückgangs der
Produktivität und des Zusammenbruchs der Banken in den 1980er bis 1990er Jahren erlebt Lateinamerika
heute eine Phase des Wachstums: die Exporte steigen, die Unternehmerprofite erholen sich. Man könnte
einwenden, dass unter diesen Bedingungen kein Kollaps wahrscheinlich ist, der eine antikapitalistische
Transformation rechtfertigen würde.
Aber die sozialistische Option ist kein
keynesianisches Programm, um rezessiven Markttrends entgegenzutreten. Sie ist ein Weg, um die dem
Kapitalismus innewohnende Ausbeutung und Ungleichheit zu überwinden. Sie will Armut und
Arbeitslosigkeit beseitigen, Umweltkatastrophen ausrotten, den Alptraum des Krieges beenden und Schluss
machen mit den schweren Finanzkrisen, die eine kleine Minderheit von Millionären auf Kosten von
Millionen von Menschen reicher machen.
Diese Polarisierung ist derzeit in
Lateinamerika offensichtlich. Das Wachstum der Profite und des Konsums der Wohlhabenden steht in einem
erschreckenden Kontrast zu Situationen extremer Armut. Am Tiefpunkt einer Rezession ist dies
Missverhältnis am krassesten. Aber Situationen des Zusammenbruchs sind nicht der einzige geeignete
Moment, um das System zu stürzen. Die antikapitalistische Wende ist eine Option, die jederzeit offen
ist und die an verschiedenen Momenten des ökonomischen Zyklus einsetzen kann. Die Erfahrung des
20.Jahrhunderts bestätigt dies.
Keine sozialistische Revolution fiel jemals
mit dem Tiefpunkt einer Finanzkrise zusammen. In der Mehrzahl der Fälle brach sie in Folge eines
Krieges, kolonialer Besatzung oder diktatorischer Unterdrückung aus. Das waren die Bedingungen, unter
denen die Bolschewiki die Macht übernahmen, Mao in China erfolgreich war, Tito in Jugoslawien siegte,
die Vietnamesen die USA vertrieben und die kubanische Revolution triumphierte.
Viele von diesen Siegen wurden auf der
Höhe des Nachkriegsbooms davongetragen, d.h. in einer Zeit intensiven kapitalistischen Wachstums. Es
gibt also keinen Mechanismus, der den Beginn des Sozialismus notwendigerweise an einen ökonomischen
Zusammenbruch bindet. Das Elend, das der Kapitalismus hervorruft, reicht in jeder Phase seiner periodischen
Fluktuationen aus, um seinen Sturz herbeizuführen.
Ein Einwand gegen die Aktualität des Sozialismus betont die Hindernisse, die durch die
Globalisierung geschaffen würden. Es wird argumentiert, die gegenwärtige Internationalisierung
des Kapitals mache eine antikapitalistische Herausforderung in Lateinamerika unmöglich.
Aber wo genau liegen die Gründe
für diesen Einwand? Die Globalisierung stellt kein Hindernis für das sozialistische Projekt dar,
denn dies hat eine universelle Reichweite. Sein Wuchern über Grenzen hinaus vergrößert die
Ungleichgewichte im Kapitalismus und schafft eine größere objektive Basis für seine
Überwindung.
Nur wer den Aufbau des Sozialismus als
einen "Wettbewerb zwischen zwei Systemen" begreift, kann in der Globalisierung ein Hindernis
sehen. Das ist ein Überbleibsel der Theorie des "sozialistischen Lagers", die von den
Anhängern des alten sowjetischen Modells vertreten wurde.
Insbesondere periphere oder weniger
industrialisierte Ökonomien können jedoch in der Konkurrenz mit imperialistischen
Mächten, die den Weltmarkt seit Jahrhunderten kontrollieren, niemals obsiegen. Der Erfolg des
Sozialismus verlangt eine Abfolge von mehreren Prozessen, die den globalen Kapitalismus unterminieren. Der
Sozialismus in einem einzigen Land (oder einem Block) ist eine Illusion, die wiederholt dazu geführt
hat, Möglichkeiten des revolutionären Übergangs den diplomatischen Rivalitäten zweier
Blöcke von Nationen unterzuordnen.
Andererseits entspringt die Behauptung, die
Globalisierung blockiere die Entwicklung anderer Modelle, auch dem neoliberalen Standpunkt, es gebe keine
Alternative zur herrschenden Politik. Wenn man diese Prämisse akzeptiert, muss man aber auch jedes
Vorhaben fallen lassen, den Kapitalismus regulieren zu wollen, denn die Durchsetzbarkeit von Regulierungen
hängt von der Macht des Nationalstaats ab, sich von außen aufgezwungenen Maßnahmen zu
widersetzen.
Manche Theoretiker sehen die
Aktualität des Sozialismus im globalen Rahmen, bezweifeln aber seine Machbarkeit in kleinen
lateinamerikanischen Ländern. Sie glauben, dass seine Einführung verschoben werden muss. In der
Vergangenheit wurde eine solcherart hinausgeschobene Perspektive mit Überlegungen über das
Aufkommen einer nationalen Bourgeoisie verbunden, die in der vorsozialistischen Phase bestimmend sein
sollte. Heute ist jedoch offensichtlich, dass es in Ländern wie Bolivien mindestens so schwer ist,
einen konkurrenzfähigen Kapitalismus zu entwickeln wie Schritte zum Sozialismus einzuleiten. Man muss
sich nur vorstellen, welche Zugeständnisse die großen ausländischen Firmen für ihre
Duldung oder Beteiligung an einem solchen Projekt verlangen würden und zu welchen Konflikten mit der
Mehrheit der Bevölkerungen dies führen würde.
Das Kräfteverhältnis in Lateinamerika bestimmt sich durch die Positionen, die drei Sektoren
gewonnen, gefährdet oder verloren haben: die lokalen Kapitalistenklassen, die Masse der
Unterdrückten und der US-Imperialismus. In den 90er Jahren hat das Kapital eine globale Offensive
gegen die Arbeiterklasse gestartet. Diese Offensive hat sich in den letzten Jahren abgeschwächt, das
internationale Klima ist aber den Lohnarbeitern feindlich geblieben. Trotzdem gibt es in Lateinamerika
mehrere Besonderheiten.
Die örtlichen Kapital besitzenden
Klassen haben aktiv an der neoliberalen Offensive teilgenommen, haben letztlich aber ebenfalls unter den
Nebenwirkungen dieses Prozesses gelitten. Mit der Öffnung der Märkte haben sie
Wettbewerbspositionen verloren, und mit der Entstaatlichung des Produktionsapparats mussten sie
geschützte Stellungen gegenüber ausländischen Konkurrenten aufgeben. Auch die Finanzkrisen
erschütterten das örtliche Establishment und schwächten seine unmittelbare politische
Präsenz. Die politische Rechte geriet schließlich in die Minderheit, Mitte-Links-Regierungen
haben vielfach konservative Regierungen ersetzt. Die kapitalistischen Eliten bestimmen nicht mehr die
Agenda in der gesamten Region. Es hat sie eine Krise des Neoliberalismus befallen, die zu seinem
strukturellen Niedergang führen könnte. Größere Volksaufstände, die dem Sturz
mehrerer Regierungen vorangingen, haben das regionale Kräfteverhältnis verändert.
Aufstände in Bolivien, Ecuador, Argentinien und Venezuela haben Auswirkungen auf alle herrschenden
Klassen.
Der kämpferische Impuls ist sehr
unterschiedlich. In Bolivien, Venezuela, Argentinien hat das Volk die Initiative übernommen, aber
Brasilien und Uruguay hingegen haben Enttäuschungen zu seinem Abebben geführt. Neu ist das
Erwachen gewerkschaftlicher und studentischer Kämpfe in Ländern, die das neoliberale Ranking
anführen wie Chile, oder in Ländern, die in Folge von sozialer Ungerechtigkeit und Emigration
ausbluten wie Mexiko.
Zu Beginn der 90er Jahre begann der US-
Imperialismus mit der politischen Rekolonisation seines Hinterhofs mit Hilfe von Freihandel und der
Errichtung von Militärbasen. Auch das hat sich geändert. Das Abkommen über eine
Amerikanische Freihandelszone ALCA/ FTAA ist in seiner ursprünglichen Fassung gescheitert, weil es
Konflikte gab zwischen global operierenden Firmen und solchen, die vom inneren Markt abhängig sind,
auch Konflikte zwischen der auf den Binnenmarkt orientierten Industrie, der Exportwirtschaft und einem
verbreiteten Volkswiderstand. Das US-Außenministerium hat mit bilateralen Verträgen reagiert,
kann den Rückschlag damit jedoch nicht ausgleichen.
Bushs internationale Isolierung lässt
ihm wenig Raum für unilaterales Handeln; dadurch sind geopolitische Blöcke wieder aufgekommen,
die den USA feindlich gegenüberstehen (wie die Blockfreien). Der Rückzug der USA zeigt sich
deutlich am Ausbleiben militärischer Antworten auf die Herausforderung durch Venezuela.
Die Träger der sozialistischen Transformation sind die Opfer der kapitalistischen Herrschaft, aber
die spezifischen Subjekte dieses Prozesses sind in Lateinamerika sehr verschieden. Mancherorts wie in
Ecuador, Bolivien und Mexiko spielten die indigenen Gemeinschaften eine führende Rolle bei den
Aufständen. Andernorts (Brasilien, Peru und Paraguay) führten campesinos den Widerstand an. In
Argentinien und Uruguay waren die Protagonisten städtische Lohnabhängige, oder in der Karibik und
in Zentralamerika prekär Beschäftigte. Auffallend sind die neue Rolle der indigenen
Gemeinschaften und der geringere Einfluss der Industriegewerkschaften. Die Vielzahl der gesellschaftlichen
Sektoren spiegelt die differenzierte soziale Struktur und die politischen Besonderheiten jedes Landes
wider.
In dieser Unterschiedlichkeit zeigt sich
auch die Bandbreite der Teilnehmer an einer sozialistischen Umwälzung. Da die Entwicklung des
Kapitalismus mit einer Ausweitung der Ausbeutung von Lohnarbeit und der verschiedenen Formen der
Unterdrückung einhergeht, sind sämtliche Ausgebeuteten und Unterdrückten potenziell
Träger eines sozialistischen Prozesses. Wesentlich ist ihr Zusammenkommen im gemeinsamen Kampf um
zentrale, sich immer wieder verändernde Punkte der Rebellion.
Natürlich kommt gewissen Segmenten der
Lohnabhängigen eine einflussreichere Rolle zu wegen des Platzes, den sie in lebenswichtigen
Wirtschaftsbranchen einnehmen (Bergbau, Fabriken und Banken). In der gegenwärtigen Phase der
wirtschaftlichen Erholung zeigt sich das deutlich. In Argentinien gewinnen die Gewerkschaften wieder an
Einfluss auf der Straße verglichen mit der Rolle, die die Arbeitslosen und die Mittelschicht
während der Krise 2001 spielten. In Chile zeigen sich die Auswirkungen der Bergarbeiterstreiks, in
Mexiko gewinnen bestimmte Gewerkschaften an Stärke, in Venezuela ist der Einfluss der Arbeiter in der
Ölindustrie nach wie vor bedeutend.
Das Bewusstsein der Unterdrückten unterliegt starken Schwankungen. Zwei entgegengesetzte
Kräfte beeinflussen seine Entwicklung: die Lehren, welche die Ausgebeuteten aus ihrem Widerstand gegen
das Kapital ziehen, und die Entmutigung im Alltag, die das Resultat von Überlebensängsten,
drückenden Arbeitsbedingungen und tagtäglicher Entfremdung ist.
Unter bestimmten Bedingungen dominiert die
Kritik, in anderen Momenten gewinnt die Resignation die Oberhand. Das hängt von vielen Faktoren ab und
prägt die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Kapitalismus in den verschiedenen Generationen. Der
Großteil der heutigen Jugend ist ohne die Erwartung besserer Arbeitsbedingungen und einer besseren
Ausbildung aufgewachsen, die in der Nachkriegszeit vorherrschte, sie sieht in Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit
und Ungleichheit normale Strukturmerkmale des Systems.
Die heutige Generation von
Lateinamerikanern ist aber auch nicht, wie ihre Eltern, in einer Zeit von revolutionären Triumphen
aufgewachsen. Ihr fehlt ein erfolgeicher antikapitalistischer Bezugspunkt, das erklärt in
Verbindung mit ihren unmittelbaren Erfahrungen ihre spontan größere Distanz zum
sozialistischen Projekt.
Die großen Unterschiede zwischen der
jetzigen Periode und der von 1960 bis 1980 liegen mehr auf dieser Ebene des politischen Bewusstseins als im
Bereich des Kräfteverhältnisses oder der Verschiebung der sozialen Subjekte. Nicht die
Intensität der sozialen Konflikte, die Kampfbereitschaft der Unterdrückten oder die
Kontrollmöglichkeiten der Unterdrücker haben sich grundlegend geändert, sondern die
Greifbarkeit eines sozialistischen Modells und das Vertrauen darauf.
Die lateinamerikanische Linke sieht sich mit einem relativ neuen strategischen Problem konfrontiert. Zum
ersten Mal in der Geschichte der Region regieren die herrschenden Klassen über eine längere Zeit
in beinahe jedem Land mit nichtdiktatorischen Institutionen. Nicht einmal ökonomische und politische
Zusammenbrüche oder Volksaufstände haben an dieser Regierungsform etwas geändert. Die
Rückkehr zur Militärherrschaft ist eine Option, die die Mehrheit der Eliten fallengelassen hat.
In den kritischsten Situationen werden alte Präsidenten durch neue Staatschefs mit einer Art zivil-
militärischer Übergangsregierung ersetzt, das führt jedoch nicht zur Wiedereinführung
von Diktaturen.
In ihrer großen Mehrheit sind die
derzeitigen Regime Plutokratien im Dienst der Kapitalisten und haben mit realer Demokratie kaum etwas zu
tun. Sie haben soziales Unrecht in einer Größenordnung geschaffen, die viele Diktaturen nicht
einmal ansatzweise gewagt hätten. Diese Angriffe haben die Herrschaftssysteme ihrer Legitimität
beraubt, aber sie haben nicht dazu geführt, dass die Menschen die verfassungsmäßige Ordnung
ablehnen, so wie sie die alten Tyranneien abgelehnt haben.
Dieser Wandel in der Form kapitalistischer
Machtausübung hat widersprüchliche Auswirkungen auf das Handeln der lateinamerikanischen Linken.
Auf der einen Seite erweitert er ihre Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund bürgerlicher
Freiheiten. Auf der anderen Seite wird damit auch ein institutioneller Rahmen geschaffen, dem Vertrauen
entgegengebracht wird. Ein Regime, das die Macht der Unterdrücker zugleich begrenzt und konsolidiert,
bedeutet eine große Herausforderung für die Linke, insbesondere wenn diese Struktur von der
Mehrheit der Bevölkerung als der natürliche modus operandi einer modernen Gesellschaft betrachtet
wird.
Diese Haltung wird von der Rechten
befördert, die weiterhin in einem verfassungsmäßigen Rahmen operiert, aber auch von den
Mitte-Links-Parteien, die den Status quo der Klassenherrschaft aufrechterhalten und ihn mit einem
fortschrittlichen Schein versehen. Beide Seiten arbeiten mit falschen Polarisierungen um zu verbergen, dass
an den Spitzen der politischen Macht nur Figuren ausgewechselt werden.
Ein aktuelles Beispiel für diese
wechselseitige Ergänzung ist die "moderne und zivilisierte Linke", die mit Lula, Tabaré
oder Bachelet an die Regierung gekommen ist, um die Herrschaft des Kapitals fortzusetzen. Andere
Situationen sind problematischer, weil die institutionelle Kontinuität durch Wahlbetrug (Mexiko) oder
durch den Rücktritt des Präsidenten (Bolivien, Ecuador, Argentinien) gebrochen wurde. In manchen
Fällen endete dieser Umbruch mit der Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung (Kirchner). In
anderen Ländern führte die Krise zur unerwarteten Regierungsübernahme durch
linksnationalistische oder radikalreformistische Präsidenten. Dies ist der Fall bei Hugo Chávez
und Evo Morales und möglicherweise auch bei Rafael Correa.
In all diesen Prozessen bildeten Wahlen
einen Ort des Kampfes gegen die Reaktion und den Ausgangspunkt für radikale Reformen. Diese
Schlussfolgerung ist für die Linke außerordentlich wichtig. Man darf nicht vergessen, dass in
Venezuela z.B. jede Wahl von 1998 bis heute die Legitimität des bolivarianischen Prozesses
bestätigt hat. Die Wahlen haben den Sieg der Massenmobilisierungen ergänzt.
Der verfassungsmäßige Rahmen verändert den Kurs linker Aktivitäten erheblich.
Über Jahrzehnte haben sich diese gegen Militärdiktaturen gerichtet. Unter den jetzigen
Bedingungen ist der Kampf nicht einfach, denn der Institutionalismus ermöglicht verschiedene Formen
der bürgerlichen Herrschaft. Der Wandel der Formen wirkt auf eine Generation von Aktivisten, die
gewohnt waren, gegen einen sehr brutalen, aber unzweideutigen diktatorischen Gegner zu kämpfen,
zunächst verwirrend. Einige Aktivisten wurden von diesen Schwierigkeiten demoralisiert und haben die
Vorwürfe der Rechten schließlich internalisiert. Sie haben begonnen, sich selbst zu beschuldigen,
sie hätten früher die Demokratie unterschätzt, und dabei vergessen, dass die
bürgerlichen Freiheiten eine Errungenschaft ihres Widerstands waren.
Andere proklamieren das Ende der
"revolutionären Utopie" und den Beginn einer neuen Ära von allmählichen Schritten
in eine nachkapitalistische Zukunft. Sie kehren zu einem gradualistischen Programm zurück und schlagen
vor, den Weg zum Sozialismus gestützt auf einen Anfangskonsens mit den Unterdrückern
einzuschlagen. Auf diese Weise sollen die arbeitenden Menschen in eine hegemoniale Position gebracht
werden.
Die Erfahrungen mit der Sozialdemokratie
haben jedoch gezeigt, dass diese Option unrealistisch ist. Die herrschenden Klassen geben die Macht nicht
ab. Sie kooptieren lediglich Partner, um die Säulen ihrer Herrschaft wieder herzustellen, die auf dem
Privatbesitz an den großen Banken und Unternehmen beruht. Sie werden niemals erlauben, dass sie durch
das politische oder kulturelle Gewicht ihrer Gegner untergraben wird.
Aus diesem Grund endet jede Politik, die
das antikapitalistische Ziel auf den Sanktnimmerleinstag hinausschiebt, in einer Verstärkung der
Unterdrückung. Der Weg zum Sozialismus verlangt die Vorbereitung und Durchführung von
antikapitalistischen Brüchen. Wenn man dieses Prinzip vergisst, bekommt die Strategie der Linken keine
Richtung.
Die Auseinandersetzung mit dem
Konstitutionalismus hatte in den letzten Jahren allerdings auch positive Effekte. Sie hat z.B. in der
Linken eine Debatte über die Form ermöglicht, die eine wirkliche Demokratie unter sozialistischen
Vorzeichen annehmen kann. Daraufhin hat sich das Verständnis von der antikapitalistischen Perspektive
erheblich gewandelt. In den 70er Jahren war Demokratie ein Thema, das die Kritiker der sowjetischen
Bürokratie vermieden oder kaum thematisierten. Jetzt kommt kaum jemand um dieses Problem herum. Man
hat aufgehört, sich den Sozialismus als eine Verlängerung der Tyrannei vorzustellen, die in der
Sowjetunion herrschte, und man beginnt, ihn als ein Regime zu verstehen, in dem es mehr Beteiligung, mehr
Repräsentation und mehr öffentliche Kontrolle gibt.
Die Zukunft hängt davon ab, dass auf
den Konstitutionalismus eine rasche Antwort gefunden wird. Zwei Positionen sind auf der Linken
vorherrschend: Die eine schlägt vor, Räume in den Institutionen zu besetzen, die andere tritt
für den Aufbau paralleler Organe der Volksmacht ein. Der erste Weg führt von Erfahrungen mit
Kommunalregierungen zur Provinzebene und schließlich in die nationale Regierung (das ist der Weg der
brasilianischen PT und der Frente Amplio in Uruguay in den frühen 90er Jahren). Seine Verfechter geben
zu, dass dabei bittere Zugeständnisse an das Establishment gemacht werden mussten, betrachten das
Endergebnis aber positiv.
Ohne Zweifel hat der "kommunale
Sozialismus" alte Aktivisten zu Vertrauensleuten des Kapitals gemacht. Sie debattieren in den
Rathäusern, stehen sozialen Bewegungen feindlich gegenüber und enden schließlich damit, im
Interesse der herrschenden Klasse zu regieren. Zuerst fahren sie ihre Programme zurück, dann rufen sie
zur Übernahme von Verantwortung auf, und schließlich wechseln sie die Seiten.
Der Beteiligungshaushalt konnte dieser
Regression nichts entgegensetzen. Die Diskussion über die Verteilung lokaler Ausgaben, führt,
wenn sie durch die Zwänge einer neoliberalen Politik begrenzt werden, zur Selbsteinschränkung der
Bevölkerung.
Eine entgegengesetzte Strategie ermutigt
soziale Mobilisierung und lehnt die Beteiligung an Wahlen ab. Sie klagt die Korruptheit der PT oder die
Passivität der Frente Amplio an und tritt für den direkten Kampf um die Volksmacht ein.
Diese Sichtweise ignoriert den Einfluss von
Wahlen und spielt die negativen Folgen davon herunter. Bürgerrechte, Stimm- und Wahlrecht sind
Errungenschaften, die gegen die Diktaturen durchgesetzt worden sind. Wären Wahlen nur Betrug,
könnten sie nicht die fortschrittliche Rolle spielen, die sie bspw. in Venezuela gespielt haben.
Es ist ein falsches Dilemma, die
Spielregeln des Konstitutionalismus entweder zu akzeptieren oder zu ignorieren. Dazu gibt es einen dritten
Weg, der machbar ist: die direkte Aktion muss mit der Teilnahme an Wahlen kombiniert werden. Dadurch lassen
sich Volksaufstände die für jeden revolutionären Prozess notwendig sind mit
einem Prozess des Heranreifens von sozialistischem Bewusstsein im Rahmen konstitutioneller Politik
verbinden.
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