SoZ - Sozialistische Zeitung |
Kredite werden teurer, die Konjunktur schwächt
sich ab, und trotzdem steigen die Börsenkurse. Kündigt sich hier bereits ein neuer Aufschwung an?
Oder unterschätzen Finanzanleger das Ausmaß der im Spätsommer ausgebrochenen Finanzkrise?
Stehen gar, wie in den 70er Jahren, Wirtschaftskrise und Inflation gleichzeitig ins Haus?
Fragen über Fragen, die die
Gesellschaft der Marktteilnehmer von höchsten Autoritäten beantwortet wissen will den
Zentralbankchefs in Tokyo, Frankfurt und insbesondere Washington.
Deren ehemaliger Präsident Alan
Greenspan hat dem Kapitalfetisch ein Gesicht gegeben, an dem der amtierende Zentralbankchef Ben Bernanke
sowie die Zauberlehrlinge Jean-Claude Trichet in Frankfurt und Toshihiko Fukui gemessen werden. Um die
Fragen zu beantworten, rufen diese den Geist Milton Friedmans an.
Dieser hatte aus seinen monetaristischen
Analysen der Großen Depression Schlussfolgerungen gezogen, die in den 70er Jahren wirkungsmächtig
wurden und es seither geblieben sind. Keynes Argument, die Depression Ende der 20er Jahre sei durch
gesamtwirtschaftlichen Nachfragemangel verursacht worden, dem durch wirtschaftspolitische Intervention
beizukommen sei, stellte er die Behauptung entgegen, Fehlentscheidungen der US-Zentralbank hätten zu
einer katastrophalen Geldknappheit geführt.
Infolgedessen hätten viele
Geschäfte nicht wie geplant getätigt werden können, weil die zu ihrer Abwicklung notwendigen
Tauschmittel nichts anderes stellt Geld in Friedmans Weltbild dar nicht verfügbar waren.
Allgemeiner Preisverfall und Absatzstockung seien die Folge gewesen, deren Ursache ein Versagen der
Geldpolitik.
Wo Keynes ein Marktversagen
diagnostizierte, das er durch politische Intervention zu korrigieren suchte, argumentierte Friedman genau
anders herum: Erst die Politik führe zu Störungen eines ansonsten stets zum Gleichgewicht
tendierenden Marktwirtschaft.
Wenn Geldknappheit zu Deflation und
Depression führen, behauptete Friedman weiter, verursacht eine großzügige Geldversorgung
ungekehrt eine Überhitzung der Konjunktur. Die damit verbundene Inflation und Überproduktion sind
zwar lästig, würden in einer funktionierenden Marktwirtschaft aber problemlos dadurch korrigiert,
dass Unternehmen ihre Überschüsse schließlich zu niedrigeren Preisen verkaufen würden.
Die Preisanpassung bewirke einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage, dieser sei jedoch in Sozialstaaten
mit starken Gewerkschaften nicht mehr möglich. Da würden Zentralbanken zur Finanzierung von
Sozialprogrammen herangezogen.
Darüber hinaus würde Geld, das
die Zentralbank bereitstellt, weniger den realen Wirtschaftskreislauf als eine von den Gewerkschaften
losgetretene Lohn-Preis-Spirale schmieren. Gesetzlich anerkannte Gewerkschaften und Sozialstaat seien
für die inflationäre Aushöhlung des ehrlich erworbenen Reichtums verantwortlich.
Unter diesen Bedingungen trat Friedman
für eine restriktive Geldpolitik ein und kalkulierte dabei sogar eine "Stabilisierungskrise"
ein: Die Zentralbanken müssten gegen die Begehrlichkeiten von Parlament und Regierung abgeschirmt, die
Macht der Gewerkschaften gebrochen und der Sozialstaat zurückgefahren werden.
Friedmans Theorie fasste das unter den
vermögenden Klassen verbreitete Unbehagen gegenüber organisierten Arbeitern und Sozialstaat in
einer wirtschaftspolitischen Strategie zusammen: Unter der Führung autonomer Zentralbanken sollte der
Wert des Geldes wiederhergestellt werden.
Die Senkung der Inflationsrate war das erste Etappenziel im Feldzug gegen die Arbeiterklasse. Eine durch
Geldverknappung in den frühen 80er Jahren ausgelöste Krise führte zu massiv steigender
Arbeitslosigkeit und zur Aushöhlung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht. In der Folge konnten
Arbeiter weder die Kaufkraft ihrer Nominallöhne gegen Preissteigerungen verteidigen, noch die
steigende Produktivität ihrer Arbeit in steigende Reallöhne übersetzen.
Die Mobilisierung der industriellen
Reservearmee beendete den inflationären Verteilungskampf zwischen Lohnarbeit und Kapital und
führte zu realen Verschiebungen der Einkommensverteilung. An die Stelle der Lohn-Preis-Spirale
oder handelte es sich um eine Preis-Lohn-Spirale? trat eine Umverteilung vom Lohn zum Profit.
Genau genommen führte die von Friedman
inspirierte Politik des knappen Geldes nicht zu einer Krise des Kapitalismus, sondern zu einer Krise der
organisierten Arbeiterbewegung, die sich an Vollbeschäftigung und Sozialpartnerschaft so sehr
gewöhnt hatte, dass sie vom Blitzkrieg des organisierten Geldes unvorbereitet erwischt wurde.
Friedmans eigener Logik folgend hätte
die Politik des knappen Geldes nicht zu einer vorübergehenden Konjunkturkrise, sondern zu einer
anhaltenden Depression führen müssen, in der mangelnder Warenumsatz schließlich auch eine
Krise des Profits herbeigeführt hätte. Dazu kam es nicht, weil massive Rüstungsaufträge
der Reagan-Regierung die US-Wirtschaft direkt und, über US-Importe, die Weltwirtschaft indirekt
angekurbelt haben.
Darüber hinaus heizte der wachsende
Reichtum der vermögenden Klassen deren Ausgabenlust an. Während sich die US-Mittelklasse
demonstrativ dem Konsum hingab, investierte das organisierte Geld am liebsten in sich selbst.
In dem Bemühen, den lästigen
Produktionsprozess und insbesondere dessen ungeliebten Kern, die auszubeutende aber leider auch
eigenwillige lebendige Arbeitskraft zu umgehen, verschob es die Akkumulation von der Güter- und
Dienstleistungsindustrie zum Finanzsektor. An dessen Horizont zeichneten sich Renditen ab, deren
Realisierung anstelle des Managements von Produktions- und Zirkulationsprozessen nur noch einen Anruf beim
befreundeten Broker erforderte.
Das Herz der Wirtschaft schlug nicht mehr
in den Fabriken entlang der Mainstreet, sondern an der Wall Street. Ihr Rhythmus wurde von der Zentralbank
in Washington kontrolliert, die unter Alan Greenspan zum Herzschrittmacher der Wall Street wurde.
Mit seiner Politik der nahezu ungehemmten,
monetaristischen Grundsätzen Hohn sprechenden Geldausweitung hielt er die Finanzinvestoren bei Laune.
Um die Einkommensansprüche der Wall Street zu befriedigen, trieb das im Industriesektor verbliebene
Management die Arbeiter zu immer schnellerer und längerer Mehrwertproduktion an.
Um den Mehrwert zu realisieren, musste die
Mittelklasse kaufen, kaufen, kaufen. Trotzdem reichte die Beschleunigung von Produktions- und
Zirkulationsprozess nicht aus, um die vom organisierten Geld geforderten Profite in seine Taschen zu
spülen. Die erwarteten Profite, mithin die Wertpapierkurse, stiegen schneller als die realisierten
Profite. Die Folge war eine Wertpapierinflation.
Der real praktizierte Monetarismus, der mit
der monetaristischen Theorie nicht übereinstimmt, hat also nicht zum Ende der Inflation geführt,
sondern zu deren Verschiebung von den Märkten für Güter und Dienstleistungen zu den
Finanzmärkten.
Nicht realisierbare Renditeansprüche
(Fehlspekulationen) haben seit den 80er Jahren zu einer Welle von Finanzkrisen geführt. In deren
Verlauf mussten nichtrealisierbare Einkommensansprüche mehrfach zurückgeschraubt werden. Um
solche Verluste gering zu halten, wurde gleichzeitig das Arbeitstempo weiter beschleunigt und eine neue
Welle kapitalistischer Landnahme in Angriff genommen. Damit wurde stets auch der nächste
Börsenaufschwung eingeleitet und der nächste Börsenkrach vorprogrammiert.
Die theoretischen Erben Friedmans, dessen
Ideen für die Organisation des großen Geldes als führende Fraktion innerhalb der Bourgeoisie
so wichtig gewesen waren, plädieren inzwischen für eine Beschneidung geldpolitischer
Interventionen und einen entschlossenen Kampf gegen die Wertpapierinflation. Ideen von Friedrich Hayek und
Joseph Schumpeter aufnehmend, plädieren sie für eine Zurückdrängung oder völlige
Aufgabe staatlicher Geldpolitik und betonen stattdessen die Notwendigkeit von Kapitalvernichtung als
Bestandteil kapitalistischer Reinigungskrisen.
Solche Ideen waren unter den
vermögenden Klassen wohl gelitten, solange es gegen die Besitzstände einer verbürgerlichten
Arbeiterklasse ging. Seit der Finanzkapitalismus jedoch droht, seine eigenen Kinder zu fressen, steht
staatliche Protektion wieder hoch im Kurs.
Die zwischen Kreditschulden und
Wertpapierbesitz zerrissene Mittelklasse sucht vor allem Schutz vor sich selbst. Geldpolitisch begleitete
Wertpapierinflation erlaubt ihr die Aufrechterhaltung kollektiver Vermögensillusionen, was umso
wichtiger ist, je öfter der Gerichtsvollzieher an einzelne Haustüren klopft.
Großes Geld und konzentrierter
Produktionsmittelbesitz wappnen sich gegen die Angriffe einer möglicherweise vom monetaristischen
Glauben abfallenden Mittelklasse und einer ebenso möglicherweise gegen Arbeitshetze und miserable
Lebensbedingungen revoltierenden Arbeiterklasse.
Aus dieser Perspektive ist der von George
Bush erklärte Krieg gegen den Terror auch ein Präventivkrieg gegen die Ausgebeuteten,
Unterdrückten und Widerständigen im eigenen Land. Die Markteuphorie der 90er Jahre, die Alan
Greenspan zum personifizierten Kapitalfetisch machte, ist lange vorbei. Seine Nachfolger sind nur noch
blasse Charaktermasken, die sich die mediale Aufmerksamkeit mit Militärs, Juristen und Polizeichefs
teilen müssen.
Hat eigentlich mal jemand behauptet, in
einer entfesselten Marktwirtschaft stürbe der Staat ab?
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