SoZ - Sozialistische Zeitung |
Seit gut 30 Jahren stellt der Neoliberalismus weltweit das herrschende
Theoriegebäude dar; Theorie und Praxis der Politik folgen in weiten Teilen seinen theoretischen
Maximen. Die Zahl der Veröffentlichungen zu dem Thema ist Legion. Was kann das Buch des US-
amerikanischen Hochschullehrers Neues bieten?
Harvey versucht in sieben Teilen, Struktur
und Geschichte, Ideologie und Politik der letzten Jahrzehnte kritisch zu sichten und mögliche
Ansatzpunkte für politische Alternativen zu finden. Besonders interessant ist seine Darstellung der
chinesischen Wirtschaftsentwicklung.
Zunächst zeigt er auf, wie der
gemäß den Rezepten von Keynes mehr oder weniger stark staatlich gelenkte Kapitalismus der
Nachkriegszeit, der drei Jahrzehnte hindurch zumindest im Norden hohe Wachstumsraten erzielt hat, durch den
Fall der Profitrate und die "Stagflation" der 70er Jahre in eine schwere Krise geriet. Sie
führte zusammen mit gesellschaftlichen Radikalisierungsprozessen in einer Reihe von
europäischen und lateinamerikanischen Ländern zu einer direkten Bedrohung der herrschenden
Klassen. Die neoliberale Wende, die in Chile und Argentinien mit Hilfe eines blutigen Militärputsches
eingeleitet wurde, sei von vornherein als Projekt angelegt gewesen, "das die alte Klassenmacht wieder
herstellen" sollte. "Die Umverteilung von unten nach oben sowie die Verschärfung der
sozialen Ungleichheit waren und sind eine derart konstante Begleiterscheinung der neoliberalen Wende, dass
sie nachgerade als Strukturmerkmale des ganzen Projekts angesehen werden können."
Der Prozess wurde jedoch nicht
gemäß einem Masterplan durchgezogen, sondern erforderte zahlreiche Kämpfe und Korrekturen.
Erhellend ist seine Darstellung der Durchsetzung der Sparpolitik in New York City ab der Mitte der 70er
Jahre, begleitet von einer starken Zunahme sozialer Desintegration und von Gewaltverbrechen.
Der "Washingtoner Konsens" von
1990 stellte schließlich eine Art programmatische Zusammenfassung der politischen Vorgaben des
Neoliberalismus dar. Zu diskutieren bliebe allerdings, welch zwiespältige Rolle die reformistischen
Parteien dabei spielten, die ja in einigen Ländern an die Regierung gekommen waren. Verwunderlich
auch, dass Harvey die politischen und ideologischen Konsequenzen des Zusammenbruchs des Ostblocks, der in
der Arbeiterbewegung zu starken Lähmungen geführt hat, nur am Rande diskutiert.
Harvey untersucht die "ungleichen
geografischen Entwicklungen" der "Transformation und Restauration von Klassenmacht". Der
Grad der Durchsetzung neoliberaler Politik hing nämlich jeweils von der "Balance der
Klassenkräfte" und der "Abhängigkeit der jeweiligen Kapitalistenklasse von Staat"
ab. Dabei seien vier Elemente entscheidend gewesen: die veränderte Rolle der Finanzinstitutionen und
der Finanzmärkte; die zunehmende Mobilität des Kapitals wegen rasch sinkender Transport- und
Kommunikationskosten; die Koalition aus Wall Street, IWF und US- Finanzministerium, die "während
der Präsidentschaft Clintons die dominierende Rolle in der Wirtschaftspolitik erlangte", sowie
schließlich die weltweite Ausbreitung der monetaristischen und neoliberalen Orthodoxie, aufbereitet
durch bestens ausgestattete Think Tanks.
Der neoliberalen Politik ist es jedoch
nicht gelungen, einen neuen wirtschaftlichen Boom zu induzieren, einzig die Inflationsraten wurden deutlich
gesenkt. Doch er war ein "gigantischer Erfolg für die Oberschichten", die Klassenmacht der
herrschenden Eliten wurde wiederhergestellt bzw. in Ländern wie Indien, China und Russland wurden die
Grundlagen dazu gelegt. Der Preis dafür war eine umfassende Umverteilung des Reichtums und die
Enteignung der Mehrheit der Bevölkerungen.
Der Kern der neoliberalen Theorie liegt in
der Notwendigkeit, für Naturprodukte, Grund und Boden, Arbeitskraft und Geld zusammenhängende
Märkte zu schaffen und möglichst alles zur Ware zu machen. Harvey zitiert dazu Karl Polanyi, der
in seiner Kritik an den neoliberalen Klassikern Friedman und Hajek geschrieben hatte: "Wenn man den
Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen
Umwelt ... zuließe, würde dies zur Zerstörung der Gesellschaft führen."
Die Widersprüche des Neoliberalismus
bilden derzeit einen Neokonservatismus heraus, der "paranoide Ängste" vor den möglichen
Bedrohungen entwickelt und gegen die vermeintlich "Kräfte des Bösen" militärisch
vorgehen will. Die sozialen Bewegungen müssten sich auf massive Erschütterungen der
Finanzmärkte und auf eine Zunahme der direkten Gewalt einstellen.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |