SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2007, Seite 28

Das politische Buch

David Harvey/Niels Kadritzke: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich: Rotpunkt, 2007, 280 S., 24 Euro

Seit gut 30 Jahren stellt der Neoliberalismus weltweit das herrschende Theoriegebäude dar; Theorie und Praxis der Politik folgen in weiten Teilen seinen theoretischen Maximen. Die Zahl der Veröffentlichungen zu dem Thema ist Legion. Was kann das Buch des US- amerikanischen Hochschullehrers Neues bieten?
Harvey versucht in sieben Teilen, Struktur und Geschichte, Ideologie und Politik der letzten Jahrzehnte kritisch zu sichten und mögliche Ansatzpunkte für politische Alternativen zu finden. Besonders interessant ist seine Darstellung der chinesischen Wirtschaftsentwicklung.
Zunächst zeigt er auf, wie der gemäß den Rezepten von Keynes mehr oder weniger stark staatlich gelenkte Kapitalismus der Nachkriegszeit, der drei Jahrzehnte hindurch zumindest im Norden hohe Wachstumsraten erzielt hat, durch den Fall der Profitrate und die "Stagflation" der 70er Jahre in eine schwere Krise geriet. Sie führte — zusammen mit gesellschaftlichen Radikalisierungsprozessen in einer Reihe von europäischen und lateinamerikanischen Ländern — zu einer direkten Bedrohung der herrschenden Klassen. Die neoliberale Wende, die in Chile und Argentinien mit Hilfe eines blutigen Militärputsches eingeleitet wurde, sei von vornherein als Projekt angelegt gewesen, "das die alte Klassenmacht wieder herstellen" sollte. "Die Umverteilung von unten nach oben sowie die Verschärfung der sozialen Ungleichheit waren und sind eine derart konstante Begleiterscheinung der neoliberalen Wende, dass sie nachgerade als Strukturmerkmale des ganzen Projekts angesehen werden können."
Der Prozess wurde jedoch nicht gemäß einem Masterplan durchgezogen, sondern erforderte zahlreiche Kämpfe und Korrekturen. Erhellend ist seine Darstellung der Durchsetzung der Sparpolitik in New York City ab der Mitte der 70er Jahre, begleitet von einer starken Zunahme sozialer Desintegration und von Gewaltverbrechen.
Der "Washingtoner Konsens" von 1990 stellte schließlich eine Art programmatische Zusammenfassung der politischen Vorgaben des Neoliberalismus dar. Zu diskutieren bliebe allerdings, welch zwiespältige Rolle die reformistischen Parteien dabei spielten, die ja in einigen Ländern an die Regierung gekommen waren. Verwunderlich auch, dass Harvey die politischen und ideologischen Konsequenzen des Zusammenbruchs des Ostblocks, der in der Arbeiterbewegung zu starken Lähmungen geführt hat, nur am Rande diskutiert.
Harvey untersucht die "ungleichen geografischen Entwicklungen" der "Transformation und Restauration von Klassenmacht". Der Grad der Durchsetzung neoliberaler Politik hing nämlich jeweils von der "Balance der Klassenkräfte" und der "Abhängigkeit der jeweiligen Kapitalistenklasse von Staat" ab. Dabei seien vier Elemente entscheidend gewesen: die veränderte Rolle der Finanzinstitutionen und der Finanzmärkte; die zunehmende Mobilität des Kapitals wegen rasch sinkender Transport- und Kommunikationskosten; die Koalition aus Wall Street, IWF und US- Finanzministerium, die "während der Präsidentschaft Clintons die dominierende Rolle in der Wirtschaftspolitik erlangte", sowie schließlich die weltweite Ausbreitung der monetaristischen und neoliberalen Orthodoxie, aufbereitet durch bestens ausgestattete Think Tanks.
Der neoliberalen Politik ist es jedoch nicht gelungen, einen neuen wirtschaftlichen Boom zu induzieren, einzig die Inflationsraten wurden deutlich gesenkt. Doch er war ein "gigantischer Erfolg für die Oberschichten", die Klassenmacht der herrschenden Eliten wurde wiederhergestellt bzw. in Ländern wie Indien, China und Russland wurden die Grundlagen dazu gelegt. Der Preis dafür war eine umfassende Umverteilung des Reichtums und die Enteignung der Mehrheit der Bevölkerungen.
Der Kern der neoliberalen Theorie liegt in der Notwendigkeit, für Naturprodukte, Grund und Boden, Arbeitskraft und Geld zusammenhängende Märkte zu schaffen und möglichst alles zur Ware zu machen. Harvey zitiert dazu Karl Polanyi, der in seiner Kritik an den neoliberalen Klassikern Friedman und Hajek geschrieben hatte: "Wenn man den Marktmechanismus als ausschließlichen Lenker des Schicksals der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt ... zuließe, würde dies zur Zerstörung der Gesellschaft führen."
Die Widersprüche des Neoliberalismus bilden derzeit einen Neokonservatismus heraus, der "paranoide Ängste" vor den möglichen Bedrohungen entwickelt und gegen die vermeintlich "Kräfte des Bösen" militärisch vorgehen will. Die sozialen Bewegungen müssten sich auf massive Erschütterungen der Finanzmärkte und auf eine Zunahme der direkten Gewalt einstellen.

Paul Kleiser


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