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Bewusst
suchen die politisch Verantwortlichen den Eindruck zu erwecken, die Jugendkriminalität insgesamt und
die Gewaltdelikte im Besonderen nähmen zu und darauf müsse mit Härte reagiert werden. Das
mediale Interesse an wenigen besonders krassen Fällen ermutigt sie, das Bedürfnis nach Sicherheit
mit immer neuen Forderungen nach Strafmaßnahmen zu beantworten.
Während Erziehungscamps selbst in den
USA als überholt gelten, weil weder paramilitärischer Drill noch rigide
Disziplinierungsmaßnahmen steigende Rückfallquoten verhindern konnten, wird hierzulande so getan,
als könnte das eine Lösung sein. Demagogen wie Koch in Hessen spielen mit den Ängsten der
Kleinbürger und malen das Gespenst von außer Kontrolle geratenen Heranwachsenden an die Wand,
besonders von ausländischen Jugendlichen. Letzteren wird eine höhere Kriminalitätsrate
zugeschrieben, aber die Polizeistatistik lässt diesen Schluss nicht zu.
Im Jahr 2005 waren 22,5% aller
Tatverdächtigen keine Deutschen. Der Ausländeranteil liegt bei 8,8%. Darin sind Touristen und
Personen ohne Aufenthaltserlaubnis nicht enthalten, sie tauchen aber in der Tatverdächtigenstatistik
auf. Außerdem gibt es Delikte, die Deutsche gar nicht begehen können, beispielsweise, wenn es um
das Aufenthaltsrecht geht. Hinzu kommt, dass bei gleichen Delikten ausländische Jugendliche eher in U-
Haft genommen und zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt werden. Anhaltspunkte für
eine insgesamt steigende Gewaltkriminalität gibt es nicht.
Es tragen aber sehr wohl die Politiker, die
jetzt Härte und Drill fordern, ausländischen Jugendlichen mit Ausweisung drohen, Erziehungscamp
und Warnschussarrest einführen wollen, Verantwortung für die Missstände, die sie anprangern.
Die Bundesländer und die Kommunen
haben bei der Jugendförderung gnadenlos gestrichen, Jugendeinrichtungen geschlossen und die Kosten
für Prävention und Wiedereingliederung hemmungslos zurückgefahren. Ein Bewährungshelfer
betreut in NRW derzeit 60 Fälle, auf einen Sozialarbeiter im Kölner Gefängnis kommen 80 bis
120 Gefangene. Man muss kein Experte sein, um zu verstehen, dass das nicht funktionieren kann.
Kürzlich beklagten 120
Jugendamtsleiter in NRW "das Verschwinden der Jugendhilfe" und die Konzeptionslosigkeit im Umgang
mit jugendlichen Migranten. Prekär seien nicht nur die Verhältnisse, in denen die Jugendlichen
heranwachsen, sondern auch die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter in der Jugendhilfe.
Im Augenblick sieht es so aus, als
würden die Bürger in ihrer Mehrheit das demagogische Spiel durchschauen wer will schon
einen Staat, dem nichts anderes einfällt, als Kinder und Jugendliche mit Problemen einfach weg zu
sperren, ihren Willen mit rigiden Methoden zu brechen, wohl wissend, dass sich besonders strenge
Haftbedingungen höchstens verrohend auswirken?
Es gibt genügend Beispiele für
eine erfolgreiche Betreuung von Kindern und Jugendlichen, sie muss allerdings früh einsetzen und
dauerhaft und zuverlässig angelegt sein. Viele Projekte laufen nur kurzfristig, die Gelder sind
zeitlich begrenzt, und die Erziehenden werden oft mit Auslaufen der "Maßnahme" wieder
arbeitslos.
Zwar auch zeitlich begrenzt aber doch
nachhaltig in Erinnerung geblieben ist in Kassel ein Documenta-Projekt aus dem Jahr 2002, das sog.
"Bataille-Monument". Hier wollte sich Kunst einmal ganz bewusst nicht von der Realität
abheben, sondern "Werkzeug sein, die Welt kennenzulernen".
Angesprochen wurden Jugendliche in einer
Siedlung der Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft Hessen, einem typischen sozialen Brennpunkt in
Kassel. Das Kasseler Projekt wurde von dem Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn geleitet, der es dem
französischen Schriftsteller Georges Bataille widmete. Gemeinsam mit etwa 50 Jugendlichen aus der
Siedlung wurde ein selbst verwaltetes Hüttendorf aufgebaut, zu dem eine Bibliothek, ein Imbisswagen
und ein TV-Studio gehörten, das täglich gemeinsam mit den Jugendlichen eine kurze Sendung
ausstrahlte. Es waren roh gezimmerte Hütten, in denen verschiedene Workshops stattfanden, die
ausgiebig genutzt wurden. Ohne Zwang und Drill gab es genügend Themen, die das Interesse der
Jugendlichen fanden und sie zu einer zuverlässigen Mitarbeit anregten, obwohl unter ihnen auch solche
Jugendlichen waren, die in der Vergangenheit zu Gewalt und Kriminalität neigten und denen ein
geregelter Tagesablauf fremd geworden war.
Dieses Projekt war durch den Rahmen der
Didacta zeitlich begrenzt und kein eigentlich soziales Projekt, aber es hat in fantasievoller Weise und auf
hohem Niveau gezeigt, dass sich sehr wohl Interessen auch bei diesen Jugendlichen nachhaltig aufbauen
lassen. Doch die Politik will in Wahrheit gar keine sinnvollen Alternativen und Perspektiven für die
Jugendlichen realisieren. Sie will sie nur wegsperren und bietet dafür Lösungen an, die
nicht nur teuer, sondern vor allem unwürdig und unmenschlich sind. Mitdenkende und die eigene Lage
durchschauende Jugendliche sind natürlich langfristig unbequemer.
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