SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2008, Seite 04

Erziehungscamps

Fantasie statt Drill

von LARISSA PEIFFER-RÜSSMANN


Bewusst suchen die politisch Verantwortlichen den Eindruck zu erwecken, die Jugendkriminalität insgesamt und die Gewaltdelikte im Besonderen nähmen zu und darauf müsse mit Härte reagiert werden. Das mediale Interesse an wenigen besonders krassen Fällen ermutigt sie, das Bedürfnis nach Sicherheit mit immer neuen Forderungen nach Strafmaßnahmen zu beantworten.
Während Erziehungscamps selbst in den USA als überholt gelten, weil weder paramilitärischer Drill noch rigide Disziplinierungsmaßnahmen steigende Rückfallquoten verhindern konnten, wird hierzulande so getan, als könnte das eine Lösung sein. Demagogen wie Koch in Hessen spielen mit den Ängsten der Kleinbürger und malen das Gespenst von außer Kontrolle geratenen Heranwachsenden an die Wand, besonders von ausländischen Jugendlichen. Letzteren wird eine höhere Kriminalitätsrate zugeschrieben, aber die Polizeistatistik lässt diesen Schluss nicht zu.
Im Jahr 2005 waren 22,5% aller Tatverdächtigen keine Deutschen. Der Ausländeranteil liegt bei 8,8%. Darin sind Touristen und Personen ohne Aufenthaltserlaubnis nicht enthalten, sie tauchen aber in der Tatverdächtigenstatistik auf. Außerdem gibt es Delikte, die Deutsche gar nicht begehen können, beispielsweise, wenn es um das Aufenthaltsrecht geht. Hinzu kommt, dass bei gleichen Delikten ausländische Jugendliche eher in U- Haft genommen und zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt werden. Anhaltspunkte für eine insgesamt steigende Gewaltkriminalität gibt es nicht.
Es tragen aber sehr wohl die Politiker, die jetzt Härte und Drill fordern, ausländischen Jugendlichen mit Ausweisung drohen, Erziehungscamp und Warnschussarrest einführen wollen, Verantwortung für die Missstände, die sie anprangern.
Die Bundesländer und die Kommunen haben bei der Jugendförderung gnadenlos gestrichen, Jugendeinrichtungen geschlossen und die Kosten für Prävention und Wiedereingliederung hemmungslos zurückgefahren. Ein Bewährungshelfer betreut in NRW derzeit 60 Fälle, auf einen Sozialarbeiter im Kölner Gefängnis kommen 80 bis 120 Gefangene. Man muss kein Experte sein, um zu verstehen, dass das nicht funktionieren kann.
Kürzlich beklagten 120 Jugendamtsleiter in NRW "das Verschwinden der Jugendhilfe" und die Konzeptionslosigkeit im Umgang mit jugendlichen Migranten. Prekär seien nicht nur die Verhältnisse, in denen die Jugendlichen heranwachsen, sondern auch die Arbeitsverhältnisse der Mitarbeiter in der Jugendhilfe.
Im Augenblick sieht es so aus, als würden die Bürger in ihrer Mehrheit das demagogische Spiel durchschauen — wer will schon einen Staat, dem nichts anderes einfällt, als Kinder und Jugendliche mit Problemen einfach weg zu sperren, ihren Willen mit rigiden Methoden zu brechen, wohl wissend, dass sich besonders strenge Haftbedingungen höchstens verrohend auswirken?
Es gibt genügend Beispiele für eine erfolgreiche Betreuung von Kindern und Jugendlichen, sie muss allerdings früh einsetzen und dauerhaft und zuverlässig angelegt sein. Viele Projekte laufen nur kurzfristig, die Gelder sind zeitlich begrenzt, und die Erziehenden werden oft mit Auslaufen der "Maßnahme" wieder arbeitslos.
Zwar auch zeitlich begrenzt aber doch nachhaltig in Erinnerung geblieben ist in Kassel ein Documenta-Projekt aus dem Jahr 2002, das sog. "Bataille-Monument". Hier wollte sich Kunst einmal ganz bewusst nicht von der Realität abheben, sondern "Werkzeug sein, die Welt kennenzulernen".
Angesprochen wurden Jugendliche in einer Siedlung der Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft Hessen, einem typischen sozialen Brennpunkt in Kassel. Das Kasseler Projekt wurde von dem Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn geleitet, der es dem französischen Schriftsteller Georges Bataille widmete. Gemeinsam mit etwa 50 Jugendlichen aus der Siedlung wurde ein selbst verwaltetes Hüttendorf aufgebaut, zu dem eine Bibliothek, ein Imbisswagen und ein TV-Studio gehörten, das täglich gemeinsam mit den Jugendlichen eine kurze Sendung ausstrahlte. Es waren roh gezimmerte Hütten, in denen verschiedene Workshops stattfanden, die ausgiebig genutzt wurden. Ohne Zwang und Drill gab es genügend Themen, die das Interesse der Jugendlichen fanden und sie zu einer zuverlässigen Mitarbeit anregten, obwohl unter ihnen auch solche Jugendlichen waren, die in der Vergangenheit zu Gewalt und Kriminalität neigten und denen ein geregelter Tagesablauf fremd geworden war.
Dieses Projekt war durch den Rahmen der Didacta zeitlich begrenzt und kein eigentlich soziales Projekt, aber es hat in fantasievoller Weise und auf hohem Niveau gezeigt, dass sich sehr wohl Interessen auch bei diesen Jugendlichen nachhaltig aufbauen lassen. Doch die Politik will in Wahrheit gar keine sinnvollen Alternativen und Perspektiven für die Jugendlichen realisieren. Sie will sie nur wegsperren — und bietet dafür Lösungen an, die nicht nur teuer, sondern vor allem unwürdig und unmenschlich sind. Mitdenkende und die eigene Lage durchschauende Jugendliche sind natürlich langfristig unbequemer.


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