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Knapp 60% der
Wahlberechtigten in Deutschland halten die Forderungen von Ver.di für die angelaufene Tarifrunde im
öffentlichen Dienst für angemessen, wenn nicht für zu niedrig. In den Taschen der
Beschäftigten klaffen große Löcher. Gibt es diesmal mehr als einen faulen Kompromiss? Wie
das zu erreichen wäre, dazu unterbreitet PETER GROTTIAN einen Vorschlag.
Die Sturmzeichen sind unübersehbar. Bisher aber wird noch in Schäfchenwolken gespielt. Als
Ver.di und der Beamtenbund (DBB) für die Tarifrunde 2008 des öffentlichen Dienstes kurz vor
Weihnachten über 8% mehr Lohn und Gehalt für die Bundes- und Kommunalbediensteten forderten
zuzüglich 200 Euro Mindestanhebung, Tarifanpassung Ost-West, Ausbildungszulage,
Arbeitszeitverkürzung u.a.m. , reagierten die öffentlichen Arbeitgeber mit demonstrativer
Gelassenheit: Völlig unangemessen bei dieser dramatischen Kassenlage. Vor Weihnachten wurde fast jeder
noch so zugespitzte politische Konflikt plätzchengerecht entsorgt. Streit ist weihnachtsuntauglich.
Man hatte sich nikoläusig postiert: Der Sack mit den Knüppeln blieb zugebunden.
Am 10.Januar haben in Potsdam die
Verhandlungen zwischen den Tarifparteien begonnen, um zunächst wie zu erwarten das
stereotype Ritual von der völligen Unvereinbarkeit der Positionen zu bedienen. Ein Plus von 8% kostet
die Kommunen 6,9 Milliarden Euro, dem Bund 0,7 Milliarden Euro. Würde der Tarifvertrag der Tradition
entsprechend für die Beamten übernommen, wären weitere 2,1 Milliarden fällig.
Nach Lage der Dinge wird es in wenigen
Wochen zum Streik kommen. Und die spannende Frage wird sein, ob es den Tarif- und Haushaltsstrategen auf
beiden Seiten gelingt, den Tarifkonflikt in klassischer Manier auf Prozente einzuhegen, um
anschließend mit einem 3,7%-Ergebnis vor die Kameras zu treten. Oder ob es zu einem streikintensiven,
eher grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Konflikt kommt, in welchem es um Cash und die
Qualität öffentlicher Dienstleistungen geht. Der könnte einen Hauch von politischem Streik
haben.
Die öffentlichen Arbeitgeber der
Großen Koalition sind zu einer qualitativen Debatte über die Zukunft des öffentlichen
Dienstes nicht bereit. Sie wollen den Konflikt grundsätzlich auf das von ihnen beherrschte Feld der
Lohnprozente, Entgelttabellen und Arbeitszeitverlängerung beschränken. Nach wie vor dominiert die
Haushalts- und Fiskallogik. Kaum ein Kommunalpolitiker und Bundespolitiker von Rang wird sich aktuell eine
grundsätzliche Auseinandersetzung zutrauen schon gar nicht Merkel oder Schäuble, die
vorerst auf lautlos-moderate Lohnerhöhungen setzen. Selbst der kampf- und tarifpolitisch erprobte
Oskar Lafontaine ist verschämt zurückhaltend.
Bei öffentlichen Dienstleistungen
müssen Tarifpolitik und Gesellschaftspolitik zusammengedacht werden. Der Schlüssel zum
notwendigen gesellschaftlichen Konflikt liegt deshalb bei den Gewerkschaften. Wird es ihnen ähnlich
der Lokführergewerkschaft GDL gelingen, ihre tarifpolitischen Forderungen mit gesellschaftlichen
Zielsetzungen zu verbinden, so dass nicht nur die Mitgliedschaft, sondern auch die Öffentlichkeit dem
mehrheitlich folgt? Das ist aus mehreren Gründen offen, aber chancenträchtig.
Nach jahrelanger Lohnzurückhaltung
scheint eine Lohnforderung von 8% zunächst pauschal in Ordnung, weil alle Erfahrung zeigt, dass man
bei 3,79% landen wird. Die Eindimensionalität der Forderung ist aber gerade nicht mehrheitsbildend. 8%
mehr in die Taschen der Bediensteten ohne positive Struktureffekte das klingt donnernd-aufstampfend,
wirklich schlau, zukunftsweisend und strategisch ist es nicht.
Wer den gesellschaftspolitischen Konflikt
will, der muss seine Tarifforderungen anders ausrichten: Vernünftige Gehaltserhöhungen und
Verbesserung der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen!
Wie positiv ständen die Gewerkschaften
da, wenn sie sagten: Wir haben zwar eine recht hohe Tarifforderung, aber wir denken nicht nur an unsere
Taschen, wie jene zu Recht gescholtenen Manager, sondern wir wollen von den 8% bis zu 1,5% in Kitas,
Schulen, Förderprogramme für Migrantenkinder, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen
investieren. Wir, die Gewerkschaften, sind für eine Ausweitung qualitativ notwendiger
öffentlicher Dienstleistungen und fordern eine Tarifrunde auch für mehr Beschäftigung. Aber
so könnten die Gewerkschaften mahnend fortfahren wir würden einen solchen neuen
Typus von Tarifvertrag nur unterzeichnen, wenn wir sicher sein könnten, dass diese Dienstleistungen
tatsächlich eingerichtet werden. Und wenn die öffentlichen Arbeitgeber sich weigerten oder
zögerten, dann würden die beiseite gelegten 1,5% nachträglich ausbezahlt oder der
Tarifvertrag gekündigt (Cash-Klausel).
Wer will jemanden kritisieren, der
rechtmäßige Forderungen mit der Förderung zukunftsfähiger Dienstleistungen kombiniert?
Werden von den 8% mehr Lohn 1,5% für Bildung und Arbeitsplätze abgezweigt, kommt ein Schub von
1,21,5 Milliarden Euro in Bewegung die Beamtenanpassungen noch nicht eingerechnet. Wenn die
Gewerkschaften dann noch einbringen, dass der höhere Dienst mit 8% nicht unbedingt an die
Erhöhung der Diäten der Bundestagsabgeordneten (9,4%) heranreichen müsste, dann könnte
durch eine maßvolle Abschöpfung (23%) ein zusätzlicher Beitrag für
Bildungsinvestitionen erreicht werden. Ministerialbeamte und Stadtreferenten schurren ja nicht an Hartz IV,
wenn sie keine volle Gehaltserhöhung erhalten. Als Gegenleistung könnte die 39-Stunden-Woche
festgeklopft werden. So gesehen könnte Ver.di die öffentlichen Arbeitgeber, SPD und CDU
herausfordern und damit eine Mehrheitsfähigkeit in der Öffentlichkeit anstreben.
Für eine solche Offensivstrategie aus
der Defensive heraus spricht die existenzielle Überlebensstrategie der Gewerkschaften und ihre
zurück zu gewinnende gesellschaftliche Verantwortung. Der GDL-Ausbruch nach oben hat
Maßstäbe gesetzt. Ver.di muss in die Offensive, will sie ihre streikgeschwächte Basis in den
Kommunen (Busunternehmen und Müllentsorgung sind oft schon privatisiert) durch andere
Kommunalbedienstete ersetzen, will sie junge Mitglieder motivieren, will sie gesellschaftspolitisch
stärken in Erscheinung treten. Die Basis wird nur bei einem starken Auftritt der Gewerkschaftsspitze
zu mobilisieren sein. Der Vorsitzende Frank Bsirske wird sich dem stellen müssen.
Die Gewerkschaften werden in der
Öffentlichkeit Boden gewinnen, wenn sie sich mit den Sozialprotesten, Kirchen,
Wohlfahrtsorganisationen, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden verbinden. Der wohl verstandene
gesellschaftspolitische Konflikt ist überfällig subito!
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