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Das Baugewerbe ist ein wichtiger Zweig der Schweizer Wirtschaft. Doch
seit 15 Jahren befindet es sich in einer strukturellen Krise, die zu immer heftigeren Arbeits- und
Verteilungskämpfen in den dazugehörigen Branchen führen.
Das Schweizerische Baugewerbe (inklusive
Baunebengewerbe) bietet 7% der Arbeitnehmenden Beschäftigung. Sie erwirtschaften zwar nur rund 5,5%
der direkten Wertschöpfung, aber von ihren Infrastrukturleistungen sind praktisch alle anderen
Wirtschaftszweige abhängig. Allerdings gehen die Beschäftigtenzahlen seit 1990 jedes Jahr um 1,5%
zurück ganz im Gegensatz zum gleichzeitigen Beschäftigungswachstum in der
Gesamtwirtschaft. Am schärfsten zeigt sich diese Tendenz im Bauhauptgewerbe, wo sich die Zahl der
Arbeitsplätze in diesem Zeitraum auf 80000 Vollzeitbeschäftigte verringert und damit beinahe
halbiert hat. Die Zahl der Betriebe hingegen ist trotz einigen spektakulären Fusionen bei
Großbetrieben mit etwa 5000 Unternehmen praktisch konstant geblieben.
Während also die Schweizerischen
Bauunternehmer die Strukturkrise vor sich her schieben und ineffiziente Klein- und Kleinststrukturen
zementieren, zahlen die Bauleute den Preis für den ständig steigenden Produktivitätsdruck.
Immer weniger Bauarbeiter müssen die gleiche bzw. eine steigende Bauleistung erbringen
insbesondere in der seit mehreren Jahren andauernden guten Baukonjunktur. Arbeitsverdichtung,
Flexiblisierungsdruck und massive Stresszunahme sind die Folgen. Verschärft wird diese Entwicklung
durch die Öffnung des Schweizerischen Arbeitsmarktes gegenüber der EU, die insbesondere auf dem
Bau zu erheblicher Arbeitsimmigration, Lohnstagnation und Lohndumping geführt hat.
Umso wichtiger ist für die Bauarbeiter
der sog. Landesmantelvertrag (LMV). Er besteht seit 70 Jahren und ist damit einer der ältesten
allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge der Schweiz ein Symbol der Stärke und
Kampfbereitschaft der Arbeiterbewegung, wurde er doch über Jahrzehnte hinweg in unzähligen
Arbeitskämpfen verteidigt und verbessert. Der LMV sichert den Bauleuten heute
verhältnismäßig gute Arbeitsbedingungen, gute Mindestlöhne und Schutz gegen Lohn- und
Sozialdumping, was um so wichtiger ist, als die Schweizer Arbeitsgesetzgebung die Arbeitsbeziehungen nur
rudimentär regelt.
Die Bauleute gelten in der Schweiz
traditionell als der kämpferischste Teil der Gewerkschaftsbewegung, das verdanken sie nicht zuletzt
dem hohen Anteil von gut integrierten Arbeitsmigranten. Zwei Drittel der Bauleute haben keinen Schweizer
Pass, etwa 70% von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert. Sie sind mit ein Grund dafür, dass
über die Hälfte der Mitglieder der größten Schweizer Gewerkschaft, der Unia,
ausländischer Herkunft sind.
Jahrzehntelang wurde der LMV im Bauhauptgewerbe trotz periodischer Auseinandersetzungen mit den
Gewerkschaften auch von Arbeitgeberseite im Sinne einer branchenorientierten Sozialpartnerschaft
verstanden und getragen. Streiks waren die große Ausnahme. Dies änderte sich in den neunziger
Jahren, als eine lange Wirtschaftskrise den Verteilungsspielraum verkleinerte, und neoliberale
Deregulierungsideologien auch bei den Bauunternehmern an Boden gewannen.
Als die damalige Baugewerkschaft GBI
(heute: Unia) versuchte, über den Aufbau der verloren gegangenen Kampfbereitschaft
Arbeitnehmerinteressen zu verteidigen, und im Konfliktfall auch mal zum Mittel des Streiks griff, reagierte
der Schweizer Baumeisterverband (SBV) überfordert. Er verlor einige harte Streikauseinandersetzungen
und ersetzte schließlich im Jahr 2002 seine desorientierte Führung durch eine neue Crew unter der
Führung des freisinnig-demokratischen Nationalrats Werner Messmer, der selber ein kleines
Bauunternehmen besitzt.
Die neue SBV-Führung wird klar
dominiert durch die kleingewerblichen, konservativen Bauunternehmen der Deutschschweiz und verfolgt
gegenüber den Gewerkschaften eine harte, um nicht zu sagen destruktive Deregulierungslinie. Ihr
Programm ist die völlige Abschaffung beziehungsweise Aushöhlung der sozialpartnerschaftlichen
Strukturen und insbesondere des LMV.
Im Frühling 2007 die GBI hatte
sich inzwischen mit anderen Industrie- und Dienstleistungsgewerkschaften zur Unia vereinigt holte
der SBV zu seinem "Befreiungsschlag" aus. Als er in den Verhandlungen für einen neuen
Gesamtarbeitsvertrag sein maßloses Abbauprogramm und insbesondere die Forderung nach fast
vollständiger Flexibilisierung der Arbeitszeiten nicht durchsetzen konnte, brach er kurzerhand die
Verhandlungen ab und kündigte den Landesmantelvertrag am 23.Mai 2007 einseitig.
Es folgte ein monatelanges Versteck- und
Desinformationsspiel, in dem der SBV-Präsident sich öffentlich gesprächsbereit zeigte,
tatsächlich aber alles unternahm, um eine Lösung zu verhindern. Einen Verhandlungstermin eingehen
mochte der Baumeisterverband erst im vertragslosen Zustand Anfang Oktober. Offenbar hoffte der SBV, dadurch
den Druck auf die Gewerkschaften zu erhöhen und sie in die Knie zu zwingen.
Aber diese Rechnung ist nicht aufgegangen.
Denn parallel zu den Verhandlungsbemühungen baute die Unia die größte Arbeitskampfbewegung
in der Schweiz seit der Auseinandersetzung um die Frühpensionierung auf dem Bau (2002) auf.
Größere Protestdemonstrationen in Luzern und Genf mit je 3000 Bauleuten bildeten im Juni den
Auftakt zur Mobilisierung. Bei einer schriftlichen Umfrage auf fast allen Schweizer Baustellen sprachen
sich in den Sommermonaten 30598 Bauarbeiter (84,5% aller Befragten) für Streikmaßnahmen aus. Ein
weiteres deutliches Zeichen setzte dann die Demonstration vom 22.September in Zürich, die eine
Rekordbeteiligung von 17000 Bauleuten verzeichnete. Aber der Baumeisterverband stellte sich weiter taub.
In dieser verfahrene Situation griffen die
Gewerkschaften zum Mittel des Streiks. Sie begannen kurz nach Beginn des vertragslosen Zustands mit einem
Überraschungscoup am Freitagabend, dem 12.Oktober: Die Arbeiter der Nachtschicht auf den Neat-
Baustellen in Amsteg (Uri), Bodio und Faido (Tessin) verweigerten die Arbeit und traten in den Streik
trotz Druckversuchen ihrer Vorgesetzten, insbesondere in Faido. Am Samstagmorgen um 4 Uhr schlossen
sich die Mineure der Frühschicht in Sedrun (Graubünden) dem Streik an. Die größte
Baustelle Europas stand 24 Stunden lang still. Insgesamt 700 Neat-Tunnelarbeiter beteiligten sich am
Arbeitsausstand.
Die Streikaktionen gingen am Montagmorgen,
dem 15.Oktober, in und um Bern, Neuenburg und Genf weiter. Sie wurden dank der Entschlossenheit der
Bauarbeiter, dank der guten Streikorganisation und nicht zuletzt auch dank der solidarischen
Unterstützung vieler SGB-Gewerkschafter ein voller Erfolg. Insgesamt fanden sich zu den drei zentralen
Demonstrationen über 5000 streikende Bauleute zusammen. Mehr als 400 Baustellen standen still.
Angesichts des starken Echos zeigte sich die Genfer Kantonsregierung besorgt und empfing eine Delegation
der Streikenden. Ähnlich erfolgreich waren die Streiks in Zürich und Basel, an denen sich am
1.November etwa 3000 Bauleute beteiligten.
Die Streiks sorgten im Arbeitgeberlager
für Nervosität mit einer derart massiven Streikbewegung hatten die Baumeister offenbar
nicht gerechnet. Aus Angst vor immer neuen, schärferen Streikaktionen griff der SBV schließlich
zum letzten Mittel und verlangte eine Mediation unter der Ägide eines ehemaligen Chefbeamten des
Wirtschaftsministeriums. Doch die Baumeister blieben in der Defensive und mußten in den
Mediationsverhandlungen ihre Abbaupläne begraben. Wenn die Versammlung der Baumeisterdelegierten am
24.Januar das kurz vor Weihnachten öffentlich verkündete Mediationsresultat akzeptiert, haben
sich die Gewerkschaften in diesem Abwehrkampf durchgesetzt und den vertraglichen Status quo gewahrt. Dies
wäre ein wichtiger Erfolg für die gewerkschaftliche Basis und eine Bestätigung der Parole
"Kämpfen lohnt sich". Anderseits wäre es auch ein wichtiges Signal gegen die Abbau-
beziehungsweise Deregulierungspläne der Arbeitgeber anderer Branchen, die den Ausgang der
Auseinandersetzung aufmerksam verfolgen.
Falls die Baumeister das Mediationsresultat
aber doch noch ablehnen, werden sie im kommenden Frühling in einer wenig komfortablen Situation eine
noch härtere Mobilisierungswelle der Gewerkschaften mit landesweiten Streikaktionen aushalten
müssen.
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