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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2008, Seite 18

Vor der großen Krise

Die Krise, die vom Immobiliensektor ausging, kündigt eine große Depression an

von Robert Brenner



Die gegenwärtige Krise könnte sich als die verheerendste seit der Großen Depression erweisen. Sie offenbart tiefgreifende ungelöste Probleme der Realwirtschaft, die seit Jahrzehnten wortwörtlich von einem Berg von Schulden verdeckt werden, und zugleich eine akute Krise, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt haben. Die Kombination aus einer anhaltenden Schwäche der Kapitalakkumulation und einer akuten Kontraktion der Kredite macht die Talfahrt der Konjunktur für die Politik unkontrollierbar und eine mögliche Katastrophe greifbar.
In Detroit und anderen Städten des Mittleren Westens der USA trifft man besonders häufig auf Zwangsvollstreckungen und auf verlassene Häuser, in die oft eingebrochen wird und aus denen alles verschwindet, inklusive der elektrischen Leitungen. Die menschliche Katastrophe, die das für Hunderttausende von Familien und für die Gemeinden, in denen sie leben, bedeutet, könnte ein erstes Anzeichen dafür sein, wohin eine solche kapitalistische Krise führt.
Die beispiellosen Phasen des Aufschwungs der Finanzmärkte in den 80er und 90er Jahren des vergangenen und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts mit ihrem Epoche machenden Transfer von Einkommen und Reichtum hin zum reichsten 1% der Bevölkerung haben die Aufmerksamkeit abgelenkt von der tatsächlichen langfristigen Schwäche der kapitalistischen Ökonomien in den sog. fortgeschrittenen Ländern. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der USA, Westeuropas und Japans hat sich seit 1973 von einem Jahrzehnt zum anderen, Konjunkturzyklus um Konjunkturzyklus praktisch bei allen üblichen Indikatoren — Produktionswachstum, Investitionen, Beschäftigung, Löhne — verschlechtert.
Die Jahre seit dem Beginn des jetzigen Konjunkturzyklus Anfang 2001 waren die schlechtesten überhaupt. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den USA war das niedrigste gemessen an allen vergleichbaren Zeiträumen seit dem Ende der 40er Jahre.
Zugleich liegen in diesem Zeitraum die Zahlen über neue Produktionsanlagen und deren Ausrüstung und die über die Schaffung von Arbeitsplätzen bis zu zwei Dritteln unter dem Durchschnitt der Nachkriegszeit. Die realen Stundenlöhne für Beschäftigte in der Produktion und Beschäftigte ohne Leitungsaufgaben — das sind 80% — sind niedrig geblieben und dümpeln auf dem Niveau von 1979 dahin.
Auch in Westeuropa und Japan war die wirtschaftliche Expansion nicht signifikant stärker. Die nachlassende wirtschaftliche Dynamik hat ihre Wurzeln in einem starken Rückgang der Rentabilität, der hauptsächlich durch die chronische Tendenz zur industriellen Überproduktion seit den späten 60er und frühen 70er Jahren verursacht ist. Im Jahr 2000 hatte sich die Profitrate in der Privatwirtschaft der USA, Japans und Deutschlands noch nicht erholt, im Zyklus der 90er Jahre lag sie nicht über der der 70er Jahre.
Mit reduzierter Rentabilität hatten die Unternehmen weniger Profite zur Verfügung, um Fabrikanlagen und Ausrüstungen aufzustocken, und einen geringeren Anreiz zu expandieren. Der stete Rückgang der Rentabilität seit den 70er Jahren führte in den sog. fortgeschrittenen kapitalistischen Ökonomien zu einem stetigen Rückgang der Investitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt und zu rückläufigen Zahlen beim Umsatz, bei den Produktionsmitteln und bei der Beschäftigung.

Öffentliche Verschuldung

Die anhaltende Verlangsamung der Kapitalakkumulation wie auch der Druck der Unternehmen auf die Löhne, um ihre Rendite wiederherzustellen, bewirkten — zusammen mit den regierungsseitigen Kürzungen der Sozialausgaben zur Stützung der Unternehmerprofite — eine Verlangsamung des Wachstums der Investitionen, der öffentlichen und privaten Konsumnachfrage und folglich der Wachstums der Nachfrage insgesamt. Die Schwäche der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage — letztlich eine Konsequenz gesunkener Rentabilität — war lange das größte Wachstumshindernis in den sog. fortgeschrittenen kapitalistischen Ökonomien.
Um der anhaltenden Schwäche der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entgegenzutreten, sahen die Regierungen, allen voran die USA, keine andere Wahl, als immer mehr Schulden aufzuhäufen. Zu Beginn der 70er und 80er Jahre waren die Staaten gezwungen, zunehmend größere öffentliche Defizite aufzunehmen, um das Wachstum in Gang zu halten. Die Wirtschaft konnte dadurch einigermaßen stabil gehalten werden, doch führten die Defizite auch zu einer relativen Stagnation: Die Regierungen bekamen immer weniger Wirtschaftswachstum für das Geld, das sie ausliehen.
Angeführt von Bill Clinton, Robert Rubin und Alan Greenspan versuchten deshalb Regierungen in den USA und in Europa in den frühen 90er Jahren, die sich nach rechts bewegten und die dem neoliberalem Denken folgten, durch Privatisierung öffentlicher Güter und die Kürzung von Sozialprogrammen ausgeglichene Haushalte zu erreichen, um die Stagnation zu überwinden. Das ging nach hinten los.
Da die sich Profitrate immer noch nicht erholt hatte, führte der durch Sparhaushalte induzierte Defizitabbau zu einer heftigen Kontraktion der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, mit dem Ergebnis, dass in der ersten Hälfte der 90er Jahre sowohl Europa als auch Japan verheerende Rezessionen erlebten. Es waren die schlimmsten der Nachkriegszeit.
Die US-Wirtschaft erholte sich bei fortdauernder Arbeitslosigkeit (Wachstum ohne Arbeit). Ab Mitte der 90er Jahre mussten die USA daher zu stärkeren und riskanteren Anreizen greifen, um der Tendenz zur Stagnation entgegenzuwirken. Die öffentliche Verschuldung des traditionellen Keynesianismus ersetzten sie durch private Verschuldung und die Anlageninflation durch eine Inflation der Anlagenpreise, oder anders gesagt: eine aufgeblasene Wirtschaft.

Private Verschuldung und Wirtschaftsblase

Während des Börsenbooms der 90er Jahre konnten Unternehmen und wohlhabende Haushalte zusehen, wie sich ihr Reichtum auf dem Papier vermehrte. Deshalb konnten sie Kredite in Rekordhöhe aufnehmen und auf dieser Basis eine mächtige Expansion der Investitionen und des Konsums stützen.
Der Boom der sog. New Economy war der direkte Ausdruck der Blase der Aktienkurse der Jahre 1995—2000, die historische Ausmaße erreichte. Da aber die Aktienkurse stiegen, obwohl die Profitrate sank, und weil Neuinvestitionen die industrielle Überkapazität nur noch vergrößerten, folgten der Börsenkrach und die Rezession von 2000—2001 auf dem Fuße — sie drückten die Profitrate außerhalb des Finanzsektors auf ihr niedrigstes Niveau seit 1980.
Unbeeindruckt antworteten Greenspan und die Federal Reserve Bank, unterstützt von anderen großen Zentralbanken, auf die neue Talfahrt der Konjunktur mit einer neuen Inflationsrunde bei den Anlagenpreisen. Sie senkten die realen Zinsen mit kurzen Laufzeiten drei Jahre lang auf null. Damit ermöglichten sie eine historisch beispiellose Explosion der privaten Verschuldung, die zu einem rasanten Anstieg der Häuserpreise und des privaten Reichtum führte und zugleich durch sie genährt wurde.
Laut The Economist war die weltweite Immobilienblase der Jahre 2000 bis 2005 die größte aller Zeiten. Sie übertraf sogar die von 1929. Sie ermöglichte einen stetigen Anstieg der Konsumausgaben und der Investitionen in Wohneigentum; zusammen trieben sie die Expansion voran. Privater Konsum und Hausbau machten in den ersten fünf Jahren des aktuellen Konjunkturzyklus 90—100% des Wachstums des US-Bruttoinlandsprodukts aus. In der gleichen Zeit war laut Moody‘s Economy.com allein der Wohnungsbau für ganze 0,7 Prozentpunkte des Wirtschaftswachstums verantwortlich: das Bruttoinlandsprodukt stieg deshalb um 2,3% statt um 1,6%.
Die privaten Schulden in Rekordhöhe verdeckten, zusammen mit Haushaltsdefiziten unter George W. Bush, die denen Reagans gleichkamen, wie schwach die wirtschaftliche Erholung tatsächlich war. Der Anstieg der kreditfinanzierten Konsumentennachfrage wie auch superbilliger Kredite im Allgemeinen belebte nicht nur die US-amerikanische Wirtschaft. Er schien auch eine beeindruckende globale Wirtschaftsexpansion voranzutreiben.
Aber wenn die Verbraucher ihren Teil taten, kann dies von der Privatwirtschaft nicht gesagt werden — trotz der enormen wirtschaftlichen Anreize. Greenspan und die Fed hatten die Immobilienblase erzeugt, um den Unternehmen Zeit zu geben, ihr Überschusskapital abzustoßen und neu zu investieren. Stattdessen konzentrierten sich die Unternehmen darauf, mit Hilfe einer brutalen Offensive gegen die Lohnabhängigen ihre Profitraten wiederherzustellen. Das Wachstum der Produktivität wurde nicht so sehr durch Investitionen in moderne Anlagen und Ausrüstungen angekurbelt, sondern durch den radikalen Abbau von Arbeitsplätzen.
Mit niedrigen Löhnen und einem größeren Output je Beschäftigten sicherten sich die Unternehmen einen historisch beispiellosen Anteil am Wirtschaftswachstum außerhalb des Finanzsektors. Berücksichtigt man darüber hinaus, in welchem Umfang der Anstieg der Profitrate durch erhöhte Ausbeutung (längere Arbeitszeiten, geringere Stundenlöhne) erreicht wurde, muss man sich fragen, wie lange dies weitergehen kann.
Gleichzeitig haben die Unternehmen, statt Investitionen, Produktivität und Beschäftigung — und damit die Profite — zu steigern, die extrem niedrigen Kreditzinsen ausgenutzt, um ihre eigene Position und die ihrer Aktionäre mit Hilfe von Finanzmanipulationen zu verbessern. Sie haben ihre Schulden beglichen, Dividenden ausgezahlt und ihre eigenen Aktien zurückgekauft, um deren Wert zu steigern — insbesondere durch eine enorme Welle von Firmenzusammenschlüsse und -übernahmen.
In den letzten vier oder fünf Jahren sind in den USA sowohl die Dividenden wie auch die Aktienrückkäufe als Teil der Bilanzgewinne auf ihr höchstes Niveau in der Nachkriegszeit gestiegen. Das Gleiche geschah überall sonst in der Weltwirtschaft — auch in Europa, Japan und Korea.

Die Blasen platzen...

Unterm Strich erleben wir in den USA und in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern seit dem Jahr 2000 das langsamste Wachstum der Realwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg und gleichzeitig die der größte Expansion der Finanz- oder Papierökonomie in der US-Geschichte. Man braucht nicht Marxist zu sein, um zu verstehen, dass dies nicht so weitergehen kann.
Genauso wie die Börsenblase der 90er Jahre ist die Immobilienblase zum Schluss geplatzt. In der Konsequenz läuft der Film der immobiliengeführten Expansion, den wir in diesem letzten Konjunkturzyklus gesehen haben, nun rückwärts. Heute sind die Immobilienpreise schon um 5% gegenüber ihrem Höchststand im Jahr 2005 gefallen. Moody‘s schätzt, dass Anfang 2009, wenn die Immobilienblase völlig in sich zusammengefallen sein wird, die Immobilienpreise nominal um 20% gefallen sein werden (real noch stärker) — das ist bei weitem der stärkste Preisverfall in der US-Nachkriegsgeschichte.
Da der Wert ihrer Häuser sinkt, sind sie für die Privathaushalte keine Geldautomaten mehr. Der Privatkredit bricht zusammen, entsprechend können Privathaushalte weniger konsumieren.
Die Gefahr ist, dass US-Haushalte, die ihren Konsum nicht mit Blick auf den steigenden Wert ihrer Immobilien decken können, nun wirklich beginnen zu sparen. Das würde die private Sparrate, die derzeit auf dem niedrigsten Niveau in der US- Geschichte liegt, nach oben und den Konsum in den Keller treiben. Die Unternehmen haben verstanden, welche Wirkung das Platzen der Immobilienblase auf die Kaufkraft der Konsumenten hat; deshalb haben sie Neueinstellungen zurückgefahren, mit dem Effekt, dass der Beschäftigungsanstieg seit Anfang 2007 signifikant zurückgegangen ist.
Die Geldmittel, die den privaten Haushalten zur Verfügung stehen, nehmen nicht mehr zu. Wegen der Immobilienkrise und den sinkenden Beschäftigungszahlen ist der reale Gesamt-Cashflow zu den Privathaushalten, der 2005 und 2006 jährlich um 4,4% gestiegen war, beinahe auf Null gesunken.

...und generieren eine Kreditkrise

Was die Abwärtsentwicklung enorm kompliziert und so gefährlich macht, ist das Sub-Prime- Debakel — eine direkte Folge der Immobilienblase. Es wäre gesondert zu diskutieren, wie eine skrupellose Hypothekenvergabe gigantischen Ausmaßes, massenhafte Zwangsvollstreckungen, der Zusammenbruch eines mit Sub-Prime-Hypotheken gefütterten Wertpapiermarkts und die Krise großer Banken, die enorme Mengen dieser Papiere hielten, miteinander zusammenhängen. Der Schluss, den man hier nur ziehen kann, ist einfach:
Weil die Verluste der Banken so real und so enorm sind und wahrscheinlich noch steigen werden, wenn sich die Talfahrt verstärkt, steht die Wirtschaft vor einer in der Nachkriegszeit beispiellosen Situation: genau in dem Moment, wo die Wirtschaft in die Rezession abgleitet, werden die Kredite eingefroren. Und die Regierungen wissen nicht, wie sie dies verhindern sollen.

Aus: Against the Current (Detroit), Nr.132, Januar/Februar 2008 (www.solidarity-us.org) (Übersetzung: Harald Etzbach).


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