SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2008, Seite 03

"Tollheit 1968" - Der Legendenmarkt floriert

Götz Aly oder der Neuaufguss des Songs "Rot ist gleich Braun"

von Arno Klönne

Die alten Versuche, 68 in die Terroristenecke zu stellen, ziehen nicht mehr so richtig. Da scheint die vermeintliche Selbstbezichtigung eines Renegaten eine wirkungsvollere Demontage zu sein.
Wer sich der nicht gerade leicht zu ertragenden Anstrengung aussetzt, aktuelle Druckerzeugnisse im Spektrum von rechtsbürgerlich bis rechtsaußen zu studieren, stößt immer noch auf althergebrachte Anklagen: Das historisch bewährte Wertesystem von Ehre und Treue, von Familie und Vaterland habe sie zerstört, die Kulturrevolution von 1968, mit dem ideologischen Vorschlaghammer der Frankfurter Kritischen Theorie. Oder, mehr wirtschaftspädagogisch auftretend: Einen "Epochenumbruch" in Richtung "Faulheit und Mittelmaß" hätten die revoltierenden Studenten ausgelöst (Kai Dieckmann in Bild).
Allerdings wirken solche Klagelieder etwas fad, und so braucht der Erinnerungsmarkt frische Angebote, auch solche für Kunden, die das Gefühl haben, mit dem Jahr 1968 könnte sich denn doch geschichtlich Fortschrittliches verbunden haben. Aufmerksamkeitsökonomisch steht hier zur Zeit Götz Aly mit seiner Offerte an der Spitze; sein Werk mit dem verkaufsträchtigen Titel Unser Kampf kam schon zu feuilletonistischem Erfolg, bevor die Buchhandlungen es zur Verfügung hatten. Das Werbesignal dafür gab ein Vorwegbeitrag Alys in der Frankfurter Rundschau — dort sicherlich besser platziert als etwa in Springers Welt, weil das Frankfurter Blatt ja immer noch im Geruch der Linksliberalität steht. Das richtige Medium also, um beispielhaft die Selbstkritik von 68er "Wilden" vorzuführen.

Wie die Väter 33 so die Söhne 68?

Aly hat sich eine intelligentere Version von Geschichtsdeutung einfallen lassen als die, das logische Resultat der 68er Ideen sei der Terrorismus im Stil der RAF gewesen. Eine solche Legende ist inzwischen reichlich abgegriffen, und sie steht auch zu offensichtlich im Widerspruch zu den eigenen Erfahrungen der großen Mehrheit von Altachtundsechzigern, die keine Neigung zum "bewaffneten Kampf in den Metropolen" hatten.
Aly bietet stattdessen ein Bild der Geschichte an, das weiter ausgreift: 1968 sei, so will er glauben machen, eine studentisch geprägte, antibürgerlich-aktivistische Jugendbewegung gewesen, die darauf aus war, eine neue "Jugenddiktatur" zu errichten — die Söhne exakt ihren Vätern nacheifernd, die einst 1933 im jugendbewegten Ansturm die Weimarer Republik beseitigt und das nationalsozialistische Regime als "Jugenddiktatur" etabliert hätten. Dutschke also als neuer Goebbels, die SDSler als Nachfahren der Nazi-Studentenbündler — und damit das Publikum diese "Verwandtschaft" auch richtig begreift, fügte die Frankfurter Rundschau dem Aly-Artikel Fotos bei, die eine braune Studentendemo 1933 und eine APO-Demo 1968 zeigen, mit der Bildunterschrift: "Ähnliche Ziele".
Anders als 1933 sei aber, so Aly, der Griff zur Macht 1968 nicht gelungen. Sie habe auch gar keine Chance dazu gehabt, führt Aly aus, da die Mehrheitsgesellschaft, repräsentiert durch einen so vernünftigen Spitzenpolitiker wie Kurt Georg Kiesinger, das neue "Generationenprojekt" ins Leere habe laufen lassen.
Deutsche Geschichte nach dem Lehrplan von Aly: 1968 war ein spezifisch deutsches Ereignis, der Auftritt einer machthungrigen Jugendbewegung, eine "Tollheit" mit totalitärer Gesinnung — ein (allerdings unrealistischer) Nachahmungsversuch im Geiste der jugendlichen Bewegung, die 1933 den Durchbruch geschafft und ihre Herrschaft begründet hatte.
Auf den ersten Blick fragt man sich, ob da ein früher doch ernstzunehmender Historiker, auf Originalität erpicht, erbittert auch darüber, "verhinderter Professor" zu sein, dem groben Unfug verfallen ist. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus: Der Unfug hat Methode, und er ist diskurspolitisch zielgerichtet.

Demagogie statt Empirie

Die inzwischen gängige, marktförmige Verwertung von Geschichte mit ihrem zum raschen Verbrauch bestimmten Angebot historischer Lesarten lenkt ab vom Interesse an Empirie, an sorgfältiger Betrachtung vergangener Wirklichkeit. Da lässt sich vieles verkaufen, was einer Qualitätskontrolle nicht standhalten würde.
Die von Aly offerierte Deutung von Geschichte hat ihre Ambitionen in der politischen Gegenwart: Wer sich 1933 vorstellt als Zugriff einer "Jugendbewegung" und das NS-Regime als "Jugenddiktatur", der kann getrost verzichten auf Fragen nach dem Interesse "alter" damaliger Machteliten an einem faschistischen System, auch nach der Wirksamkeit kapitalistischer Herrschafts- und Expansionsantriebe in der Politik des "Dritten Reichs".
Solche Scheuklappen gegenüber der Realität der Geschichte haben aktuelle Folgen. Wer 1968 missversteht als spezifisch deutschen Ausbruch einer puren Jugendrevolte, generationenpsychologisch verkürzt auf die Rebellion von "Söhnen", die gegen ihre "Väter" angehen und es ihnen doch gleichtun wollten, der verdrängt — mit Konsequenzen für die Gegenwart — gesellschaftsgeschichtliche Vorgänge und Sachverhalte —, dass 1968 keine plötzlich-einmalige Blitzbegebenheit aus heiterem Himmel war, sondern so etwas wie eine situative Zuspitzung eines lang andauernden Konflikts; dass es sich um eine internationale Kette von vielgestaltigen Aktionen gegen imperialistische Kriegspolitik (im Mittelpunkt: der Krieg der USA in Vietnam) handelte; dass zugleich Widerstand versucht wurde gegen westliche Staats- und Fabrikherren wie gegen herrschende Bürokraten im Ostblock; und dass es keineswegs nur Studenten und junge Leute waren, die da aufbegehrten, sondern ebenso Arbeiterinnen oder Arbeiter und durchaus bejahrte Menschen.
Götz Aly — er ist da nicht der einzige Ex-68er — betreibt geschichtspolitische Demagogie, und dabei ist es üblich, ein Stück Wahrheit zu verwenden, um die größere Portion Unwahrheit attraktiv zu machen. Zweifellos war das 68er Milieu in seiner deutschen studentischen Variante nicht frei von Verhaltensweisen, die an fragwürdige Seiten der klassischen bürgerlichen Jugendbewegung erinnerten: Elitäre Selbstüberschätzung, aggressive Abgrenzung gegenüber potenziellen Verbündeten, Vorzeige"radikalität", kostümierende Übernahme vergangener oder fern gelegener "Modelle", Unterschätzung der strategischen Fähigkeiten des herrschenden Systems. Auch damit hängt es zusammen, dass viele, die als junge Menschen am "Ereignis 1968" beteiligt oder von diesem beeindruckt waren, in politische Sackgassen gerieten oder sich ins Gehege politischer Konformität zurückbegaben.
Freilich ist die Reue über politische "Jugendsünden" wie auch deren listige Verwendung für Karrieren im "Establishment" historisch nichts Neues; schon im 19.Jahrhundert stellten sich etliche Aktivisten des "tollen Jahres 1848" später in den Dienst der Bismarck‘schen "Blut-und- Eisen"-Politik. So muss es nicht verwundern, dass sich in unseren Zeiten einige "revolutionäre Kämpfer" in Profis der Machtpolitik und -publizistik verwandelten, diesmal zumeist auf Pfaden durch "grünes" Terrain.

Alles in allem eine produktive Bilanz

Die gesellschaftliche Konstellation, in der jene Bewegungen stattfanden, die mit der Chiffre "68" gemeint sind, enthielt Fallen — jedenfalls in hochentwickelten Ländern wie der Bundesrepublik. Die hochgradige massenmediale Aufmerksamkeit, die einer beim akademischen Nachwuchs Sympathie findenden Revolte zugewandt wurde (worin eine klassengebundene Wahrnehmungsweise steckte...), brachte ein Entfremdungsrisiko mit sich — die Gefahr, dass oppositionelles Agieren sich unbewusst einpasste in die Eigendynamik jener kapitalistischen Medien, die eigentlich Objekt der Kritik waren. Zudem verfügte der Kapitalismus über großes Talent, sich kulturelle Neuerungen, die oppositionell gemeint waren, dienstbar zu machen und für die Durchkapitalisierung der Lebenswelt zu nutzen. Auch deshalb gibt es keinen Grund, die "kulturrevolutionären" Eigenschaften des Aufbruchs um 1968 in Bausch und Bogen zu glorifizieren und zu meinen, da seien "ganze Generationen dem Kapitalismus entfremdet worden" (wie Dr.Seltsam kürzlich in der Jungen Welt kundtat).
Dennoch, die Erinnerung an die damaligen Ideen und Aktionen bringt in der historischen Bilanz Produktives zutage. Es entwickelten sich Konturen einer neuen Linken jenseits sozialdemokratischer und staatssozialistischer Erstarrung. Der Massenprotest gegen den Krieg in Vietnam zeigte, dass der militärisch-industrielle Komplex nicht allmächtig ist. Radikaldemokratische Überlieferungen und der gedankliche Bestand gesellschaftskritischer Theorie und Literatur wurden wieder ans Licht geholt. In großer Zahl entwickelten Menschen die Fähigkeit, ihre gesellschaftspolitische Sache selbst in die Hand zu nehmen, sich selbst zu organisieren, den Mächtigen öffentlich zu widersprechen, Konflikte zu riskieren. Neue soziale Bewegungen kamen in Gang. Keine Revolution — und in der Bundesrepublik war damit gewiss nicht "die Machtfrage gestellt" —, aber ein Aufbruch, aus dem zu lernen ist, auch aus seinen Illusionen und Fehlwegen.
Auf "Lehrmittel", wie Aly und einige andere Ex-68er sie anbieten, ihre eigenen widerspenstigen Torheiten von damals durch schlau daherkommende Anpassung heute kompensierend, lässt sich beim Lernen aus der Geschichte verzichten.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang