SoZ - Sozialistische Zeitung |
Seit fast einer Woche demonstrieren mehrere hundert junge Menschen in Kalk, Anlass
ist ein tragischer Todesfall.
Wir wollen und können die Geschehnisse, die zum
Tod des 17-jährigen Salih geführt haben, hier nicht bewerten. Aber die Jugendlichen in Kalk haben eine klare
Botschaft: sie haben große Zweifel daran, dass die Ermittlungen sorgfältig geführt werden. Sie
können sich nicht vorstellen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft schon nach wenigen Stunden eindeutig sagen
können, dass es sich um Notwehr handelt.
Sie haben das Gefühl, dass sie nicht die gleichen
Rechte in diesem Land haben; sie denken, ein toter Marokkaner ist nicht so wichtig, kriminelle Handlungen von
ausländischen Jugendlichen hingegen werden medial ausgeschlachtet. Auf den Kundgebungen reden viele von ihnen
über Diskriminierung und Rassismus im Alltag, berichten, was sie erlebt haben. Das Gefühl der Jugendlichen,
Bürger zweiter oder dritter Klasse zu sein, wurde durch die Kampagne von Roland Koch in Hessen in
unerträglicher Weise verschärft.
Seine Propaganda gegen ausländische Jugendliche
sollte Wählerstimmen mobilisieren. Das ist nach hinten losgegangen, weil die Menschen spüren, dass wir
ernsthafte, gemeinsame Probleme haben, wie z.B. Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne. Aber die Kampagnen bleiben
leider nicht wirkungslos. Durch solche Wahlkämpfe wird der Spaltpilz in unsere Veedel getragen, die Entfremdung
zwischen Deutschen und Nichtdeutschen verstärkt.
Anlass für die Kalker Demonstrationen war die
Trauer um einen Freund. Daraus hat sich Protest gegen Ausgrenzung und Diskriminierung entwickelt. Die Jugendlichen
haben spontan und selbst organisiert den Weg sozialer Mobilisierung und politischen Protests gewählt. Sie haben
weder still zu Hause getrauert und die Ungleichbehandlung beklagt, noch haben sie sich zu einer "Gang"
formiert und anderen den Kampf angesagt.
Ihre Forderungen sind zutiefst demokratisch:
Gleichbehandlung und Gerechtigkeit für alle. Sie bilden keine "Parallelgesellschaft", schotten sich
nicht ab. Sie wenden sich an die Öffentlichkeit, appellieren an Politik und Justiz, an die Bevölkerung. Sie
zeigen, dass sie ein Teil dieser Gesellschaft sind. Kurz, sie machen eigentlich genau das, was immer laut gefordert
wird.
Aktionen wie diese sind keine Gefahr, sondern bieten
die Chance, die nationalen, ethnischen und kulturellen Unterschieden hintan zu stellen und in armen Vierteln wie Kalk
gemeinsam für Teilhabe und gegen Ausgrenzung zu kämpfen. Die Bewegung der jungen Migranten in Kalk ist daher
trotz des traurigen Anlasses ein Schritt nach vorne.
Weniger positiv ist die Reaktion von Politik und
Verwaltung und Polizei, von den Medien ganz zu schweigen. Ich stimme mit dem Polizeipräsidenten Steffenhagen
überein, wenn er sagt, Äußerungen wie die von Ihnen, Herr Granitzka, wir säßen auf einem
"Pulverfass" und es drohten "Verhältnisse wie in den Pariser Vorstädten", sind
gefährlich und heizen die Probleme an statt sie zu lösen. Herr Steffenhagen sprach davon, sie gössen
Öl ins Feuer; meine Fraktion schrieb am Freitag in der Presseerklärung, Sie, Herr Granitzka, reden von einem
Pulverfass und spielen mit dem Streichholz.
Was bezweckten Sie, Herr Granitzka? War das
Wahlkampfhilfe für Roland Koch auf den letzten Drücker? Ähnlich haben einige Journalisten agiert. Einer
fragte die Jugendlichen voller Enthusiasmus: "Und brennt Kalk heute Abend?" Und das nach einer Woche
friedlicher Proteste, bei denen immer wieder zur Besonnenheit aufgerufen wurde!
Ich stimme allerdings nicht mit Herrn Steffenhagen
überein, wenn er das Vorgehen der Polizei als "besonnen" beschreibt. Die Polizeipräsenz war
massiv, geradezu erdrückend. Die Proteste der jungen Leute wurden durch eine mehrfach gestaffelte Polizeikette
von der Kalker Hauptstraße abgeschirmt. Ein Kontakt zur "Normalbevölkerung" wurde unterbunden. Der
traurige Höhepunkt war der vergangene Freitag: eine Demonstration von überwiegend sehr jungen und weiblichen
Jugendlichen wurde mit mehreren Polizeiketten vorn und hinten und vollständig von der Seite begleitet durch die
Kalker Nebenstraßen geführt obwohl bis dahin vier Tage lang nicht das Geringste passiert war.
Ein Sprecher sagte: "Sie behandeln uns wie
Fußball-Hooligans." Zuvor wurden sämtliche Zufahrtsstraßen nach Kalk kontrolliert.
Fußgänger und Autofahrer, die ausländisch aussahen, wurden kontrolliert, deutsch Aussehende nicht. Als
ich gegen diese Maßnahme protestierte und meinen Eindruck schilderte, dass selektiv nach dem Kriterium
"Ausländer" kontrolliert würde, sagte der zuständige Beamte vor Ort, ich zitiere
wörtlich: "Das kann ich bestätigen: Blonde kontrollieren wir nicht." Lassen Sie diese
Äußerung ruhig etwas sacken: "Blonde kontrollieren wir nicht." Solche Aktionen lassen sich nur als
Polizeistaatsübung bezeichnen.
Das Aufgebot von mehreren Hundertschaften ist eine
negative Aktion. Sie verstärkt die Spannungen innerhalb der Bevölkerung. Die Jugendlichen, die durch
Polizeiketten begrenzt werden, sagen: "Die behandeln uns wie Affen im Käfig." Und mancher
Unbeteiligter, der nur die Krawall-Medien verfolgt, mag denken: "Wo Rauch ist, ist auch Feuer" wo
soviel Polizei ist, sind wohl auch Straftäter.
Die jungen Leute haben politisch agiert. Sie haben den
Dialog gefordert, mit den Vertretern der Stadt. Gekommen ist keiner. Es ist ja schön und gut, dass Mitarbeiter
des Sozial- und Jugendamtes vor Ort waren. Aber die Jugendlichen haben auch gefordert, dass sich die Politiker blicken
lassen. Wo waren Sie, z.B., Herr Schramma? 200 bis 300 ihrer Bürger demonstrieren jeden Tag, aus Trauer, aus
Sorge um mangelnde Gerechtigkeit. Sie sind doch sonst auch nicht um Ortstermine verlegen?! Auch von den anderen
etablierten Parteien hat sich niemand dort blicken lassen.
Allein ihre Reaktion auf die Proteste zeigt, dass
diese Leute eben nicht gleichberechtigt sind, nicht für voll genommen werden. Sie wollen Aufklärung und
politischen Dialog, sie bekommen ein Riesenaufgebot der Polizei. Sie wollen mit den Vertretern von Stadt und Politik
reden, diese reden lediglich über sie, meistens, als ob sie nichts wären als ein
"Sicherheitsrisiko".
Die Ursachen der Proteste in Kalk liegen in der
sozialen Katastrophe, die sich in großen Teilen dieses Landes entwickelt, in Massenarmut, Perspektivlosigkeit und
speziell der Ausgrenzung von Einwanderern und ihren Kindern. Die Jugendlichen überwiegend arabischer,
türkischer und kurdischer Herkunft, aber unter ihnen deutsche Mitschüler rebellieren absolut zu Recht
gegen schlechte Job- und Zukunftsaussichten, gegen die Ungleichbehandlung. Das ist nicht polizeilich zu lösen,
sondern nur, indem ihre Forderungen ernst genommen und die Probleme angegangen werden.
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