SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2008, Seite 13

Offshoring von Arbeitsplätzen

Neue Verlagerungswelle im Anflug

Interview mit Wolfgang Müller (IG Metall)

Im Angestelltenbereich rollt eine Verlagerungswelle in Niedriglohnländer auf uns zu. Die EU-Politik fördert das. Franz Mayer sprach für die SoZ darüber mit Wolfgang Müller, der lange Zeit für die IG Metall den Siemens-Konzern betreute. Wolfgang Müller ist Sozialwissenschaftler und Softwareentwickler.

Vor zehn Jahren wähnten sich gut ausgebildete Lohnabhängige relativ sicher vor der Verlagerungen von Arbeitsplätzen. Damals glaubte man, nur Menschen mit niedriger Qualifikation seien davon bedroht.

Das hat sich völlig verändert. Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Fall der „Chinesischen Mauer” gibt es eine völlige Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital auf dem Weltmarkt. Das Kapital hat seither Zugriff auf ungefähr doppelt so viele Arbeitskräfte wie vorher.
Die erste Welle der Verlagerung von Arbeitsplätzen aus Deutschland in die neuen Niedriglohnländer jenseits des eisernen Vorhangs betraf fast ausschließlich die Produktion. Die jetzt zu verspürende neue Welle betrifft sehr stark den Angestelltenbereich. Das hat mehrer Gründe:
Im Angestelltenbereich ist das Rationalisierungspotential besonders hoch.
Der Angestelltenbereich ist jahrzehntelang in der Produktivität hinter dem Fertigungsbereich zurückgeblieben.
Hochdifferenzierte IT-Systeme schaffen jetzt die Möglichkeit, auch komplexe Angestelltentätigkeiten zu verlagern. Das betrifft z.B. die Transaktionsabwicklung bei den Banken, die Bearbeitung von Schadensfällen bei Versicherungen aber auch den Bereich der Informationstechnologie selbst (z.B. die Betreuung von IT-Systemen aus der Slowakei heraus oder die Verlagerung von Programmiertätigkeiten nach Indien).

In welche Gebiete werden Bürotätigkeiten verlagert?

Im Produktionsbereich gehen sie nach China — vor allem weil dort neue Absatzmärkte zu erschließen sind. Eine Ausnahme bildet allerdings die Textilproduktion und die Turnschuhproduktion. Für die deutsche Metall- und Elektroindustrie liegen die Niedriglohnstandorte vor allem in Osteuropa.

Wohin gehen die Verlagerungen im IT-Sektor?

Das ist unterschiedlich. Für die Anwendungsentwicklung, die Programmierung und das Projektgeschäft hat sich Indien als internationales Zentrum herausgebildet. Dort sind auch alle großen deutschen Softwarekonzerne und Industriekonzerne mit Softwareabteilung vertreten. Die Programmierung wird auch gern in Nachfolgestaaten der Sowjetunion verlagert — Russland, Weißrussland, Ukraine. Hinzu kommt noch Bulgarien, das inzwischen eine bestimmte Berühmtheit wegen seiner findigen Virentüftler erlangt hat.
Der IT-Service wird — soweit er nicht vor Ort beim Kunden erbracht werden muss —, vorrangig in die Tschechische Republik, die Slowakei und nach Ungarn verlagert. In diese Länder gehen auch viele Service- und Helpdesk-Tätigkeiten, letztere immer häufiger auch in die Türkei, insbesondere nach Istanbul, weil dafür Deutsch sprechendes Personal benötigt wird, das dort wegen der engen Beziehungen vieler Türken zur BRD vorhanden ist.
Backoffice-Tätigkeiten gehen häufig in die Tschechische Republik. Siemens und HP haben dort sogenannte Shared-Service-Center eingerichtet, wo die Kostenabrechnung und der Einkauf für den Konzern gebündelt werden.

Inzwischen ist die Rede davon, dass der Trend zu Verlagerungen im Produktionsbereich seinen Höhepunkt erreicht habe. Der Spiegel spricht davon, der Höhepunkt sei bereits überschritten. Wie sieht es bei der Verlagerung von Bürotätigkeiten aus?

Hier läuft die große Rationalisierungs- und Verlagerungswelle gerade auf Hochtouren. Wir erleben das bei Banken und Versicherungen. Meistens sind diese Rationalisierungen mit zwei unternehmerischen Entscheidungen verbunden. Die eine lautet „Outsourcing” Das heißt z.B., das Transaktionsabwicklungsgeschäft, das bisher in der Dresdner Bank getätigt wurde, wird jetzt der Postbank übergeben, die diese Art von Tätigkeit zu ihrem Geschäftsgebiet gemacht hat. Durch diese Auslagerung werden Tätigkeiten zentralisiert und standardisiert. Dabei werden natürlich Arbeitsplätze vernichtet. Der nächste Schritt ist dann, diese zentralisierten Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Hier sehen die Manager große Einsparpotenziale.

Vom Produktionssektor hört man häufig, dass Firmen eine Verlagerung wieder rückgängig gemacht haben, weil es gravierende Probleme mit der Qualität gab. Wie sieht es bei den Bürotätigkeiten aus?

Da haben wir es mit den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Produktion zu tun. Die Kalkulationen, die im Vorfeld der Verlagerung von Angestelltentätigkeiten gemacht werden, sind oft Fantasieprodukte, die das Papier nicht wert sind, auf das sie gedruckt sind. Denn im Wesentlichen werden dort lediglich Stundenlöhne verglichen. Die notwendige Vollkostenbetrachtung und eine zusätzliche Risikoabschätzung unterbleiben oft. Nicht berücksichtigt wird z.B., dass in den Offshore- und Nearshore-Ländern die Fluktuation bei hochqualifizierten Tätigkeiten oft sehr hoch ist. In Prag liegt sie bei 20—30%, in Bangalore bei etwa 50%. Deswegen gehen auch viele dieser Projekte schief. Die Software AG in Darmstadt hat zu großen Teilen ihre Anwendungsentwicklung aus Bangalore zurückgeholt, sie macht das jetzt in Sofia (Bulgarien). Es gibt da wirklich sehr viele Projekte, die schief gehen.
Die Motivation zur Verlagerung ist derzeit dennoch im Angestelltenbereich viel höher als in der Produktion, weil der Produktionsbereich in letzten Jahren schon extrem gestrafft worden ist. In der Metallindustrie gab es dadurch in den beiden letzten Jahrzehnten oft Produktivitätsgewinne von bis zu 4% im Jahr. Das ist in Bürojobs eher selten.

Verstehe ich dich recht: Das Scheitern von Verlagerungsprojekten hatte bei den Bürojobs nicht zur Folge, dass die Jobs zurückkehrten. Es wurde lediglich ein anderer Offhore-Standort gesucht?

Die Firmen mussten oft bitteres Lehrgeld zahlen. Sie suchten sich aber dann einen anderen Standort, der näher an Deutschland dran ist, wo auch die Mentalitätsunterschiede weniger groß sind als etwa zwischen Europa und Indien. Ob das im zweiten Anlauf besser geht, wird sich noch zeigen müssen. Aber dass die Jobs dann wieder zurückkommen, das sehe ich nicht.

Was bedeutet das Damoklesschwert der Verlagerung für die Arbeits- und Einkommensbedingungen derer, deren Job noch „hier” bleibt?

Der Druck ist ganz erheblich. Es kommt hier zu einer starken Differenzierung. Ein erheblicher Teil von Jobs — nämlich solche, wo fast alles am Computer oder am Telefon erledigt und die Arbeit nicht direkt beim Kunden gemacht wird — ist stark von Verlagerung bedroht. Diese Jobs stehen in direkter Lohnkonkurrenz zu Niedriglohnländern — auch wenn die Lohnsteigerungsrate in Tschechien oder der Slowakei mit 10—20% ganz erheblich ist. Was den IT-Sektor betrifft, so gab es sowohl bei der Telekomtochter T-Systems wie bei der Siemenstochter SBS in den letzten Monaten und Jahren beträchtliche Gehaltseinbußen, die die zuständigen Gewerkschaften Ver.di und IG Metall nicht verhindern konnten. In den Angestelltenbereichen von Banken und Versicherungen sieht es ähnlich aus.

Gibt es im Angestelltenbereich Beispiele für eine erfolgreiche Gegenwehr gegen Verlagerungen?

Mir ist nicht bekannt, dass im Angestelltenbereich eine Verlagerung erfolgreich verhindert werden konnte.

Liegt das am Charakter der Tätigkeit oder am mangelnden gewerkschaftlichen Bewusstsein und dem niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad im Angestelltenbereich?

Sicher ist da der subjektive Faktor dabei: die mangelnde Bereitschaft zur Gegenwehr und die fehlende Erfahrung von Solidarität. Erschwerend kommt hinzu, dass wir es bei den Angestelltentätigkeiten nicht mit der Verlagerung eines ganzen Standorts oder einer ganzen Fabrik quasi „auf einen Schlag” zu tun haben. Die Verlagerung von Angestelltentätigkeiten geschieht in der Regel scheibchenweise. Ein Beispiel: als man bei Siemens die gesamte Reisekostenabrechnung für den Konzern nach Bratislava verlagerte, betraf das 20 Jobs in Nürnberg, 30 Jobs in München, 10 in Erlangen usw. Unter dem Strich war die Zahl der verlagerten Jobs beträchtlich, aber an den jeweiligen Standorten schien das jeweils nicht viel zu sein. Deswegen ist die Entwicklung von Solidarität hier sehr schwierig. Das ist anders als wenn mit einem „Big Bang” die AEG-Waschmaschinenfabrik geschlossen wird.

Wie verhält sich die Politik zu den Verlagerungen?

Nach dem deutschen Steuerrecht können Verlagerungen als Umzugskosten steuerlich geltend gemacht werden. Hinzu kommt, dass die EU-Förderpolitik solche Verlagerungen begünstigt. Eine Verlagerung nach Osteuropa ist im Aufnahmeland eine Neuansiedlung. Und solche Neuansiedlungen werden aus EU-Töpfen mit 30% Investitionsbeihilfe gefördert. Das heißt: 30% bekommt die Firma von der EU für die Verlagerung. Hinzu kommt in der Regel eine mehrjährige Steuerbefreiung am neuen Standort. Manchmal gibt es noch ein paar Scheiben obendrauf. Als Siemens bei Ostrava in der Tschechischen Republik ein VDO- Werk bauen wollte, winkte die Provinz mit befristeter Lohnkostenübernahme. Das war natürlich für das Unternehmen ein Schnäppchen. Auch die deutsche Industrie kassiert kräftig aus diesen Töpfen. Ich möchte hier nur die Chipfabriken in Dresden nennen.
Es kann also nicht darum gehen, diese Fördermittel abzuschaffen. Es muss darum gehen, sie an so strenge Auflagen zu binden, dass damit nicht der Arbeitsplatztourismus gefördert wird. Das ist eine schwierige Diskussion. Aber es muss auch eine öffentliche Kontrolle geben. Es ist nicht einzusehen, dass darüber allein die Bürokratie entscheidet.


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