SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2008, Seite 16

Erez, Gaza

Gemeinsame Aktion gegen die Blockade

von LYNNE SEGAL

Der 26.Januar, der weltweite Aktionstag des Weltsozialforums, erlebte einen Höhepunkt im Gazastreifen. Dort hielten mehrere hundert Palästinenser und Israelis auf beiden Seiten der Grenze eine gemeinsame Kundgebung gegen die Blockade ab.
Der zivile Bevölkerung Gazas wird mehr und mehr zermürbt durch die jahrelange Blockade und Sanktionen von Seiten Israels. Die Blockade der rund 1,5 Millionen Palästinenser, die in diesem überfüllten Küstenstreifen leben, begann bereits 1991 und wurde auch nach dem Rückzug der israelischen Soldaten und Siedler im Jahr 2005 aufrechterhalten.
Mit der Wahl von Hamas im Januar 2006 hat sich die Lage verschärft. Vor einigen Wochen gab es eine Katastrophe, als Israel den Gazastreifen vollkommen abriegelte und sogar die Einfuhr von UN-Lieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff untersagte. Grund für diese drakonische Blockade waren die anhaltenden Bombardierungen der grenznahen israelischen Stadt Sderot durch hausgemachte Qassam-Raketen junger Palästinenser.
Wir vom Netzwerk Independent Jewish Voices verurteilen palästinensische Angriffe auf israelische Zivilisten — sie sind nutzlos und widersprechen internationaler Rechtssprechung. Wir verurteilen jedoch auch die unverhältnismäßige Attacke Israels gegen Zivilisten im Gazastreifen.
Abgesehen davon, dass sie gegen die Genfer Konvention verstößt, blieb sie gegen weitere Raketenangriffe vollkommen wirkungslos, und auch der gewünschte Effekt, den Unwillen der Bevölkerung nicht gegen Israel, sondern gegen Hamas zu richten, blieb aus.
Die Situation im Gazastreifen eskaliert, weil Israel, unterstützt von Boykottaktionen in den USA und Europa, sich weigert, Gespräche mit den gewählten Vertretern des Gazastreifens zu führen, und somit auch Angebote der Hamas, die Raketenangriffe auf Israel zu beenden, missachtet. Stattdessen werden Hamas-Vertreter gekidnappt und gefangengenommen.
Experten des Nahen Ostens, die die strategische Blindheit der israelischen Haltung kommentierten, halten die Zunahme militanterer Hamas-Gruppen im Gazastreifen für ein Ergebnis von Israels vorangegangener Kompromisslosigkeit gegenüber der Fatah, als diese noch die palästinensischen Territorien regierte.

Unvermeidliche Eskalation

Weil die Welt sich weigert anzuerkennen, dass der Bevölkerung im Gazastreifen die grundlegendsten Menschenrechte verweigert werden und dieser nun der Zusammenbruch der Infrastruktur droht, war eine Eskalation unvermeidlich.
Über Nacht zerstörten militante Vertreter der Hamas Teile der von den Israelis errichteten Betonwände entlang der Grenze zu Ägypten. Hunderttausende von Menschen entflohen der jahrelangen Blockade im Gazastreifen und kehrten mit Nahrung, Treibstoff, Medikamenten zurück: „Es war wie in einem Traum”, erzählte ein junger Mann gegenüber einem US-amerikanischen Reporter, „plötzlich konnten wir wieder reisen” Plötzlich strömten wieder Waren in den Gazastreifen, die Bevölkerung war begeistert.
Dennoch bleiben die Folgen der Blockade. Die Infrastruktur muss erst wiederhergestellt werden, und die schwächsten Bewohner fallen immer noch dem Mangel an Medikamenten und medizinischer Ausrüstung zum Opfer. Ebenso schlimm wirkt sich das Reiseverbot aus, das Israel verhängt hat.

Aktionstag 26.Januar

Wenige Wochen davor hatte es einen eher symbolischen Versuch gegeben, die Blockade zu beenden. Im Gegensatz zum Durchbruch der Mauer an der Grenze zu Ägypten schaffte er es nicht in die Schlagzeilen. Der Versuch bestand in einem Zusammentreffen von Israelis und Palästinensern am Grenzübergang Erez am 26.Januar 2008.
Monatelang hatten jüdische und arabische Israelis in der Israeli Coalition Against the Siege gemeinsam mit palästinensischen Partnern vom Gazastreifen diesen Aktionstag vorbereitet. Israelische Konvois brachten fünf Tonnen Nahrung, medizinische Ausrüstung und die ersehnten Wasserfilter. Die Botschaft dieser Israelis war klar: „Wir werden an diesem Verbrechen nicht teilhaben. Wir schämen uns für diese Belagerung”, sagte Uri Avnery, mit seinen 85 Jahren Leiter einer der bekanntesten radikalen israelischen Friedensgruppen, Gush Shalom. Er sprach zu rund 2000 Israelis, Mitglieder von 26 verschiedenen Menschenrechts- und Friedensgruppen, die allesamt per Auto und Bus nach Erez gekommen waren. Auch die 17- jährige Shir Shodzik aus Sderot sprach auf der Kundgebung. Sie sprach über ihren Widerstand gegen die Blockade und über das Leiden auf beiden Seiten — ihre Tante und ihr Cousin waren durch eine Qassam-Rakete verwundet worden. „Gewalt und Machtgebaren können diese angespannte Lage nicht verändern”, sagte sie.
Eyad el-Sarraj, vom Gaza Community Mental Health Programme sprach von der anderen Seite der Grenze aus — für die teilnehmenden Israelis war er unsichtbar. Er sprach in sein Mobiltelefon, das Signal wurde auf der anderen Seite empfangen und verstärkt. Umgeben von Hunderten von Palästinensern hieß el-Sarraj die Israelis auf der anderen Seite der Grenze willkommen, also an den Gefängnismauern, die den Gazastreifen umschließen. „Wir halten uns heute an den Händen, im Streben nach Frieden, Gerechtigkeit und Sicherheit für alle — Sicherheit für Palästina, Sicherheit für Israel, Sicherheit für den Gazastreifen und Sicherheit für Sderot.” El-Sarraj, der schon oft von der „chronischen Vergiftung” gesprochen hat, die die hoffnungslose Frustration in seinem Volk nährt, begrüßte die Freude, die der Massenübertritt der Grenze in Rafah wenige Tage zuvor ausgelöst hatte, ebenso wie die Solidarität der radikalen Israelis in Erez.
Wie stets blieb Israel unbeweglich und verwehrte trotz anhaltenden Drucks dem Konvoi die Einfahrt in den Gazastreifen. Für das Netzwerk IJV ist jedoch allein die Tatsache, dass Hunderte von israelischen und palästinensischen Zivilisten weiterhin, trotz aller Widrigkeiten, miteinander arbeiten und kommunizieren, von entscheidender Bedeutung. Natürlich wird sich nichts Grundlegendes verändern ohne den Druck der USA und anderer Weltmächte auf Israel, endlich die Blockade zu beenden und mit Hamas zu verhandeln. Es gibt aus diesem Albtraum solange keinen Ausweg, bis nicht alle Seiten miteinander verhandeln und Kompromisse finden, die die Schaffung einer geeinten palästinensischen Regierung fördern statt sie zu unterminieren — eine Regierung, die tatsächliche Macht ausüben und über Ressourcen verfügen kann.
Uri Avnerys Worte bringen die unsicheren Hoffnungen und das leidenschaftliche Anliegen der Juden zum Ausdruck, die in der Welt verstreut leben und nichts mehr erhoffen, als ein Ende der israelischen Kolonialherrschaft über Gaza, der Westbank und Ost-Jerusalem: „Verliert nicht den Glauben daran, dass wir uns eines Tages hier in Frieden treffen werden, ohne Zäune, ohne Mauern, ohne Waffengewalt, wie zwei Völker, die miteinander in Frieden und Freundschaft leben."
Das IJV Netzwerk will dazu beitragen, die jüdischen Stimmen zu verbreiten, die diese israelische Dissidentenhaltung stützen. Wir alle verlieren einmal die Hoffnung. Doch dann kehrt sie wieder, und wir versuchen gemeinsam herauszufinden, was der beste nächste Schritt ist.

Independent Jewish Voices (IJV) ist ein Netzwerk jüdischer Briten, das seit rund einem Jahr besteht und versucht, von England aus jüdischen israelkritischen Stimmen Gehör zu verschaffen. (Übersetzung: Angela Huemer.)


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