SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2008, Seite 19

68 und das Alltagsleben - Revolte in Küche und Schlafzimmer

Die Wirkung der neuen Frauenbewegung auf das Zusammenleben

von Gisela Notz

"Anders leben — hier und jetzt” war eine Haupttriebkraft der Revolte von 68. Jenseits der Frage nach den politischen oder ökonomischen Machtverhältnissen bildeten die radikale Infragestellung von Autorität, die Veränderung des Alltags, Emanzipation und Demokratie das Grundmuster der Bewegung. Die neue Frauenbewegung war eine ihrer unmittelbaren Folgen — obwohl sie in Kritik zu ihr entstand.
Auf der 23.Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) am 13.9.1968 in Frankfurt am Main hielt Helke Sanders eine Rede, die die Republik verändern sollte. Sie sprach als Delegierte des Westberliner „Aktionsrats zur Befreiung der Frau” und warf den männlichen SDS-Mitgliedern vor, die spezifische Ausbeutung der Frauen im privaten Bereich zu tabuisieren. Der SDS sei „ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse”, eine Organisation, die bestimmte Bereiche des Lebens vom gesellschaftlichen abtrenne und tabuisiere, indem sie ihnen das Etikett „Privatleben” gebe. Die männlichen Delegierten waren nicht bereit, ihre Thesen zu diskutieren; weder der nächste Redner noch sonst jemand ging auf ihren provokanten Beitrag ein. Somit warf die Berliner Studentin Sigrid Rüger die berühmte Tomate und die Frauen zogen ihre Konsequenzen.
"Das Private ist politisch” wurde zur Losung der neuen Frauenbewegungen. Damit wurde ein „neues Verständnis des Politischen” eingeklagt. Der Weiberrat formulierte: „Es gilt, Privatleben qualitativ zu verändern und diese Veränderung als revolutionären Akt zu verstehen.” In Erweiterung des traditionell männlichen Politikbegriffs sollte die politische Dimension und die Veränderbarkeit scheinbar privater Beziehungsstrukturen hervorgehoben werden.
Einig waren sich die frauenbewegten Frauen in ihrem radikalen Einspruch gegen die wenigen, engen, für Frauen vorgesehenen Lebenswege. Die konservative Familienideologie der 50er und 60er Jahre und das auch in der linken Praxis noch nicht eingelöste Gleichheitsversprechen bildeten den argumentativen Hintergrund für den Aufbruch, der auch international erfolgte.
Zu den wichtigsten Zielen der Frauenbewegungen der Siebzigerjahre gehörten:
Teilhabe an allen gesellschaftlichen Entscheidungen;
Kritik an den Strukturen kleinfamilialer Lebensformen mit traditionellen Geschlechterrollen;
Kritik an der Organisation familialer Sozialisation und an der repressiven Kindererziehung;
Selbstbestimmungsrecht über Kinderwunsch und Schwangerschaft;
Kampf gegen Misshandlung und Gewalt gegen Frauen;
Problematisierung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung im Berufsleben.
Über die Gesamtheit dieser Themenbereiche hinaus entwickelten sich auch Bewegungen zu Einzelthemen. Nachstehend werden die Themen Familie und Kindererziehung exemplarisch behandelt. Die Ziele und Vorstellungen der Frauen von 68 wirken — wenn auch in veränderter Form — bis heute nach.

Wohngemeinschaften und Kommunen

"Neue” Gemeinschaftsprojekte machten von sich reden, und es mangelte ihnen nicht an Aufmerksamkeit. Sensationelle Meldungen in den Medien über die Aufhebung der Privatheit durch Gruppensex und sexuelle Querverbindungen sorgten dafür, dass die Kommune zum Bürgerschreck wurde. Nicht alle Frauen konnten in das Lamento derer einstimmen, die sich als Sexobjekte für die Befreiungsversuche der Männer erlebten. Viele hatten ihre eigenen Befreiungsvorstellungen, hatten Lust am Entdecken und Überschreiten des Erlaubten und machten ganz neue Erfahrungen in den Beziehungen zu Männern und auch von Frauen untereinander. Kommunen gaben an vielen Orten den Impuls, aus der „Wohlstandsgesellschaft” auszusteigen und mit autarken Wohn- und Arbeitskollektiven alternative Lebenskonzepte gleichberechtigter Mitglieder zu realisieren, welche die Isolation der Einzelnen in der Kleinfamilie und die Fixierung der Geschlechterrollen in neue Formen des Zusammenlebens und -arbeitens auflösen wollten. Heide Bernd sah in den Kommunen vor allem eine Möglichkeit, den Kampf für die Veränderung der Geschlechterrollen, für ebenbürtige Geschlechterverhältnisse und für die Aufhebung der geschlechterdiskriminierten Arbeitsteilung — also für eine freie Gesellschaft — zu führen. Herbert Marcuse beschrieb sie als „Inseln einer Zukunft”, als „Testboten humaner Beziehungen”
Es entstanden Gemeinschaften, in denen ein soziales Miteinander von Erwachsenen und Kindern entwickelt wurde, „alternative” Lebens- und Arbeitszusammenhänge, die auf strukturelle Hierarchien, Besitzansprüche, Ausbeutung und Unterdrückung verzichteten. Wohn- und Hausgemeinschaften sowie Betriebe und Projekte der alternativen Ökonomie gehörten dazu.
Die Kommunebewegung überlebte die 68er-Bewegung, allerdings realitätsbezogener. Die großen politischen Zielvorstellungen einer Revolutionierung des gesamten Gesellschaftssystems traten mit der Zeit in den Hintergrund. Die „neuen” Kommunen setzten auf die Kraft des Experiments und des Vorlebens. An ihrer Existenz kann heute noch beispielhaft aufgezeigt werden, dass Möglichkeiten einer anderen Lebens- und Arbeitswelt in Ansätzen hier und heute lebbar sind.

Antiautoritäre Kinderläden

Helke Sander hatte in ihrer Rede auf der SDS-Konferenz darauf hingewiesen, dass auch beim progressiv erscheinenden SDS das Privatleben — insbesondere die so genannte Kinderfrage als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse — tabuisiert war. Während sich SDS-Männer weitgehend uneingeschränkt der politischen Arbeit widmen konnten, waren viele Mütter durch ihre Kinder ans Haus gebunden, litten unter der Doppelbelastung von Familie und Studium oder Beruf und unter der häuslichen Isolation. Die SDS-Frauen mit Kindern waren am meisten diskriminiert und die Kinderladenarbeit die wichtigste Arbeit, der sich die neu entstandene Frauenbewegung widmen musste.
Die Geburtsstunde der Kinderläden, die sich später in der ganzen Republik ausbreiteten, war der Internationale Vietnamkongress im Februar 1968. Anstatt ihre Kinder zu Hause zu betreuen und deshalb auf die Teilnahme am Kongress zu verzichten, brachten viele SDS-Frauen ihre Kinder mit und betreuten sie abwechselnd. Diesem „Kinderladen” sollten antiautoritäre Kinderläden in zahlreichen deutschen Städten folgen. Den Frauen ging es dabei um mehr als eine Selbsthilfeorganisation, durch die sie mehr Zeit für politische Arbeit und Studium gewinnen wollten — es ging ihnen auch um ein emanzipatorisches Gegenmodell zur Erziehung im Kindergarten. Es ging ihnen um die gesellschaftliche Verantwortung für Kinder, um Kindererziehung als gemeinsame Aufgabe von Frauen und Männern und um die Erarbeitung emanzipatorischer Erziehungsmodelle. Es ging ihnen um die Kritik an der bürgerlichen Kindererziehung, die verlangte, Kinder nach dem Grundsatz des Triebverzichts, des Konkurrenzkampfs und des Leistungsprinzips zu erziehen. Kinderläden dienten der kollektiven Kindererziehung und der Umsetzung des Ideals „antiautoritärer Erziehung”
Bereits während der 22.Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt im September 1967 hatten sich erste Auseinandersetzungen um die politische Bedeutung der antiautoritären Erziehung entwickelt. Die elf dort versammelten Kinderladen-Projektgruppen diskutierten über Notwendigkeit und Bedingungen der Transformation zu einer „sozialistischen Erziehung”, weil sie der Meinung waren, dass antiautoritäre Kinderläden Arbeiterkinder, die integriert werden sollten, in Widerspruch zu den triebfeindlichen Bedingungen ihres eigenen sozialen Ortes bringen müssten.
Die neue Kinderladenbewegung hatte starke gesellschaftliche Ausstrahlung. Von Eltern gegründete und (mit)betreute Kinderläden schossen nicht nur in Universitätsstädten wie Pilze aus dem Boden. War es zu Beginn noch völlig undenkbar, öffentliche Mittel für die Einrichtungen zu fordern, so gab es nach der Gründung des „Zentralrats der Kinderläden”, für den sich überwiegend Männer interessierten, bald vom Senat Berlin geförderte Projekte. Freilich ging das nicht ohne ideologische Auseinandersetzungen ab. Auch an der Frage, ob Kinderläden nur „Bürgerkindern” oder auch „Arbeiterkindern” offen stehen sollten, erhitzten sich die Gemüter. Dies trug zur Auflösung des „Zentralrats” bei. Kinderläden und Eltern-Kind-Gruppen breiteten sich dennoch weiter aus. Durch die Mitarbeit der Eltern waren sie bald so zeitintensiv, „dass die ursprüngliche Idee, Frauen mehr Zeit für sich selber zu verschaffen, um unter anderem auch über die öffentliche Erziehung nachdenken zu können, ins Leere lief”, wie Helke Sander später in einem Interview bemerkte.
Obwohl keine andere Bewegung gesellschaftliche Prozesse derart beeinflusst hat wie die Kinderladenbewegung, beklagt Helke Sander bis heute, dass die „Kinderfrage” damals von den dominierenden Kräften der Frauenbewegung ins „Aus” befördert worden sei. Tatsächlich ist in den „Standardwerken” über die neue Frauenbewegung kaum etwas über dieses Kapitel zu lesen.
Kinderläden hatten Einfluss auf bestehende öffentliche und private Kinderbetreuung, zumal die Kinderladenbewegung Konflikte mit den traditionellen pädagogischen Einrichtungen nicht scheute. Konzepte antiautoritärer Erziehung hinterließen deutliche Spuren der Liberalisierung der auf Gehorsam und Anpassung ausgerichteten Erziehung in Kindergarten, Schule, Universität und Beraufsausbildung. Die veränderten Konzepte und die Versuche „den Verknöcherungstendenzen von Erziehungsanstalten entgegenzuwirken” wirken bis heute.

Schwächen der Kleinfamilie

Bereits 1973 veröffentlichte das damalige Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit eine Studie, die die „Sozialisationsschwächen” der modernen Kleinfamilie aufzeigte und nachwies, dass Kleinfamilien nicht geeignet seien, die nachfolgende Generation auf die Bewältigung ihrer Geschlechterrollen, ihre spätere Familienrolle sowie ihre Berufsrolle vorzubereiten. Mütter, die „die Erfüllung ihrer Lebensaufgabe in der ausschließlichen Behütung und Lenkung des Kindes sehen und nicht fähig und bereit sind, die Distanz zum Kind zu halten, die es zur Entwicklung seiner Unabhängigkeit und Selbstständigkeit braucht”, werden dem Kind bei seinen Lösungsversuchen von der Bindung an die Eltern hin zur eigenen Selbständigkeit im Wege stehen, schrieb die Studie. Durch übertriebene Bindungs- und Dominierungsversuche der Mutter würde die kindliche Entwicklung empfindlich gestört.
Die Studie führte Untersuchungen an, wonach Urvertrauen sich nicht allein durch die Nähe zur Mutter, sondern auch durch die Zufriedenheit der Bezugspersonen und das Eingebundensein in eine Gruppe von Gleichaltrigen ausbildet. Kritisiert wurde vor allem das „dilettantische, unkontrollierte Erziehungsverhalten der Eltern”, die als Laien die verantwortungsvolle Erziehungsaufgabe ohne Vorbedingung und ohne Ausbildung übertragen bekommen. Klargestellt wurde, dass auch Säuglinge sich daran gewöhnen können, dass nicht die biologische Mutter, sondern andere Bezugspersonen sie betreuen. Die Trennung zwischen Mutter/Hausfrauenrolle und Vater/Erwerbsrolle wurde als völlig veraltet und als „ein Instrument zur Unterdrückung der Frauen und zur unterschiedlichen Positionierung der Geschlechter in der Gesellschaft” beschrieben. Es wurde festgestellt, dass eine Wohngemeinschaft bessere Voraussetzungen als die Kleinfamilie bot, um einer „zeitgemäßeren Auffassung von den Geschlechterrollen gerecht zu werden”
Vieles davon ist heute vergessen. Heute geht es um eine „familiengerechte Gestaltung” des Erwerbslebens — meist auf Kosten der eigenständigen Existenzsicherung der Frauen — und um „partnerschaftliche Arbeitsteilung”, die allerdings oft in zermürbenden Auseinandersetzungen endet, bei denen die Frauen meist den Kürzeren ziehen und Kinder nicht nur Anlass ständiger Auseinandersetzungen in der Familie sind, sondern diese auch auszuhalten haben.
Ein gewaltfreies, lebendiges, vielfältiges, demokratisches Miteinander von Frauen, Männern und Kindern ist bis heute nicht erreicht. Dennoch hat die Frauenbewegung nicht nur das Leben der in ihr aktiven Frauen verändert. Sie hat auch auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern gewirkt, und manche der beteiligten Männer machen sich verstärkt Gedanken um ihre Rolle.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum 
Anfang