SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2008, Seite 20

Der Prager Frühling - Wirtschaftliche Effizienz und Demokratie

Phase I: Die Öffnung der Partei

von Anna Libera

Die Wirtschaftskrise Anfang der 60er Jahre erzwang Reformen, die ohne Veränderungen in Politik und Verwaltung nicht zu haben waren.
Anfang Januar 1968 ernennt das Präsidium des ZK der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSC) nach heftigen Auseinandersetzungen Alexander Dubcek zum Ersten Sekretär. Erst am 4.März wird vertraulich ein detailliertes Protokoll des Präsidiums des ZK verbreitet. Darin heißt es:
"Im Verlauf der Diskussion ergab die Reflexion über die Umsetzung der Politik der Partei eine Konfrontation zwischen dem Neuen und dem Alten ... Eine erste Tendenz kam zum Ausdruck, die mehr oder weniger stark das in der sozialistischen Entwicklung unserer Gesellschaft bereits erreichte Stadium nicht berücksichtigt und überholte Arbeitsformen der Partei verteidigt. In ihren Augen liegt die Ursache für unsere Schwächen vor allem in Schwierigkeiten, die auf den Gang der Wirtschaft, auf unzulängliche ideologische Arbeit, auf fehlende Strenge und auf eine liberale Haltung an der ideologischen Front sowie auf die Auswirkungen der Manöver der ideologischen Diversion des Westens zurückzuführen sind. Für diese Tendenz gibt es in der Partei und im Land genug Demokratie. Es fand sich sogar eine Stimme, wonach wir ein ‘Übermaß an Demokratie‘ hätten. Demgegenüber kamen sehr deutliche Tendenzen zum Ausdruck, die die Dringlichkeit eines neuen Kurses behaupteten ... und es für notwendig hielten, das politische Handeln auf ein Niveau zu heben, das der aktuellen Entwicklung unserer Gesellschaft entspricht und die Auswirkungen der wissenschaftlich- technischen Revolution berücksichtigt. Die Entwicklung der Wirtschaft und ihre neuen Formen der Leitung erfordern unvermeidlich eine Änderung in den Methoden der Parteiführung, um der Initiative und öffentlichen Aktivität gesellschaftlicher Gruppen ausreichend Spielraum zu gewähren."
Die erste Tendenz vertrat Antonín Novotny. Das zweite, heterogene Lager fand in Dubcek einen Wortführer. Der Frühling begann. Am 5.April 1968 verabschiedete die KSC ein Aktionsprogramm. Der Frühling wurde wärmer.
Eine der Besonderheiten der Reformen in der Tschechoslowakei, die zum Teil ihren Massencharakter und ihre Dynamik erklärt, bestand darin, dass die von Chruschtschow auf dem XX.Parteitag der KPdSU 1956 eingeleitete „Entstalinisierung” an Partei und Gesellschaft der Tschechoslowakei vorbei gegangen war. Im Vergleich zu Polen und Ungarn genoss die KP zu dem Zeitpunkt noch Unterstützung in breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung und sah sich deshalb nicht gezwungen, das stalinistische Partei- und Führungsmodell in Frage zu stellen. Zaghafte Versuche von Intellektuellen, eine Debatte in Gang zu setzen, waren rasch unterdrückt worden. Novotny zog Lehren aus Polen und Ungarn und verstärkte die Parteidisziplin und den „antirevisionistischen Kampf”
Die Unzufriedenheit wuchs. Die Intellektuellen sahen einen tiefen Widerspruch zu der von der UdSSR gepredigten Politik der „friedlichen Koexistenz und Öffnung” und zu den erneuten Vorwürfen, die Chruschtschow auf dem XXII.Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 gegen den Stalinismus erhob.
Die Unzufriedenheit der Intellektuellen fand Anfang der 60er Jahre zusätzlich ein Echo in der tiefen Wirtschaftskrise. Mehrere Jahre hindurch sank die Wachstumsrate, erreichte 1962 das Nullniveau und rutschte 1963 sogar auf —3%. Junge Ökonomen der Partei, darunter Ota Sik, machten dafür die sklavische Nachahmung des sowjetischen Industrialisierungsmodells verantwortlich, eine überzentralisierte Planung sowie einen Mangel an qualifizierten Managern, die eher aufgrund ihrer Anpassung an die Partei denn aufgrund ihrer Kompetenz in die Leitung der Wirtschaft berufen worden waren.
Zu Beginn der 60er Jahre verstärkten sich die verschiedenen Krisenelemente gegenseitig, sodass kritische Debatten zunehmend an die Öffentlichkeit drangen und schließlich offen geführt wurden.

Die Wirtschaftsreform

Die Führung der KSC konnte auf dem XII.Parteitag 1962 die Debatte mit den Verfechtern einer Wirtschaftsreform nicht mehr verhindern. Maßnahmen wurden jedoch keine verabschiedet.
Die Debatte wurde in den Folgemonaten in der Wirtschaftspresse fortgesetzt. Ota Sik, der Anführer der Reformer, unterstützte die Auffassung, eine Wirtschaftsreform könne nur verwirklicht werden, wenn auch die politischen und administrativen Strukturen des Landes verändert würden. Er sprach sich gegen Tabus und für eine offene Diskussion aller Probleme aus. Der Wirtschaftsplan sollte auf die Bedürfnisse der Bevölkerung antworten (und nicht umgekehrt!), das Kollektiveigentum sollte Mittel, nicht Zweck sein. Er befürwortete eine Dezentralisierung der Planung, eine relative Autonomie der Produktionseinheiten, die Festlegung der Preise nach Angebot und Nachfrage sowie eine „effiziente” Lenkung der Betriebe, womit u.a. das Recht gemeint war, Beschäftigte zu entlassen.
Es waren nicht die letztgenannten Maßnahmen, die die Konservativen in der KSC aufscheuchten — zur selben Zeit schlugen in der UdSSR Liberman und Trapesnikow dieselben Rezepte vor, ohne auf Ablehnung zu stoßen. Sie schreckten vor der Infragestellung des absoluten Monopols der Partei über das wirtschaftliche und politische Leben zurück. Sie fürchteten um ihre Posten, wenn die Verantwortlichen nach ihrer Kompetenz und nicht nach ihrer Zustimmung zur Parteilinie gewählt würden.
Doch die Wirtschaftskrise trieb sie in die Defensive. Anfang 1967 wurde die Reform im Grundsatz verabschiedet. Ihre Umsetzung wurde jedoch vom Parteiapparat verhindert, der in den Betrieben eine demagogische Kampagne über ihre möglichen (und realen) Folgen für die Werktätigen führte. Arbeiter und Intellektuelle versuchte er gegeneinander aufzubringen.

Die Intellektuellen

Vom XXII.Parteitag der KPdSU ermutigt gingen die Intellektuellen in die Offensive. Auf dem ZK-Plenum vom April 1963 antwortete Novotny mit einem Bericht über „die Verletzung der Prinzipien der Partei und der sozialistischen Gesetzlichkeit in der Periode des Personenkults” Der Bericht galt als so explosiv, dass an die Mitglieder der Partei nur eine stark gekürzte Fassung ausgegeben wurde. Selbst diese abgeschwächte Version löste heftige Unruhe aus.
Die Intellektuellen wurden an Fragen aktiv, die die nationale Kultur unmittelbar berührten. Kafka wurde wiederentdeckt, der verboten worden war, weil er als pessimistisch und dekadent bezeichnet wurde. Im Februar 1963 schrieb Eduard Goldstücker in den Literární Noviny, der Zeitschrift des Schriftstellerverbands, einen ersten Artikel zur Verteidigung Kafkas. Im April griff der Kongress der slowakischen Schriftsteller den Ball auf, und im Mai 1963 fand in Prag eine internationale Kafka- Konferenz statt. Seine Schriften wurden verbreitet, um das bürokratische Regime zu kritisieren.
Wieder antwortete dieses mit Repression. Eine heftige Kampagne gegen die Intelligenz wurde in Gang gesetzt, einige Publikationen verboten. Schließlich wurde am 1.Januar 1967 ein schärferes Zensurgesetz verkündet. Die Folge war, dass die Intellektuellen sich radikalisierten und mit den Liberalen in der Parteiführung vereinigten.
Auf dem 4.Kongress des Schriftstellerverbands im Juni 1967 mischten sich bereits kulturelle und politische Debatten. Die Zensur wurde angegriffen, ein Brief Alexander Solshenizyns an den sowjetischen Schriftstellerverband (der an dessen Mitglieder nicht verteilt worden war) verlesen, vor allem aber nahmen die Vorwürfe gegen Novotny und seine Umgebung zu. Dieser reagierte auf die bekannte Art. Die neue Leitung des Schriftstellerverbands wurde von der Partei nicht anerkannt, die Zeitschrift Literární Noviny dem Verband entzogen, prominente Intellektuelle wie L.Vaculik, A.Liehm und P.Klima aus der Partei ausgeschlossen. Die Presse führte eine heftige Kampagne gegen den Schriftstellerverband, machte auf diese Weise aber nur bekannt, was auf dem Kongress geschehen war.
Entgegen dem Augenschein war die Novotny-Führung in der Defensive. Sie hatte keine Antwort auf die Reformer, nur die Repression. Liberale und Konservative standen sich im ZK nun offen gegenüber. Der Wortführer der ersteren, Alexander Dubcek (Parteichef in der Slowakei), stellte die persönliche Machtfülle Novotnys in Frage — dieser war zugleich Erster Sekretär der Partei und Staatspräsident. Das ZK-Plenum behandelte das Problem im Dezember 1967 und im Januar 1968. Doch die Hauptfrage blieb die Wirtschaftsreform und der Kampf um die Parteiführung. Angesichts der heftigen Angriffe stellte Novotny seinen Posten als Parteichef zur Verfügung, in der Hoffnung, mit diesem taktischen Schritt eine Mehrheit von Konservativen um sich zu scharen.
Das Manöver scheiterte. Am 5.Januar 1968 akzeptierte das ZK den Rücktritt Novotnys und wählte Dubcek an die Spitze der Partei. Novotny blieb Staatspräsident und seine Anhänger in den Führungsgremien der KSC waren sehr zahlreich. Der Ausgang des Plenums ließ nicht erwarten, was sich im Verlauf der kommenden Monate abspielen sollte. Noch handelte es sich um eine Palastrevolution.

Januar—April 1968

Die neue Führung der KSC hatte nicht vor, sofort radikale Änderungen einzuführen. Sie wollte das Land nach und nach und von innen heraus verändern und die Intellektuellen dafür einsetzen, um den konservativen Apparat durchzurütteln. Am Ende dieses graduellen Prozesses sollte ein Parteitag Ende 1969 oder Anfang 1970 die vorgenommenen Änderungen institutionell verankern. In Übereinstimmung mit ihrer Linie musste sie jedoch eine Debatte über die Probleme des Landes eröffnen.
Die Reformkräfte des Schriftstellerverbands wurden wieder in die Partei aufgenommen, der Verband erhielt sein Wochenblatt zurück, das sich unter neuem Namen, Literární Listy, an die Spitze der Debatte stellte und Anfang März 1968 eine verkaufte Auflage von einer halben Million hatte. Presse, Radio und Fernsehen machten sich zu Wortführern der Fragen, Ängste und Hoffnungen der Bevölkerung.
Die fortgesetzte Präsenz Novotnys und seiner Anhänger in den Führungsorganen der Partei nährten Ängste, die Erklärungen Dubceks dagegen Hoffnungen. Gegen ihren Willen musste die Reformführung den Konservativen die Stirn bieten. Die Debatte über die Verantwortung der Konservativen ließ sich nicht mehr aufhalten. Die Bevölkerung war indes schon weiter: Sie forderte auf Parteiversammlungen den Rücktritt Novotnys und seiner Anhänger.
Alle Bereiche der Gesellschaft wurden vom Sog ergriffen: Die Gewerkschaften forderten die Verwirklichung des Streikrechts; die Studierenden schufen ein unabhängiges Studentenparlament; es bildeten sich Keimformen politischer Parteien und Clubs ... sogar die Zensoren sprachen sich für die Abschaffung der Zensur aus! Am 21.März 1968 kapitulierte Novotny vor dem Druck der Massen und trat als Staatspräsident zurück. Er wurde durch Svoboda ersetzt.
Dubcek und seine Freunde waren sich sehr wohl bewusst, dass die Probleme mit dem Rücktritt Novotnys nicht erledigt waren. Die Dynamik der Massenbewegung überschritt die Grenzen, die die neue Parteiführung gesetzt hatte. Sie barg die Gefahr, den Plan einer graduellen Veränderung von Partei und Gesellschaft von oben in Frage zu stellen. Viele in der Partei und in den Massenorganisationen forderten eine „Institutionalisierung” der Reformpolitik durch einen außerordentlichen Parteitag.

Druck der Massenbewegung

Auf dem April-Plenum des ZK wandte sich Dubcek an zwei verschiedene Adressaten: an ein zögerliches ZK und an eine öffentliche Meinung, die ihm weit vorausgeeilt war. Ersteres beruhigt er, indem er den Vorschlag eines außerordentlichen Parteitags zurückwies; Letztere versuchte er zu beruhigen, indem er bekannte Liberale auf wichtige Posten berief: Frantisek Kriegel an die Spitze der Nationalen Front, Josef Smrkovsky in den Vorsitz der Nationalversammlung und Oldrich Cerník auf den Posten des Ministerpräsidenten. Darüber hinaus ließ er ein Aktionsprogramm verabschieden.
Dieser Kompromiss stellte niemanden zufrieden. Die Konservativen blockierten das (moderate) Aktionsprogramm; die Intellektuellen und die Bevölkerung verstärkten den Druck für einen außerordentlichen Parteitag. Die Bildung der Regierung Cernik war jedoch keine formelle Geste. Sie beschloss weitgehende Liberalisierungen: ein Gesetz über Versammlungs- und Vereinsfreiheit, Presse- und Reisefreiheit; die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer des Stalinismus; die Unabhängigkeit der Gerichte; die präzise Abgrenzung der Kompetenzen des Innenministeriums; ein Gesetz über die Arbeiterräte.
Nach dem Januar tauchten Widersprüche auch innerhalb der Führung auf. Gegenüber der Blockade der Konservativen nahm die Gruppe um Josef Smrkovsky und Cestmír Císar (ab April Vorsitzender des tschechischen Nationalrats) radikalere Positionen ein, die auf ein wachsendes Echo in der Arbeiterklasse trafen.
Ende April forderten die regionalen Parteikonferenzen vielfach die Einberufung eines außerordentlichen Parteitags. In dieser Frage kam es schließlich zu einer unfreiwilligen Allianz zwischen Konservativen und Progressiven. Auf dem ZK-Plenum Ende Mai versuchte Dubcek noch, Zeit zu gewinnen. Novotny aber verstärkte seine Angriffe, und das ZK schloss ihn aus der Partei aus. Nun waren auch seine Anhänger für eine rasche Einberufung des Parteitags. Er sollte Anfang September abgehalten werden.

(Übersetzung aus dem Französischen: Hans-Günter Mull; die weiteren Ereignisse werden in einer späteren Ausgabe der SoZ dargestellt.)


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