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Am 15.Februar 2008 sollte der Würzburger Juraprofessor Horst Dreier als
SPD-Kandidat zum Vorsitzenden Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts gewählt werden.
Mit seiner Wahl wäre er Vizepräsident des Obersten Gerichts in der Bundesrepublik und nach
zweijähriger Amtszeit dessen Präsident geworden. Seine Wahl wurde jedoch wenige Tage vor dem
15.Februar auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Grund: Dreier plädiert für eine Aufweichung des
Folterverbots.
FREDRIK ROGGAN ist stellvertretender
Vorsitzender der Humanistischen Union. Er arbeitet als Strafverteidiger in Berlin und hat zahlreiche
Bücher über staatliche Überwachung und den Abbau der Grundrechte veröffentlicht. Unter
anderem gab er das Handbuch zum Recht der inneren Sicherheit heraus. Für die SoZ sprach Anja
Köhler mit Fredrik Roggan.
Horst Dreier ist ein sehr renommierter Rechtswissenschaftler aus Würzburg, der unter anderem
den berühmten Dreier-Kommentar herausgibt. Seine Wahl zum Vorsitzenden Richter beim BVG wurde auf
unbestimmte Zeit verschoben, weil er sehr umstrittene Positionen zum Schutz der Menschenwürde
vertritt, insbesondere zum Folterverbot und zur Menschenwürde embryonaler Stammzellen. Die Debatte
über das Folterverbot ist aber nicht neu, sondern wird in Politik und Rechtswissenschaften schon
einige Zeit geführt. Wie kommt es, dass sie nun ausgerechnet an der Person von Horst Dreier
hochkocht?
Vielleicht wird die Folterdebatte instrumentalisiert. Möglicherweise wurde Horst Dreier von der
CDU wegen seiner Positionen zur Menschenwürde befruchteter Eizellen abgelehnt, und es ging gar nicht
in erster Linie um das Folterverbot.
Ist es nicht sehr verlogen von der CDU, Horst Dreier wegen seiner Äußerungen zum
Folterverbot nicht zu wählen? Gerade aus der CDU gibt es doch Stimmen, die ein noch viel
weitergehendes Aufweichen des Folterverbots fordern als Horst Dreier dies tut...
Wie gesagt, möglicherweise war eine Motivation für die CDU Dreiers Meinung zur
Menschenwürde embryonaler Stammzellen. Was natürlich nichts damit zu tun hat, dass seine Meinung
zur Aufweichung des Folterverbots nicht aus bürgerrechtlicher Sicht abzulehnen ist. Dreiers
Ausführungen in seinem Kommentar diesbezüglich sind sehr problematisch.
Wie leitet sich das Folterverbot denn grundrechtsdogmatisch her?
Das Folterverbot wird aus Art.104 GG hergeleitet. In diesem Artikel wird festgeschrieben, dass
Gefangene weder seelisch noch körperlich misshandelt werden dürfen. Eigentlich aber ergibt sich
das Folterverbot bereits aus Art.1 GG, der Würde des Menschen.
Wie argumentieren die Befürworter einer Aufweichung des Folterverbots?
Das ist unterschiedlich. Horst Dreier argumentiert mit dem Konstrukt der
„Würdekollision” Seiner Meinung nach kollidieren in bestimmten Fallkonstellationen
staatliche Schutzpflichten und Abwehrrechte gegen den Staat. Der Staat darf also einerseits die Würde
des Einzelnen nicht verletzten, andererseits käme er dann aber seinen Schutzpflichten für die
Würde eines anderen Menschen nicht nach. Ihm bliebe somit nur noch die Möglichkeit, die
Würde des Opfers gegen die Würde des Täters abzuwiegen. Man solle so Dreier
die Übergesetzlichkeit dieser Kollision akzeptieren und dem Staat im Einzelfall die Entscheidung
überlassen. Andere, wie Matthias Herdegen, gehen von einem unantastbaren Kernbereich der
Menschenwürde und einem Abwägungsbereich, in den gegebenenfalls eingegriffen werden dürfe,
aus.
Aber würde Folter nicht immer in den Kernbereich eingreifen?
Die Menschenwürde unterteilt sich nicht in einen Kernbereich und einen Abwägungsbereich. Sie
darf niemals mit anderen Rechtsgütern abgewogen werden. Es gibt in Bezug auf den Grundsatz der
Menschenwürde also keinen Abwägungsbereich. Die Menschenwürde des Einen darf auch nicht
gegen die Menschenwürde des Anderen abgewogen werden.
Außerdem besitzt ja jeder Mensch allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Spezies Mensch
eine Menschenwürde. Das ist bei allen Menschen gleich.
Ja, Menschenwürde darf auf keinen Fall gegen Menschenwürde oder Leben gegen Leben abgewogen
werden. Das Bundesverfassungsgericht hat das in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz noch einmal
ausdrücklich herausgestellt.
Ist es überhaupt zulässig, die Schutzpflichten des Staates gegenüber der
Menschenwürde eines Bürgers, die von einem anderen Bürger verletzt oder vermeintlich
verletzt wird, gleich zu gewichten wie die Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat? Immerhin sind die
Grundrechte ja historisch als Abwehrrechte gegen den Staat entstanden...
Die Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat. Und gerade die Menschenwürde als Abwehrrecht
ist einer Relativierung nicht zugänglich.
Dem Folterverbot kommt aus historischen Gründen ebenfalls ein besonderer Stellenwert im
Grundgesetz zu. Der Verfassungsgesetzgeber hat es in Art.104 GG noch einmal ausdrücklich
herausgestellt, obwohl er in Art.2 GG bereits das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
normiert hat.
Beide Artikel normieren eigentlich dasselbe. Art.104 GG wiederholt den Schutzbereich von Art.2 und
Art.1 GG nur noch einmal. Aber natürlich sind Abwehrrechte gerade für Gefangene wichtig. Es gibt
hinter Gittern keinen geringeren Grundrechtsschutz als außerhalb und darf ihn auch nicht geben.
Ist es nicht so, dass alle Folterstaaten die Folter öffentlich begründen? Zum Beispiel
damit, dass der Gefolterte ein gefährlicher Terrorist sei und man nur durch Folter Anschlagspläne
aufdecken könne?
Nein. Folterstaaten begründen die Folter nicht stets so differenziert, wie dies hierzulande
geschieht. Nichtsdestotrotz muss die Berechtigung des absoluten Folterverbots auf jeden Fall
aufrechterhalten werden. Auch wenn durch Folter Leben gerettet werden könnte. Andere Staaten erliegen
der Versuchung, Folter in diesen Fällen gutzuheißen und durchzuführen, vielleicht leichter.
Man darf dieser Versuchung aber nicht einmal im Ansatz nachgeben.
Würde die Legalisierung von Folter im Einzelfall eine allgemeine Legalisierung von Folter
bedeuten?
Dreier, Herdegen und andere Rechtswissenschaftler, die für eine Aufweichung des Folterverbots
plädieren, würden dies sicher weit von sich weisen. De facto ist es jedoch so, dass die
Institutionalisierung von Folter eine Dynamik in Gang setzen würde, die von den Staatsrechtlern, die
ihr die Tür geöffnet haben, gar nicht mehr aufgehalten werden könnte. Das ist das sogenannte
Dammbruchargument.
Die Debatte für eine Aufweichung des absoluten Folterverbots wird an emotional sehr
aufgeladenen Fällen hochgezogen, wie die Kindesentführung im Fall Daschner oder
Bombenanschläge in der U-Bahn. Werden solche Fälle von Kreisen, die eine Aufweichung des
Folterverbots befürworten, gezielt in den Medien lanciert?
Ehrlich gesagt begebe ich mich ungern in die Sphäre von Spekulationen. Im Polizeiapparat gibt es
sicher Leute, wie Daschner, die Folter in Ausnahmefällen gutheißen. Ob man darin eine geplante,
durchdachte Strategie sehen kann, daran habe ich meine Zweifel.
Was sagen Sie Menschen, die mit der Begründung, dass Rechtsnormen notwendig abstrakt und
daher in Einzelfällen auch ungerecht sind, für eine Aufweichung des Folterverbots
plädieren?
Das ist eine Frage der Qualität des Rechts und des Rechtsverständnisses. Im Rechtsstaat gilt
das gleiche Recht für alle. Verbote sind also notwendig abstrakt und werden dann auf die
Einzelfälle angewendet. Daher ist eine gefühlte Einzelfallungerechtigkeit im Rechtsstaat
unvermeidbar. Ein Gerechtigkeitsempfinden, das allein auf den Einzelfall abzielt, kann nur bedeuten, dass
das Recht im Einzelfall gebrochen wird. Ein Recht, das nicht mehr für alle gleichermaßen gilt,
muss aber schlecht sein. Die Qualität des Rechts bewährt sich also erst dadurch, dass es nicht
auf den Einzelfall zugeschnitten, im Generellen aber richtig ist.
Welche Auswirkungen wird die Verschiebung der Wahl von Horst Dreier auf die Debatte über das
Folterverbot haben?
Vor allem sind die Konsequenzen für das Ansehen des Bundesverfassungsgericht zu gewärtigen.
Von den Folgen für den Ruf von Herrn Dreier, sofern dieser seine Kandidatur nicht umgehend
zurückzieht, mal ganz zu schweigen.
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