SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2008, Seite 05

"Menschenwürde kann nicht gewogen werden"

Fredrik Roggan über den „Fall Dreier” und die Aufweichung des Folterverbots

Am 15.Februar 2008 sollte der Würzburger Juraprofessor Horst Dreier als SPD-Kandidat zum Vorsitzenden Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts gewählt werden. Mit seiner Wahl wäre er Vizepräsident des Obersten Gerichts in der Bundesrepublik und nach zweijähriger Amtszeit dessen Präsident geworden. Seine Wahl wurde jedoch wenige Tage vor dem 15.Februar auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Grund: Dreier plädiert für eine Aufweichung des Folterverbots.
FREDRIK ROGGAN ist stellvertretender Vorsitzender der Humanistischen Union. Er arbeitet als Strafverteidiger in Berlin und hat zahlreiche Bücher über staatliche Überwachung und den Abbau der Grundrechte veröffentlicht. Unter anderem gab er das Handbuch zum Recht der inneren Sicherheit heraus. Für die SoZ sprach Anja Köhler mit Fredrik Roggan.

Horst Dreier ist ein sehr renommierter Rechtswissenschaftler aus Würzburg, der unter anderem den berühmten Dreier-Kommentar herausgibt. Seine Wahl zum Vorsitzenden Richter beim BVG wurde auf unbestimmte Zeit verschoben, weil er sehr umstrittene Positionen zum Schutz der Menschenwürde vertritt, insbesondere zum Folterverbot und zur Menschenwürde embryonaler Stammzellen. Die Debatte über das Folterverbot ist aber nicht neu, sondern wird in Politik und Rechtswissenschaften schon einige Zeit geführt. Wie kommt es, dass sie nun ausgerechnet an der Person von Horst Dreier hochkocht?

Vielleicht wird die Folterdebatte instrumentalisiert. Möglicherweise wurde Horst Dreier von der CDU wegen seiner Positionen zur Menschenwürde befruchteter Eizellen abgelehnt, und es ging gar nicht in erster Linie um das Folterverbot.

Ist es nicht sehr verlogen von der CDU, Horst Dreier wegen seiner Äußerungen zum Folterverbot nicht zu wählen? Gerade aus der CDU gibt es doch Stimmen, die ein noch viel weitergehendes Aufweichen des Folterverbots fordern als Horst Dreier dies tut...

Wie gesagt, möglicherweise war eine Motivation für die CDU Dreiers Meinung zur Menschenwürde embryonaler Stammzellen. Was natürlich nichts damit zu tun hat, dass seine Meinung zur Aufweichung des Folterverbots nicht aus bürgerrechtlicher Sicht abzulehnen ist. Dreiers Ausführungen in seinem Kommentar diesbezüglich sind sehr problematisch.

Wie leitet sich das Folterverbot denn grundrechtsdogmatisch her?

Das Folterverbot wird aus Art.104 GG hergeleitet. In diesem Artikel wird festgeschrieben, dass Gefangene weder seelisch noch körperlich misshandelt werden dürfen. Eigentlich aber ergibt sich das Folterverbot bereits aus Art.1 GG, der Würde des Menschen.

Wie argumentieren die Befürworter einer Aufweichung des Folterverbots?

Das ist unterschiedlich. Horst Dreier argumentiert mit dem Konstrukt der „Würdekollision” Seiner Meinung nach kollidieren in bestimmten Fallkonstellationen staatliche Schutzpflichten und Abwehrrechte gegen den Staat. Der Staat darf also einerseits die Würde des Einzelnen nicht verletzten, andererseits käme er dann aber seinen Schutzpflichten für die Würde eines anderen Menschen nicht nach. Ihm bliebe somit nur noch die Möglichkeit, die Würde des Opfers gegen die Würde des Täters abzuwiegen. Man solle — so Dreier — die Übergesetzlichkeit dieser Kollision akzeptieren und dem Staat im Einzelfall die Entscheidung überlassen. Andere, wie Matthias Herdegen, gehen von einem unantastbaren Kernbereich der Menschenwürde und einem Abwägungsbereich, in den gegebenenfalls eingegriffen werden dürfe, aus.

Aber würde Folter nicht immer in den Kernbereich eingreifen?

Die Menschenwürde unterteilt sich nicht in einen Kernbereich und einen Abwägungsbereich. Sie darf niemals mit anderen Rechtsgütern abgewogen werden. Es gibt in Bezug auf den Grundsatz der Menschenwürde also keinen Abwägungsbereich. Die Menschenwürde des Einen darf auch nicht gegen die Menschenwürde des Anderen abgewogen werden.

Außerdem besitzt ja jeder Mensch allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Spezies Mensch eine Menschenwürde. Das ist bei allen Menschen gleich.

Ja, Menschenwürde darf auf keinen Fall gegen Menschenwürde oder Leben gegen Leben abgewogen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat das in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz noch einmal ausdrücklich herausgestellt.

Ist es überhaupt zulässig, die Schutzpflichten des Staates gegenüber der Menschenwürde eines Bürgers, die von einem anderen Bürger verletzt oder vermeintlich verletzt wird, gleich zu gewichten wie die Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat? Immerhin sind die Grundrechte ja historisch als Abwehrrechte gegen den Staat entstanden...

Die Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat. Und gerade die Menschenwürde als Abwehrrecht ist einer Relativierung nicht zugänglich.

Dem Folterverbot kommt aus historischen Gründen ebenfalls ein besonderer Stellenwert im Grundgesetz zu. Der Verfassungsgesetzgeber hat es in Art.104 GG noch einmal ausdrücklich herausgestellt, obwohl er in Art.2 GG bereits das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit normiert hat.

Beide Artikel normieren eigentlich dasselbe. Art.104 GG wiederholt den Schutzbereich von Art.2 und Art.1 GG nur noch einmal. Aber natürlich sind Abwehrrechte gerade für Gefangene wichtig. Es gibt hinter Gittern keinen geringeren Grundrechtsschutz als außerhalb und darf ihn auch nicht geben.

Ist es nicht so, dass alle Folterstaaten die Folter öffentlich begründen? Zum Beispiel damit, dass der Gefolterte ein gefährlicher Terrorist sei und man nur durch Folter Anschlagspläne aufdecken könne?

Nein. Folterstaaten begründen die Folter nicht stets so differenziert, wie dies hierzulande geschieht. Nichtsdestotrotz muss die Berechtigung des absoluten Folterverbots auf jeden Fall aufrechterhalten werden. Auch wenn durch Folter Leben gerettet werden könnte. Andere Staaten erliegen der Versuchung, Folter in diesen Fällen gutzuheißen und durchzuführen, vielleicht leichter. Man darf dieser Versuchung aber nicht einmal im Ansatz nachgeben.

Würde die Legalisierung von Folter im Einzelfall eine allgemeine Legalisierung von Folter bedeuten?

Dreier, Herdegen und andere Rechtswissenschaftler, die für eine Aufweichung des Folterverbots plädieren, würden dies sicher weit von sich weisen. De facto ist es jedoch so, dass die Institutionalisierung von Folter eine Dynamik in Gang setzen würde, die von den Staatsrechtlern, die ihr die Tür geöffnet haben, gar nicht mehr aufgehalten werden könnte. Das ist das sogenannte Dammbruchargument.

Die Debatte für eine Aufweichung des absoluten Folterverbots wird an emotional sehr aufgeladenen Fällen hochgezogen, wie die Kindesentführung im Fall Daschner oder Bombenanschläge in der U-Bahn. Werden solche Fälle von Kreisen, die eine Aufweichung des Folterverbots befürworten, gezielt in den Medien lanciert?

Ehrlich gesagt begebe ich mich ungern in die Sphäre von Spekulationen. Im Polizeiapparat gibt es sicher Leute, wie Daschner, die Folter in Ausnahmefällen gutheißen. Ob man darin eine geplante, durchdachte Strategie sehen kann, daran habe ich meine Zweifel.

Was sagen Sie Menschen, die mit der Begründung, dass Rechtsnormen notwendig abstrakt — und daher in Einzelfällen auch ungerecht — sind, für eine Aufweichung des Folterverbots plädieren?

Das ist eine Frage der Qualität des Rechts und des Rechtsverständnisses. Im Rechtsstaat gilt das gleiche Recht für alle. Verbote sind also notwendig abstrakt und werden dann auf die Einzelfälle angewendet. Daher ist eine gefühlte Einzelfallungerechtigkeit im Rechtsstaat unvermeidbar. Ein Gerechtigkeitsempfinden, das allein auf den Einzelfall abzielt, kann nur bedeuten, dass das Recht im Einzelfall gebrochen wird. Ein Recht, das nicht mehr für alle gleichermaßen gilt, muss aber schlecht sein. Die Qualität des Rechts bewährt sich also erst dadurch, dass es nicht auf den Einzelfall zugeschnitten, im Generellen aber richtig ist.

Welche Auswirkungen wird die Verschiebung der Wahl von Horst Dreier auf die Debatte über das Folterverbot haben?

Vor allem sind die Konsequenzen für das Ansehen des Bundesverfassungsgericht zu gewärtigen. Von den Folgen für den Ruf von Herrn Dreier, sofern dieser seine Kandidatur nicht umgehend zurückzieht, mal ganz zu schweigen.


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