SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2008, Seite 08

Campus Rütli

Schule geht auch anders - In Berlin probt eine Hauptschule einen Modellversuch

von Anja Köhler

2006 baten die Lehrer der Hauptschule Rütli in Berlin-Neukölln um die Schließung der Schule. Die Zustände dort waren so katastrophal, dass ein geregelter Unterricht nicht mehr möglich war. Eine fieberhafte Suche nach Lösungen setzte ein — herausgekommen ist „Campus Rütli”, ein vielversprechender Modellversuch.
Neukölln ist einer der ärmsten Stadtteile Berlins. Hier gibt es die höchste Arbeitslosenquote, das niedrigste Durchschnittseinkommen und den höchsten Anteil von Hartz-IV-Empfängern. Drei von vier Kindern leben in Armut, viele Kinder haben einen Migrationshintergrund. Es überrascht nicht, dass ein Schulsystem, das Kinder aus sozial schwachen Familien und Migrantenkinder massiv benachteiligt, in diesem Stadtteil besonders grausame Folgen zeitigt und die Situation hier als erste aus dem Ruder lief. Die geballte Chancenlosigkeit bündelte sich an der Rütli-Schule: 2004 bekam kein einziger Schulabgänger eine Lehrstelle.
Dreh- und Angelpunkt der Diskriminierung ist die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems. Während gut geförderte Akademikerkinder ab der 5. bzw. 7.Klasse das Gymnasium besuchen, landen problembeladene Kinder aus zerrütteten Elternhäusern und armen Familien meist in der Hauptschule. Diese Zuteilung signalisiert den Kindern, dass sie Verlierer sind. Lernen macht keinen Sinn und widerspricht dem von der Gesellschaft übergestülpten Selbstbild: „Du bist doof und wirst nach der Schule ohnehin keine Arbeit finden."
Die wichtigste Neuerung von Campus Rütli ist deshalb die Aufweichung der Dreigliedrigkeit. Die Rütli-Schule wird mit der im selben Gebäude untergebrachten Heinrich-Heine-Realschule fusionieren, eine Kooperation mit dem nahegelegenen Albert-Schweitzer-Gymnasium soll den Jugendlichen einen späteren Wechsel erleichtern. Zusätzliche Synergieeffekte werden durch die Einbeziehung zweier Kindergärten, der Franz-Schubert-Grundschule sowie einer noch zu errichtenden Grundschule in das Projekt bewirkt.
Die Integration der verschiedenen Schulen soll die Übergänge von einer Bildungseinrichtung in die nächste ebnen, den pädagogischen Austausch erleichtern und die Chance eröffnen, Kinder systematisch und durchgängig zu fördern. Mindestens bis zum Ende der 10.Klasse sollen Real- und Hauptschüler gemeinsam lernen. Davon profitieren nicht nur die „schwachen” Schüler: auch die „starken” Schüler erzielen einen Lernzuwachs, wenn sie das Gelernte „schwachen” Schülern noch einmal erklären. Sie erwerben soziale Kompetenzen und gewinnen ein realistischeres Selbst- und Weltbild.
Vorbild für die geplante Gemeinschaftsschule ist übrigens das finnische Schulwesen, das sich die Skandinavier Anfang der 70er Jahre von der DDR abguckten.

Vorbereitung auf das Berufsleben

Ein weiterer Schwerpunkt von Campus Rütli ist die Berufsorientierung, denn „für einen jungen Menschen, dessen Eltern, solange er denken kann, arbeitslos waren, ist es sehr schwer, sich ein Berufsleben überhaupt vorzustellen”, sagt Klaus Lehnert, pädagogischer Koordinator des Projekts. Campus Rütli arbeitet deshalb mit lokalen Handwerksbetrieben, Berliner Firmen, dem öffentlichen Dienst und der Bahn zusammen. Die Jugendlichen sollen verschiedene Berufe kennenlernen, herausfinden, welcher Beruf zu ihnen passt und realistische Vorstellungen entwickeln, wie sie ihren Berufswunsch umsetzen können.
Die Verbindung von Schule und Arbeitswelt soll sich auf den Unterricht auswirken, der oftmals abstrakte und weltfremde Schulstoff einen praktischen Nutzen gewinnen. Der Unterricht in Arbeitslehre soll partiell in Handwerksbetrieben unter Einbeziehung des jeweiligen Handwerksmeisters abgehalten werden. Über Praktika sollen Lehrstellen vermittelt werden. All das soll die Chancen der Jugendlichen erhöhen. Es schafft aber weder die Ausbildungsplatzknappheit noch die Arbeitslosigkeit aus der Welt. Hier stößt Schule unabdingbar an ihre Grenzen. Trotzdem ist eine solche Berufsfeldorientierung wichtig und positiv.

Die Eltern

Ein weiteres Ziel des Projekts Campus Rütli ist eine verbesserte Elternarbeit. Interessierte Eltern erhalten auf dem Campus eine Anlaufstelle. Gerade Migranten kennen das deutsche Bildungssystem häufig nicht, sind Behördenentscheidungen ausgeliefert und können sich wegen mangelnder Sprachkenntnisse nur schwer Hilfe organisieren. Die Anlaufstelle soll Eltern Orientierung und pädagogisches Wissen vermitteln und die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule verstärken. Die Volkshochschule Neukölln zieht auf den Campus um und unterbreitet den Erwachsenen weitreichende Bildungsangebote. Diese kommen auf dem Umweg über die Eltern wieder den Kindern zugute.
Um die Lösung familiärer Probleme bemüht sich ein sozialpädagogische Dienst, der ebenfalls auf dem Campus angesiedelt wird. Ihm obliegt auch die Aufgabe, weniger behütete Kinder aufzufangen und familiäre Defizite auszugleichen.
Zudem kümmert sich der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst um die medizinische Versorgung vor allem der Vorschulkinder. Die Ansiedlung einer medizinischen Betreuung auf dem Campus soll dazu beitragen, Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen im Elternhaus professioneller entgegentreten zu können. Er bietet darüber hinaus eine Schwangeren- und Mütterberatung an. Ziel ist es, schon die werdenden und jungen Eltern ins soziale und pädagogische Netz einzubinden.
Durch das Projekt wird die Rütli- Schule zu einer Ganztagsschule, die Schülerinnen und Schülern am Nachmittag eine sinnvolle Freizeitgestaltung ermöglicht. Der Campus umfasst Sport- und Freizeitstätten und einen Jugendklub, auch die Musikschule wird ihren Sitz auf den Campus verlagern. Sie möchte die Kinder anleiten, ihr kreatives Potenzial zu entwickeln, ihrer kulturellen Identität Ausdruck zu verleihen und Aggressionen abzubauen.
In der Rütli-Straße wird damit der Versuch unternommen, auf einem 41000 Quadratmeter großen Areal durch Vernetzung und Koordinierung von Kompetenzen neue Bildungschancen anzubieten.


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