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2006 baten
die Lehrer der Hauptschule Rütli in Berlin-Neukölln um die Schließung der Schule. Die
Zustände dort waren so katastrophal, dass ein geregelter Unterricht nicht mehr möglich war. Eine
fieberhafte Suche nach Lösungen setzte ein herausgekommen ist „Campus Rütli”,
ein vielversprechender Modellversuch.
Neukölln ist einer der ärmsten
Stadtteile Berlins. Hier gibt es die höchste Arbeitslosenquote, das niedrigste Durchschnittseinkommen
und den höchsten Anteil von Hartz-IV-Empfängern. Drei von vier Kindern leben in Armut, viele
Kinder haben einen Migrationshintergrund. Es überrascht nicht, dass ein Schulsystem, das Kinder aus
sozial schwachen Familien und Migrantenkinder massiv benachteiligt, in diesem Stadtteil besonders grausame
Folgen zeitigt und die Situation hier als erste aus dem Ruder lief. Die geballte Chancenlosigkeit
bündelte sich an der Rütli-Schule: 2004 bekam kein einziger Schulabgänger eine Lehrstelle.
Dreh- und Angelpunkt der Diskriminierung
ist die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems. Während gut geförderte Akademikerkinder ab
der 5. bzw. 7.Klasse das Gymnasium besuchen, landen problembeladene Kinder aus zerrütteten
Elternhäusern und armen Familien meist in der Hauptschule. Diese Zuteilung signalisiert den Kindern,
dass sie Verlierer sind. Lernen macht keinen Sinn und widerspricht dem von der Gesellschaft
übergestülpten Selbstbild: „Du bist doof und wirst nach der Schule ohnehin keine Arbeit
finden."
Die wichtigste Neuerung von Campus
Rütli ist deshalb die Aufweichung der Dreigliedrigkeit. Die Rütli-Schule wird mit der im selben
Gebäude untergebrachten Heinrich-Heine-Realschule fusionieren, eine Kooperation mit dem nahegelegenen
Albert-Schweitzer-Gymnasium soll den Jugendlichen einen späteren Wechsel erleichtern. Zusätzliche
Synergieeffekte werden durch die Einbeziehung zweier Kindergärten, der Franz-Schubert-Grundschule
sowie einer noch zu errichtenden Grundschule in das Projekt bewirkt.
Die Integration der verschiedenen Schulen
soll die Übergänge von einer Bildungseinrichtung in die nächste ebnen, den
pädagogischen Austausch erleichtern und die Chance eröffnen, Kinder systematisch und
durchgängig zu fördern. Mindestens bis zum Ende der 10.Klasse sollen Real- und Hauptschüler
gemeinsam lernen. Davon profitieren nicht nur die „schwachen” Schüler: auch die
„starken” Schüler erzielen einen Lernzuwachs, wenn sie das Gelernte
„schwachen” Schülern noch einmal erklären. Sie erwerben soziale Kompetenzen und
gewinnen ein realistischeres Selbst- und Weltbild.
Vorbild für die geplante
Gemeinschaftsschule ist übrigens das finnische Schulwesen, das sich die Skandinavier Anfang der 70er
Jahre von der DDR abguckten.
Ein weiterer Schwerpunkt von Campus Rütli ist die Berufsorientierung, denn „für einen
jungen Menschen, dessen Eltern, solange er denken kann, arbeitslos waren, ist es sehr schwer, sich ein
Berufsleben überhaupt vorzustellen”, sagt Klaus Lehnert, pädagogischer Koordinator des
Projekts. Campus Rütli arbeitet deshalb mit lokalen Handwerksbetrieben, Berliner Firmen, dem
öffentlichen Dienst und der Bahn zusammen. Die Jugendlichen sollen verschiedene Berufe kennenlernen,
herausfinden, welcher Beruf zu ihnen passt und realistische Vorstellungen entwickeln, wie sie ihren
Berufswunsch umsetzen können.
Die Verbindung von Schule und Arbeitswelt
soll sich auf den Unterricht auswirken, der oftmals abstrakte und weltfremde Schulstoff einen praktischen
Nutzen gewinnen. Der Unterricht in Arbeitslehre soll partiell in Handwerksbetrieben unter Einbeziehung des
jeweiligen Handwerksmeisters abgehalten werden. Über Praktika sollen Lehrstellen vermittelt werden.
All das soll die Chancen der Jugendlichen erhöhen. Es schafft aber weder die Ausbildungsplatzknappheit
noch die Arbeitslosigkeit aus der Welt. Hier stößt Schule unabdingbar an ihre Grenzen. Trotzdem
ist eine solche Berufsfeldorientierung wichtig und positiv.
Ein weiteres Ziel des Projekts Campus Rütli ist eine verbesserte Elternarbeit. Interessierte Eltern
erhalten auf dem Campus eine Anlaufstelle. Gerade Migranten kennen das deutsche Bildungssystem häufig
nicht, sind Behördenentscheidungen ausgeliefert und können sich wegen mangelnder Sprachkenntnisse
nur schwer Hilfe organisieren. Die Anlaufstelle soll Eltern Orientierung und pädagogisches Wissen
vermitteln und die Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule verstärken. Die Volkshochschule
Neukölln zieht auf den Campus um und unterbreitet den Erwachsenen weitreichende Bildungsangebote.
Diese kommen auf dem Umweg über die Eltern wieder den Kindern zugute.
Um die Lösung familiärer Probleme
bemüht sich ein sozialpädagogische Dienst, der ebenfalls auf dem Campus angesiedelt wird. Ihm
obliegt auch die Aufgabe, weniger behütete Kinder aufzufangen und familiäre Defizite
auszugleichen.
Zudem kümmert sich der Kinder- und
Jugendgesundheitsdienst um die medizinische Versorgung vor allem der Vorschulkinder. Die Ansiedlung einer
medizinischen Betreuung auf dem Campus soll dazu beitragen, Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen im
Elternhaus professioneller entgegentreten zu können. Er bietet darüber hinaus eine Schwangeren-
und Mütterberatung an. Ziel ist es, schon die werdenden und jungen Eltern ins soziale und
pädagogische Netz einzubinden.
Durch das Projekt wird die Rütli-
Schule zu einer Ganztagsschule, die Schülerinnen und Schülern am Nachmittag eine sinnvolle
Freizeitgestaltung ermöglicht. Der Campus umfasst Sport- und Freizeitstätten und einen
Jugendklub, auch die Musikschule wird ihren Sitz auf den Campus verlagern. Sie möchte die Kinder
anleiten, ihr kreatives Potenzial zu entwickeln, ihrer kulturellen Identität Ausdruck zu verleihen und
Aggressionen abzubauen.
In der Rütli-Straße wird damit
der Versuch unternommen, auf einem 41000 Quadratmeter großen Areal durch Vernetzung und Koordinierung
von Kompetenzen neue Bildungschancen anzubieten.
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