SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2008, Seite 11

China: Arbeit und Widerstand im „Ewigen Glück"

Wanderarbeiterinnen in der chinesischen Exportproduktion

von Christa Wichterich

Trotz anhaltender Repression wächst im chinesischen Perlflussdelta der Widerstand der Arbeiterinnen. Arbeiterzentren bilden sich als Gegenpol zu den offiziellen Gewerkschaften, trotz brutaler Gewalt wagt man den Schritt an die internationale Öffentlichkeit.
In der Zulieferfirma von Mattel in Shenzhens Stadtteil Fuyong, was „ewiges Glück” heißt, herrscht schlechte Stimmung. Es können keine Überstunden gemacht werden, weil die Aufträge nach dem Skandal um bleivergiftetes Spielzeug ausbleiben. Von den 600 Yuan Grundlohn (umgerechnet 60 Euro) können die 2000 Arbeiterinnen jedoch kaum leben, vor allem aber nichts sparen, um es nach Hause zu schicken. Wenn sie nichts nach Hause schicken, glauben die Eltern, sie seien faul. Das Nach-Hause-Schicken ist der Hauptgrund, warum 7 Millionen Frauen und Männer aus den Dörfern des Landesinnern Chinas nach Shenzhen kommen.
Mit Shenzhen, der ersten Sonderwirtschaftszone, setzte China 1980 mit der Produktion von Textilien, Spielzeug und Elektronik zum großen Sprung auf den Weltmarkt an. Damals war Shenzhen eine Kleinstadt, über die sich die Exportindustrien und der Bauboom wie eine Riesenkrake stülpten. Nach wenigen Jahren reihte sich ein Industriekomplex an den anderen, überwiegend „three-in-one": Fabrik, Lager und Wohnheim in einem rundum von Mauern und Wachposten umgebenen Gebäudekomplex, mit ein paar hundert oder ein paar tausend Arbeiterinnen, alles ganz junge Frauen vom Land. Die Sonderwirtschaftszone wurde zum Inbegriff für das chinesische Wachstumswunder, und „three in one” zum Inbegriff für das despotische Arbeitsregime, das dieses Wunder mit manchesterkapitalistischen Methoden möglich machte.
1990 hatte Shenzhen bereits 3000 registrierte Betriebe, 1 Million „legale” Einwohner, zusätzlich aber 2,5 Millionen Wanderarbeiter, die eine Registrierung, ein hukou, auf dem Land und deshalb nur dort soziale Rechte haben. Immer neue Industrieanlagen dehnten sich über die eigentliche Sonderwirtschaftszone hinaus aus, Fabrikgelände und Wohnblöcke fraßen Fischerdörfer, Reisfelder und Entenzuchtfarmen im Perlflussdelta. Immer mehr Migranten kamen vom Land, Frauen für die arbeitsintensiven Fabrikation, Männer für den Bausektor und die kapitalintensiven Industrien, die ausländische Investoren nun zunehmend hier ansiedelten.
Ende der 90er Jahre folgte dann die dritte Generation von Industrien, die Informationstechnologien. Lichtdurchflutete Verwaltungsgebäude und Silicon-Städte wurden aus dem Boden gestampft und verdrängten die schäbigen Fabriken. Heute hat Shenzhen 10 oder 12 Millionen Einwohner im gleichen Verhältnis wie früher: 30% legal Registrierte, 70% Zugewanderte.
Der Zugang zur alten Sonderwirtschaftszone, dem damaligen Allerheiligsten des industriellen Fortschritts, wird immer noch durch Grenzposten und Mautstellen mit exakt dem abwaschbaren Tiefkühlcharme von DDR-Grenzübergängen kontrolliert. Dort mussten die Migranten ihren Personalausweis, die Reiseerlaubnis von der Verwaltung im Herkunftsdistrikt, die Arbeitserlaubnis von ihrer Firma und die Aufenthaltsgenehmigung der Stadtverwaltung zeigen. Letztere muss jedes Jahr in einem langwierigen Verfahren und viel Geld erneuert werden. Wen die Polizei illegal, d.h. ohne diese Dokumente in der Sonderwirtschaftszone erwischte, dem drohte eine Lagerstrafe oder Deportation auf eigene Kosten.
Das „Three-in-one"-System löste 1993 heftige Proteste von Wanderarbeitern aus. Es gab den Versuch, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen. Anlass war, dass bei zweien der häufigen Brände das Feuer in einem Textil- und einem Spielzeugbetrieb rasend schnell auf die Wohnheime übergriff und 140 Arbeiterinnen das Leben kostete.

Protest und Aufruhr

Die despotische Handhabung des Ausweiszwangs führte 2003 zu einem öffentlichen Aufruhr, als ein junger Migrant in einer Sonderwirtschaftszone im Perlflussdelta ohne Papiere aufgegriffen und in einer Polizeistation zu Tode geprügelt wurde. Die „three in one” wurden verboten, das Verfahren für die Aufenthaltsgenehmigung beschleunigt, die Kosten reduziert. Die doppelte Despotie gegenüber den Wanderarbeitern, durch staatliche Regulierung und ausbeuterische Lohnarbeit, hörte jedoch nicht auf.
Die Mehrzahl der arbeitsintensiven Textil-, Elektronik-, Spielzeug- und Möbelfabriken befinden sich schon seit Jahren in kostengünstigeren Stadtbezirken außerhalb der alten Sonderwirtschaftszone — wie Fuyong. Die Wohnheime stehen nicht Wand an Wand direkt an der Fabrikhalle, sondern auf der Straßenseite gegenüber. „Damit morgens niemand zu spät kommt”, lacht ein Aufkäufer aus Hongkong. Auf den schmalen Balkons der Wohnblocks, alle wie aus demselben Legokasten gebaut, hängt dicht an dicht die Wäsche der Arbeiterinnen auf der Leine, hell- und dunkelblaue Uniformen bei den großen Betrieben, T-Shirts und Hosen in bunter Reihe bei den kleineren Fabriken.
Seine Kunden in Europa, so der Aufkäufer, würden ihn ständig fragen, ob denn Arbeitsstandards in den Fabriken eingehalten würden und die Wohnheime „menschenwürdig” seien. „Alles in Ordnung”, würde er der Kundschaft versichern. Dabei habe er noch nie eine Fabrik oder ein Wohnheim von innen gesehen.
"Es gab keine wesentlichen Verbesserungen in den Fabriken und Wohnheimen im vergangenen Jahrzehnt”, meint Chen Wen (Name geändert), früher selbst Arbeiter in einer Schuhfabrik. Seit seiner Entlassung wegen Aufwiegelei arbeitet er bei einer kleinen Organisation, die den Arbeiterinnen Beratung in Arbeiterzentren außerhalb der Betriebe anbieten. Das sei kein Versuch, eine unabhängige Gewerkschaft aufzubauen, versichert er. Kein Denken daran. Die Stadtverwaltung habe sogar die Registrierung als NGO abgelehnt. Aber die Gruppe kann auch ohne Registrierung aktiv sein, möglichst unauffällig, aber geduldet.
Hier hat der Normalarbeitstag 12 Stunden, die Überstunden werden nicht korrekt bezahlt, das Unfall- und Gesundheitsrisiko am Arbeitsplatz ist hoch, von Kranken- oder Unfallversicherung wissen die Wanderarbeiterinnen nichts. Das Management behält einen Monatslohn, manchmal sogar den Personalausweis zurück, um angelernte Arbeitskräfte daran zu hindern, sich auf die Suche nach einem besseren Job zu machen. Zu acht oder zwölft schlafen sie in den Wohnheimkabuffs mit doppelstöckigen Betten. Für Strom und Wasser gibt es Abzüge vom Grundlohn, ebenso für Fehlverhalten bei der Produktion.
"Je jünger, desto besser”, sagt lapidar ein Arbeitsvermittler. Vierzehn- bis Sechzehnjährige stehen die Strapazen und die Dauerkonzentration an der Näh- oder Stanzmaschine oder am Fließband am besten durch. Deshalb greift er zu, wenn ihm Schulleiter aus Provinzdörfern ein paar Mädchen direkt nach dem Schulabschluss als fleißig und geschickt anpreisen. Die Anwerbeschilder an einigen Fabriktoren üben sich bezüglich des Alters in political correctness: „18- bis 24-Jährige (unverheiratet) gesucht” Gleichzeitig pappt an den Fabrikmauern jedoch ein Patchwork von Aufklebern, die die schnelle Herstellung von Genehmigungen und Ausweisen aller Art anbieten, und außerdem „preiswerte” Abtreibungen für 500 Yuan in kleinen privaten Kliniken anpreisen.
Am meisten gefürchtet ist die Arbeit an Maschinen, die Metall- oder Lederformen ausstanzen, und die Arbeit mit Chemikalien in den Elektronik-, Spielzeug- und Druckfabriken. Von den älteren Arbeiterinnen lernen die Neuen, dass man an den Stanzmaschinen überwiegend die linke Hand benutzen soll — um die rechte Hand zu schonen. Je länger der Arbeitstag, desto mehr lässt die Konzentration nach, die Hand rechtzeitig unter der Maschine wegzuziehen. Nach offiziellen Angaben verloren 2001 täglich 13 Arbeiterinnen allein in den Textilunternehmen in Shenzhen bei Unfällen einen oder mehrere Finger.

Arbeiterzentren statt Gewerkschaften

Die Arbeiterzentren klären die Arbeiterinnen und Arbeiter über die Gefahren am Arbeitsplatz, über gesundheitsgefährdende Materialien und über das neue Arbeitsgesetz auf, das Anfang dieses Jahres in Kraft getreten ist. Nach dem neuen Gesetz haben alle Beschäftigten ein Anrecht auf einen schriftlichen Vertrag, auf einen unbefristeten Vertrag nach zwei Zeitverträgen und auf eine Entschädigung bei Entlassung. Eine andere Organisation fährt mit einem Gesundheitsmobil vor die Fabriktore und berät mit einer Hotline bei Gesundheitsproblemen. Flugblätter zu verteilen, ist zu gefährlich. Aber sie bauen Vertrauensbeziehungen zu Kontaktpersonen in jedem Betrieb auf und ermutigen sie, kollektiv Beschwerden beim Arbeitsamt einzulegen.
Wegen der Sprache und der Essgewohnheiten finden sich die jungen Frauen je nach Herkunftsregion in Grüppchen zusammen, um unter den Tausenden nicht allein zu sein. Das Viertel des „ewigen Glücks” verlassen sie nur selten. Die meisten waren noch nie in der alten Sonderwirtschaftszone von Shenzhen, manche wissen nicht, dass das Meer in der Nähe ist. Aber sie träumen vom „ewigen Glück” an der Seite eines Mannes in der Stadt, um nicht ins Heimatdorf zurückkehren zu müssen. Denn Rückkehrerinnen heiraten und das bedeutet, sie müssen in eine fremde Familie umsiedeln. „Pfirsiche”, reif zum Pflücken, heißen sie deshalb bei den Männern.
In der Fabrik schlucken sie täglich viel von den Demütigungen und der Ausbeutung. Dafür sorgen die Disziplinierung durch das Management und die Erwartungen der Eltern zu Hause. Der Druck wächst, denn die Unternehmen drohen mit Verlagerung ins Landesinnere, wo die Arbeitskräfte und der Strom billiger sind.
Doch irgendwann reißt den vermeintlich zarten Pfirsichen der Geduldsfaden, unorganisiert, spontan — wenn das städtische Arbeitsamt wieder einmal eine Beschwerde über Lohnrückstände abgelehnt hat oder wieder keine Kompensation für Unfälle gezahlt wird. Mindestens 5000 Proteste, Streiks und Sabotageaktionen gegen Lohnprellerei, Unfälle, Gesundheitsschäden und Managementschikanen gibt es in Shenzhen pro Jahr. Sie werden häufiger, aggressiver und öffentlicher, addieren sich immer mehr zu einem Einfordern von Rechten.
Als 3000 Arbeiterinnen der Firma Computime die Hauptstraße blockierten, waren sie ihm Nu von tausend Polizisten umzingelt, die den Protest auflösten. Doch sie erreichten ihr Ziel: die Aufmerksamkeit des Arbeitsamts. Es verurteilte das Unternehmen zu einer Geldstrafe, Computime zahlt seitdem Mindestlöhne.
Unter den Arbeitenden kursiert schon der Slogan: „Großer Streik — großer Fortschritt, kleiner Streik — kleiner Fortschritt, kein Streik — kein Fortschritt” 2007 wurde erstmalig in zwei großen Fabriken desselben Eigentümers in zwei unterschiedlichen Städten im Perlflussdelta gleichzeitig gestreikt. Sie sangen Lieder von Sun Heng, einem Wanderarbeiter und Bandleader im fernen Peking, Lieder darüber, dass die Migranten das Wachstum und den Wohlstand der Nation schaffen und dass sie dafür Achtung und Rechte verdienen.
Nirgendwo in China sind so viele Unterstützerorganisationen entstanden, klein und nur lokal aktiv, wie im Perlflussdelta. Nirgendwo gibt es so viele Arbeiterzentren außerhalb der Fabriken und der Einheitsgewerkschaft. Sie vertrauen nicht darauf, dass der chinesische Gewerkschaftsbund oder die lokalen Arbeitsämter für die Umsetzung des neuen Arbeitsgesetzes sorgen, mit dem die Regierung auf das wachsende Aufbegehren reagierte.
Denn die Einheitsgewerkschaft ist keine Interessenvertretung der Arbeitenden, sondern ein Staatsorgan, das als „Brücke zwischen Beschäftigten und Management” vor allem Produktivitäts- und Qualitätssteigerung durchsetzen soll. Das Hauptinteresse der Provinz- und Stadtverwaltungen richtet sich auf Investitionen in ihre Distrikte, damit sie hohe Beschäftigungs- und Wachstumszahlen vorweisen können.
Sie sind weit entfernt vom Aufbau einer Arbeiterbewegung, ihre Erfolge sind begrenzt. Doch wegen des derzeitigen Mangels an erfahrenen Arbeitskräften haben sie gute Chancen, Verbesserungen zu erkämpfen. Das neue Arbeitsgesetz ist ein Hilfsmittel dazu.
Gleichzeitig gibt die Einheitsgewerkschaft ihren Alleinvertretungsanspruch nicht auf, und die Repressionen gegen die informellen Arbeiterorganisationen lassen nicht nach. Im Herbst 2007 überfielen Schlägertrupps das kleine Dagongzhe-Arbeiterzentrum, wo der 34-jährige Aktivist Huang Qingnan Wanderarbeiter über ihre Rechte aufklärte und sie beriet. Wenig später ging das Bild von Huang in einer Blutlache liegend durchs Internet. Er war auf offener Straße in Shenzhen von zwei Unbekannten mit Messern lebensgefährlich verletzt worden.
Das Bild im Internet war ein Novum und ein Signal: statt aus Furcht vor weiteren Repressionen zu schweigen, baten die Aktivisten aus dem Perlflussdelta erstmals die chinesische und internationale Öffentlichkeit um Unterstützung.


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