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Trotz
anhaltender Repression wächst im chinesischen Perlflussdelta der Widerstand der Arbeiterinnen.
Arbeiterzentren bilden sich als Gegenpol zu den offiziellen Gewerkschaften, trotz brutaler Gewalt wagt man
den Schritt an die internationale Öffentlichkeit.
In der Zulieferfirma von Mattel in
Shenzhens Stadtteil Fuyong, was „ewiges Glück” heißt, herrscht schlechte Stimmung. Es
können keine Überstunden gemacht werden, weil die Aufträge nach dem Skandal um
bleivergiftetes Spielzeug ausbleiben. Von den 600 Yuan Grundlohn (umgerechnet 60 Euro) können die 2000
Arbeiterinnen jedoch kaum leben, vor allem aber nichts sparen, um es nach Hause zu schicken. Wenn sie
nichts nach Hause schicken, glauben die Eltern, sie seien faul. Das Nach-Hause-Schicken ist der Hauptgrund,
warum 7 Millionen Frauen und Männer aus den Dörfern des Landesinnern Chinas nach Shenzhen kommen.
Mit Shenzhen, der ersten
Sonderwirtschaftszone, setzte China 1980 mit der Produktion von Textilien, Spielzeug und Elektronik zum
großen Sprung auf den Weltmarkt an. Damals war Shenzhen eine Kleinstadt, über die sich die
Exportindustrien und der Bauboom wie eine Riesenkrake stülpten. Nach wenigen Jahren reihte sich ein
Industriekomplex an den anderen, überwiegend „three-in-one": Fabrik, Lager und Wohnheim in
einem rundum von Mauern und Wachposten umgebenen Gebäudekomplex, mit ein paar hundert oder ein paar
tausend Arbeiterinnen, alles ganz junge Frauen vom Land. Die Sonderwirtschaftszone wurde zum Inbegriff
für das chinesische Wachstumswunder, und „three in one” zum Inbegriff für das
despotische Arbeitsregime, das dieses Wunder mit manchesterkapitalistischen Methoden möglich machte.
1990 hatte Shenzhen bereits 3000
registrierte Betriebe, 1 Million „legale” Einwohner, zusätzlich aber 2,5 Millionen
Wanderarbeiter, die eine Registrierung, ein hukou, auf dem Land und deshalb nur dort soziale Rechte haben.
Immer neue Industrieanlagen dehnten sich über die eigentliche Sonderwirtschaftszone hinaus aus,
Fabrikgelände und Wohnblöcke fraßen Fischerdörfer, Reisfelder und Entenzuchtfarmen im
Perlflussdelta. Immer mehr Migranten kamen vom Land, Frauen für die arbeitsintensiven Fabrikation,
Männer für den Bausektor und die kapitalintensiven Industrien, die ausländische Investoren
nun zunehmend hier ansiedelten.
Ende der 90er Jahre folgte dann die dritte
Generation von Industrien, die Informationstechnologien. Lichtdurchflutete Verwaltungsgebäude und
Silicon-Städte wurden aus dem Boden gestampft und verdrängten die schäbigen Fabriken. Heute
hat Shenzhen 10 oder 12 Millionen Einwohner im gleichen Verhältnis wie früher: 30% legal
Registrierte, 70% Zugewanderte.
Der Zugang zur alten Sonderwirtschaftszone,
dem damaligen Allerheiligsten des industriellen Fortschritts, wird immer noch durch Grenzposten und
Mautstellen mit exakt dem abwaschbaren Tiefkühlcharme von DDR-Grenzübergängen kontrolliert.
Dort mussten die Migranten ihren Personalausweis, die Reiseerlaubnis von der Verwaltung im
Herkunftsdistrikt, die Arbeitserlaubnis von ihrer Firma und die Aufenthaltsgenehmigung der Stadtverwaltung
zeigen. Letztere muss jedes Jahr in einem langwierigen Verfahren und viel Geld erneuert werden. Wen die
Polizei illegal, d.h. ohne diese Dokumente in der Sonderwirtschaftszone erwischte, dem drohte eine
Lagerstrafe oder Deportation auf eigene Kosten.
Das „Three-in-one"-System
löste 1993 heftige Proteste von Wanderarbeitern aus. Es gab den Versuch, eine unabhängige
Gewerkschaft zu gründen. Anlass war, dass bei zweien der häufigen Brände das Feuer in einem
Textil- und einem Spielzeugbetrieb rasend schnell auf die Wohnheime übergriff und 140 Arbeiterinnen
das Leben kostete.
Die despotische Handhabung des Ausweiszwangs führte 2003 zu einem öffentlichen Aufruhr, als
ein junger Migrant in einer Sonderwirtschaftszone im Perlflussdelta ohne Papiere aufgegriffen und in einer
Polizeistation zu Tode geprügelt wurde. Die „three in one” wurden verboten, das Verfahren
für die Aufenthaltsgenehmigung beschleunigt, die Kosten reduziert. Die doppelte Despotie
gegenüber den Wanderarbeitern, durch staatliche Regulierung und ausbeuterische Lohnarbeit, hörte
jedoch nicht auf.
Die Mehrzahl der arbeitsintensiven Textil-,
Elektronik-, Spielzeug- und Möbelfabriken befinden sich schon seit Jahren in kostengünstigeren
Stadtbezirken außerhalb der alten Sonderwirtschaftszone wie Fuyong. Die Wohnheime stehen nicht
Wand an Wand direkt an der Fabrikhalle, sondern auf der Straßenseite gegenüber. „Damit
morgens niemand zu spät kommt”, lacht ein Aufkäufer aus Hongkong. Auf den schmalen Balkons
der Wohnblocks, alle wie aus demselben Legokasten gebaut, hängt dicht an dicht die Wäsche der
Arbeiterinnen auf der Leine, hell- und dunkelblaue Uniformen bei den großen Betrieben, T-Shirts und
Hosen in bunter Reihe bei den kleineren Fabriken.
Seine Kunden in Europa, so der
Aufkäufer, würden ihn ständig fragen, ob denn Arbeitsstandards in den Fabriken eingehalten
würden und die Wohnheime „menschenwürdig” seien. „Alles in Ordnung”,
würde er der Kundschaft versichern. Dabei habe er noch nie eine Fabrik oder ein Wohnheim von innen
gesehen.
"Es gab keine wesentlichen
Verbesserungen in den Fabriken und Wohnheimen im vergangenen Jahrzehnt”, meint Chen Wen (Name
geändert), früher selbst Arbeiter in einer Schuhfabrik. Seit seiner Entlassung wegen Aufwiegelei
arbeitet er bei einer kleinen Organisation, die den Arbeiterinnen Beratung in Arbeiterzentren
außerhalb der Betriebe anbieten. Das sei kein Versuch, eine unabhängige Gewerkschaft aufzubauen,
versichert er. Kein Denken daran. Die Stadtverwaltung habe sogar die Registrierung als NGO abgelehnt. Aber
die Gruppe kann auch ohne Registrierung aktiv sein, möglichst unauffällig, aber geduldet.
Hier hat der Normalarbeitstag 12 Stunden,
die Überstunden werden nicht korrekt bezahlt, das Unfall- und Gesundheitsrisiko am Arbeitsplatz ist
hoch, von Kranken- oder Unfallversicherung wissen die Wanderarbeiterinnen nichts. Das Management
behält einen Monatslohn, manchmal sogar den Personalausweis zurück, um angelernte
Arbeitskräfte daran zu hindern, sich auf die Suche nach einem besseren Job zu machen. Zu acht oder
zwölft schlafen sie in den Wohnheimkabuffs mit doppelstöckigen Betten. Für Strom und Wasser
gibt es Abzüge vom Grundlohn, ebenso für Fehlverhalten bei der Produktion.
"Je jünger, desto besser”,
sagt lapidar ein Arbeitsvermittler. Vierzehn- bis Sechzehnjährige stehen die Strapazen und die
Dauerkonzentration an der Näh- oder Stanzmaschine oder am Fließband am besten durch. Deshalb
greift er zu, wenn ihm Schulleiter aus Provinzdörfern ein paar Mädchen direkt nach dem
Schulabschluss als fleißig und geschickt anpreisen. Die Anwerbeschilder an einigen Fabriktoren
üben sich bezüglich des Alters in political correctness: „18- bis 24-Jährige
(unverheiratet) gesucht” Gleichzeitig pappt an den Fabrikmauern jedoch ein Patchwork von Aufklebern,
die die schnelle Herstellung von Genehmigungen und Ausweisen aller Art anbieten, und außerdem
„preiswerte” Abtreibungen für 500 Yuan in kleinen privaten Kliniken anpreisen.
Am meisten gefürchtet ist die Arbeit
an Maschinen, die Metall- oder Lederformen ausstanzen, und die Arbeit mit Chemikalien in den Elektronik-,
Spielzeug- und Druckfabriken. Von den älteren Arbeiterinnen lernen die Neuen, dass man an den
Stanzmaschinen überwiegend die linke Hand benutzen soll um die rechte Hand zu schonen. Je
länger der Arbeitstag, desto mehr lässt die Konzentration nach, die Hand rechtzeitig unter der
Maschine wegzuziehen. Nach offiziellen Angaben verloren 2001 täglich 13 Arbeiterinnen allein in den
Textilunternehmen in Shenzhen bei Unfällen einen oder mehrere Finger.
Die Arbeiterzentren klären die Arbeiterinnen und Arbeiter über die Gefahren am Arbeitsplatz,
über gesundheitsgefährdende Materialien und über das neue Arbeitsgesetz auf, das Anfang
dieses Jahres in Kraft getreten ist. Nach dem neuen Gesetz haben alle Beschäftigten ein Anrecht auf
einen schriftlichen Vertrag, auf einen unbefristeten Vertrag nach zwei Zeitverträgen und auf eine
Entschädigung bei Entlassung. Eine andere Organisation fährt mit einem Gesundheitsmobil vor die
Fabriktore und berät mit einer Hotline bei Gesundheitsproblemen. Flugblätter zu verteilen, ist zu
gefährlich. Aber sie bauen Vertrauensbeziehungen zu Kontaktpersonen in jedem Betrieb auf und ermutigen
sie, kollektiv Beschwerden beim Arbeitsamt einzulegen.
Wegen der Sprache und der Essgewohnheiten
finden sich die jungen Frauen je nach Herkunftsregion in Grüppchen zusammen, um unter den Tausenden
nicht allein zu sein. Das Viertel des „ewigen Glücks” verlassen sie nur selten. Die
meisten waren noch nie in der alten Sonderwirtschaftszone von Shenzhen, manche wissen nicht, dass das Meer
in der Nähe ist. Aber sie träumen vom „ewigen Glück” an der Seite eines Mannes
in der Stadt, um nicht ins Heimatdorf zurückkehren zu müssen. Denn Rückkehrerinnen heiraten
und das bedeutet, sie müssen in eine fremde Familie umsiedeln. „Pfirsiche”, reif zum
Pflücken, heißen sie deshalb bei den Männern.
In der Fabrik schlucken sie täglich
viel von den Demütigungen und der Ausbeutung. Dafür sorgen die Disziplinierung durch das
Management und die Erwartungen der Eltern zu Hause. Der Druck wächst, denn die Unternehmen drohen mit
Verlagerung ins Landesinnere, wo die Arbeitskräfte und der Strom billiger sind.
Doch irgendwann reißt den vermeintlich
zarten Pfirsichen der Geduldsfaden, unorganisiert, spontan wenn das städtische Arbeitsamt
wieder einmal eine Beschwerde über Lohnrückstände abgelehnt hat oder wieder keine
Kompensation für Unfälle gezahlt wird. Mindestens 5000 Proteste, Streiks und Sabotageaktionen
gegen Lohnprellerei, Unfälle, Gesundheitsschäden und Managementschikanen gibt es in Shenzhen pro
Jahr. Sie werden häufiger, aggressiver und öffentlicher, addieren sich immer mehr zu einem
Einfordern von Rechten.
Als 3000 Arbeiterinnen der Firma Computime
die Hauptstraße blockierten, waren sie ihm Nu von tausend Polizisten umzingelt, die den Protest
auflösten. Doch sie erreichten ihr Ziel: die Aufmerksamkeit des Arbeitsamts. Es verurteilte das
Unternehmen zu einer Geldstrafe, Computime zahlt seitdem Mindestlöhne.
Unter den Arbeitenden kursiert schon der
Slogan: „Großer Streik großer Fortschritt, kleiner Streik kleiner
Fortschritt, kein Streik kein Fortschritt” 2007 wurde erstmalig in zwei großen Fabriken
desselben Eigentümers in zwei unterschiedlichen Städten im Perlflussdelta gleichzeitig gestreikt.
Sie sangen Lieder von Sun Heng, einem Wanderarbeiter und Bandleader im fernen Peking, Lieder darüber,
dass die Migranten das Wachstum und den Wohlstand der Nation schaffen und dass sie dafür Achtung und
Rechte verdienen.
Nirgendwo in China sind so viele
Unterstützerorganisationen entstanden, klein und nur lokal aktiv, wie im Perlflussdelta. Nirgendwo
gibt es so viele Arbeiterzentren außerhalb der Fabriken und der Einheitsgewerkschaft. Sie vertrauen
nicht darauf, dass der chinesische Gewerkschaftsbund oder die lokalen Arbeitsämter für die
Umsetzung des neuen Arbeitsgesetzes sorgen, mit dem die Regierung auf das wachsende Aufbegehren reagierte.
Denn die Einheitsgewerkschaft ist keine
Interessenvertretung der Arbeitenden, sondern ein Staatsorgan, das als „Brücke zwischen
Beschäftigten und Management” vor allem Produktivitäts- und Qualitätssteigerung
durchsetzen soll. Das Hauptinteresse der Provinz- und Stadtverwaltungen richtet sich auf Investitionen in
ihre Distrikte, damit sie hohe Beschäftigungs- und Wachstumszahlen vorweisen können.
Sie sind weit entfernt vom Aufbau einer
Arbeiterbewegung, ihre Erfolge sind begrenzt. Doch wegen des derzeitigen Mangels an erfahrenen
Arbeitskräften haben sie gute Chancen, Verbesserungen zu erkämpfen. Das neue Arbeitsgesetz ist
ein Hilfsmittel dazu.
Gleichzeitig gibt die Einheitsgewerkschaft
ihren Alleinvertretungsanspruch nicht auf, und die Repressionen gegen die informellen
Arbeiterorganisationen lassen nicht nach. Im Herbst 2007 überfielen Schlägertrupps das kleine
Dagongzhe-Arbeiterzentrum, wo der 34-jährige Aktivist Huang Qingnan Wanderarbeiter über ihre
Rechte aufklärte und sie beriet. Wenig später ging das Bild von Huang in einer Blutlache liegend
durchs Internet. Er war auf offener Straße in Shenzhen von zwei Unbekannten mit Messern
lebensgefährlich verletzt worden.
Das Bild im Internet war ein Novum und ein
Signal: statt aus Furcht vor weiteren Repressionen zu schweigen, baten die Aktivisten aus dem
Perlflussdelta erstmals die chinesische und internationale Öffentlichkeit um Unterstützung.
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