SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2008, Seite 12

Kosova: Unabhängigkeit — und was nun?

Gespräch mit Catherine Samary

In Kosova feierte die Bevölkerung ausgelassen die Unabhängigkeit, in Belgrad und anderswo gab es Proteste: Ist die Unabhängigkeit Kosovas eine neue Lunte am Pulverfass Balkan?
Wie wichtig ist diese Unabhängigkeitserklärung wirklich?

Symbolisch und politisch ist sie für die Albaner in Kosova sehr wichtig. Ihr Bestreben, entweder zu Albanien zu gehören oder einen souveränen Staat Kosova zu bilden geht weit zurück und hat tiefe Wurzeln — dabei wird immer wieder auf die Forderung verwiesen, die ab 1968 im ehemaligen Jugoslawien erhoben wurde, dem Kosovo den Status einer Republik zu verleihen wie den anderen südslawischen Regionen auch. Die Freude der albanischen Bevölkerung bringt auch ihren Stolz darüber zum Ausdruck, dass sie von den großen Westmächten gegen die Allianz Serbien/Russland unterstützt wird...
In Belgrad wird die Unabhängigkeitserklärung ganz gegenteilig wahrgenommen: als Bruch des Völkerrechts, als symbolischer Verlust der „Wiege” des ersten serbischen Staates, und als Quelle der Unsicherheit für die rund 120000 Serben in Kosova, von denen die Hälfte in Enklaven lebt.

Ist der neue Staat selbstständig lebensfähig, oder wird er nichts weiter sein als ein Instrument europäischer Vorherrschaft, ähnlich dem, was in Bosnien geschieht?

So wie Bosnien-Herzegowina wird auch Kosova formal unabhängig sein, jedoch unter der Schirmherrschaft eines sog. „Internationalen Zivilen Repräsentanten” der Europäischen Union stehen. Dieser wird „insbesondere das Recht haben, Entscheidungen oder Gesetze, die die Behörden von Kosova verabschieden, außer Kraft zu setzen sowie öffentliche Würdenträger zur Ordnung zu rufen oder abzuberufen”, die der Durchsetzung des für Kosova geltenden Grundgesetzes schaden. Ich zitiere hier den Entwurf des Ahtisaari-Plans. Die Präsenz der NATO wird aufrechterhalten und flankiert von einer Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union in Kosova (EULex Kosovo), die die weitere Entwicklung nach der Unabhängigkeitserklärung überwachen soll. Schließlich vergisst man gern, dass in Kosova der Euro in Umlauf ist; es war die Deutsche Bundesbank, die den Umtausch von der seit 1999 geltenden D-Mark in Euro organisiert hat.
In Bosnien-Herzegowina gibt es keinen Euro, sondern eine „umtauschbare Mark” (!), die außerhalb des Landes nicht umgetauscht werden kann. Ein bosnischer Bürger kann nicht Leiter der Bundesbank werden. Bosnien ist zu einem Quasiprotektorat herabgesunken; die Befugnisse des Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen — der gewählte Vertreter absetzt u.ä. — werden von der Bevölkerung zunehmend abgelehnt. Die sozioökonomische Bilanz ist ernüchternd. Leider läuft Kosova Gefahr, dieselben „Abhängigkeitssyndrome” und dieselben gefährlichen Spannungen zu erleiden.

Von Westeuropa aus betrachtet erscheint die Wirtschaft Kosovas schwach — mit ihrer hohen Arbeitslosenrate, ihrer Abhängigkeit von ausländischen Geldern und den ausgedehnten Grauzonen, ganz zu schweigen von dem, was der örtlichen Mafia alles unterstellt wird. Wird da im Westen eine Karikatur gezeichnet oder gibt dies düstere Bild eine Realität wieder?

Den Schwarzhandel und die Mafiastrukturen gibt es wirklich; anfänglich wurden sie begünstigt vom sozialen und politischen Zerfall des alten Regimes, dem „kriegerischen Übergang” und den Sanktionen gegen Serbien. Der „Friede” nährt sie aber weiter — durch Armut, den nicht erfolgten Wiederaufbau eines rechtlich und sozial stabilen Rahmens und die internationale Präsenz. Was hingegen nicht genügend erwähnt wird ist, dass die Konflikte mit Belgrad über die Privatisierungen der Bodenschätze (die die Unabhängigkeit nicht so schnell beilegen wird), der Mangel an Staatsfinanzen und der Euro die Produktivität dramatisch gesenkt haben. Kosova ist eine große „Handels"zone geworden — darunter der Schwarzhandel —, die von Westprodukten dominiert wird, die vor allem an das ausländische Personal fließen. Tausende Hektar fruchtbares Land, für die es keine Subventionen und keine öffentlichen Kredite gab (schließlich herrscht „Sparzwang"), um sie zu bewirtschaften, wurden mit Warenhäusern übersät. Es gibt regelmäßig Stromausfall, obwohl es genügend Wasserkraft für den gesamten Balkan gäbe. Nach fast neun Jahren UN-Protektorat hat Kosova bei 50% Arbeitslosigkeit ein Bruttoinlandsprodukt von gerade Mal 1000 Euro pro Einwohner, von denen ein Großteil auch noch aus ausländischen Gehältern stammt.

Einige EU-Länder haben die Unabhängigkeit Kosovas nicht anerkannt, aus Angst, die nationalen Minderheiten in ihren eigenen Ländern könnten sich Kosova zum Vorbild nehmen. Könnte der „Domino-Effekt” der Unabhängigkeit wirklich Regionen destabilisieren?

Diesen Trumpf werden alle sezessionistisch gesinnten Gemeinschaft ausspielen, und auch Russland, das international eine größere Rolle spielen will. Die größten Spannungen wird es jedoch unmittelbar an der Balkanperipherie der EU geben. Ein kann einen Volksentscheid über die Selbstbestimmung im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas geben, und dasselbe in den albanisch dominierten Grenzorten Serbiens. Zweifel kann man auch hegen über die Stabilität Mazedoniens, obwohl der dort lebenden albanischen Bevölkerung, die 25% der Gesamtbevölkerung ausmacht, mehr Rechte zuerkannt wurden. Die Versprechungen einer europäischen Integration, von der man annimmt, dass sie die Spannungen verringern hilft, sind leider wenig glaubwürdig und zu arrogant.
Instabil wird jedoch vor allem Kosova selbst sein, vor allem sein Grenzgebiet zu Serbien rund um Mitrovica, bedingt durch die innere Entwicklung in Serbien. Die Drohreden aus Belgrad und Moskau waren zweifellos Teil des Pokerspiels. Die Häufung serbischer Niederlagen und der Krieg der NATO haben jedoch einen großen Frust hinterlassen, der sich durch neoliberale Wirtschaftsmaßnahmen sicher nicht beschwichtigen lässt.
Die Balkanfragen sind sehr stark ineinander verschachtelt; eine örtlich begrenzte Stabilisierung gibt es nicht; anerkannte nationale Rechte müssen kohärent sein und einhergehen mit Maßnahmen, die Gleichheit und sozialen Zusammenhalt fördern. Aber ist das ein „Balkan"-Problem? Eigentlich bedarf es eines anderen europäischen Aufbaus.

Aus: SolidaritèS (Genf), Nr.123, 27.2.2008 (www.solidarites.ch) (Übersetzung: Angela Huemer).


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