SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2008, Seite 07

Arbeitskampf im Einzelhandel

Verdrängungswettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten

Interview mit Erika Ritter, Ver.di-FB-Leiterin Handel Berlin-Brandenburg

Der Tarifkonflikt im Einzelhandel zieht sich bereits über viele Monate. Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels hat Ende 2006 den Manteltarifvertrag gekündigt, und 2007 hat Ver.di auch die Lohntarifverträge auf der Bezirksebene nicht verlängert. Die Arbeitgeber bieten Lohnerhöhungen zwischen 1,5% und 2,5% über drei Jahre. Das liegt unterhalb der Inflationsrate. Zudem verlangen sie das Abschmelzen der Zuschläge für Spät- und Nachtarbeiten. Ver.di fordert in Berlin-Brandenburg 6,5% und die Beibehaltung der Zuschläge. Seit über acht Monaten versuchen Beschäftigte des Einzelhandels in regionalen Aktionen für ihre Interessen Druck zu machen. Jochen Gester sprach für die SoZ mit ERIKA RITTER, Fachbereichsleiterin Handel des Landesbezirks Berlin-Brandenburg, über die gewerkschaftlichen Erfolgsaussichten.

Worum geht es im aktuellen Tarifkonflikt? Forderungen werden ja auf beiden Seiten erhoben.

Wir haben seit Jahren damit zu tun, dass die Arbeitgeber mit eigenen Forderungen kommen. Dabei geht es immer darum, den Tarifvertrag zu verschlechtern. Hintergrund ist der seit mehreren Jahren erbittert geführte Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel. Die Kaufkraft nimmt nicht zu. Wachsenden Umsatz erzielen Unternehmen nur noch dadurch, dass sie andere vom Markt werfen. Mit der Freigabe der Ladenöffnungszeiten hat der Gesetzgeber ihnen ein zusätzliches Instrument an die Hand gegeben. Damit wollen sie uns jetzt die erkämpften Zuschläge für Spätarbeit und Wochenenden streitig machen. Sie wollen die Öffnung zu diesen Zeiten verstärkt nutzen, um die kleineren und mittleren Betriebe, die hier nicht mithalten können, aus dem Markt zu drängen. Dazu sagen wir Nein.
Arbeit in den Spätzeiten gefährdet die Gesundheit und ist deshalb anders zu bewerten als zur Normalzeit zwischen 9 und 18 Uhr. Wir brauchen diese Zuschläge, um den Kollegen einen Ausgleich zu geben, und auch um einen Riegel zu haben, die Ausweitung der Arbeitszeiten in die Nachtstunden zu erschweren. In dieser Frage werden wir uns nicht generell verweigern, doch wir werden bei Änderungen zum Nachteil der Kolleginnen und Kollegen auf einem wertmäßigen Äquivalent bestehen.

Auf welche Kräfte und Belegschaften kann Ver.di sich in diesem Konflikt stützen, um Druck zu machen? Wo liegen die Schwierigkeiten?

Gegenwärtig bewegt sich vor allem in den Betrieben etwas, aus denen wir Leute auf die Straße holen konnten. Die Zahl der Streikbetriebe ist begrenzt, weil wir keine flächendeckende Bindung durch Tarifverträge mehr haben. Die Tarifbindung ist deutlich unter 50% gesunken, zumindest was die direkte Bindung betrifft. Darüber hinaus gibt es noch Anerkennungstarifverträge. Ferner gibt es Tarifverträge, die sich am regional ausgehandelten Ergebnis nur noch orientieren und selbst entscheiden, welche Leistungen sie weitergeben und welche nicht. So fällt schon mal ein großer Teil der Beschäftigten aus der Tarifbewegung raus.
Aus den Betrieben, die wir derzeit im Streik stehen, ist aber dennoch nur ein Teil der Belegschaften draußen. Wären alle Mitglieder in den tarifgebundenen Betrieben draußen, wären das ungefähr 10000 Leute. Davon sind wir ein ganzes Stück entfernt. Das liegt zum einen daran, dass die Kolleginnen kaum eine Streiktradition haben. Dazu kommt, dass die Methoden, mit denen Kolleginnen unter Druck gesetzt werden, inzwischen sehr subtil sind. Das Fehlen einer ausgeprägten Streiktradition dürfte auch daran liegen, dass wir eine Frauenbranche sind, und Frauen immer noch einen höheren Leidensdruck zu akzeptieren scheinen und eher bereit sind sich unterzuordnen.
Aber die Konfliktbereitschaft ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Wir verlieren bereits im zweiten Jahr in Folge nicht mehr Mitglieder, als wir aufnehmen. In Berlin steigt die Mitgliederzahl sogar. Im Durchschnitt haben wir 21000 Mitglieder im Landesfachbereich, was einen Organisationsgrad von etwa 22% bedeutet. Es gibt Hochburgen, z.B. bei Reichelt und Extra. Gut organisiert sind einzelne Real- und Kauflandhäuser und die Warenhäuser, dies variiert jedoch in einer gewissen Bandbreite. Das Maximum liegt etwa bei 50%.

Auf einer Versammlung des Berliner Forums Betrieb, Gewerkschaft, soziale Bewegungen hat der ehemalige Berliner Landesleiter des FB Handel, Manfred Birkhahn, berichtet, dass ihr gute Erfahrungen mit der Abgabe von Verantwortung an die Mitglieder gemacht habt. Ihr habt damit begonnen, Mitglieder per Post zu Aktionen zu mobilisieren, was gut geklappt hat. Die Kolleginnen und Kollegen waren da. Kannst du das bestätigen?

Wir machen heute mit einem recht übersichtlichen hauptamtlichen Personal Aktionen, für die wir früher viermal soviel Leute hatten. Wir geben heute einen Teil der Verantwortung ab an die Ehrenamtlichen. Dadurch wird das ihr Ding. Dann hängen sie sich ganz anders rein, um die Leute zu aktivieren. Wir haben jetzt noch eine neue Methode entdeckt. Wir verschicken Massen-SMS. Die gehen inzwischen an 450 Aktive, die wir innerhalb einer halben Stunde über wichtige Entwicklungen und Entscheidungen informieren, z.B. ob wir am nächsten Tag den Streik fortsetzen oder unterbrechen oder uns zu einer Aktion treffen.

Bewegen sich die Arbeitgeber?

Ja und Nein. Ja deshalb, weil wir inzwischen bei Rewe einen Vorschalttarifvertrag paraphiert haben, der Festlegungen enthält, die für uns akzeptabel sind. Die Berlin-Brandenburger Tarifkommission hat dem auch bereits zugestimmt. Deshalb wird bei Rewe nicht mehr gestreikt. Das ist ein Signal an die Arbeitgeber, dass sie in Ruhe gelassen werden, wenn sie akzeptable Vereinbarungen unterschreiben. Zum zweiten gibt es Betriebe, die inzwischen 3% zahlen, ohne dass die Zuschläge angetastet werden, z.B. Ikea und Aldi-Nord. Dann gibt es eine Gruppe, die 2—3% zahlt. Das ist dann aber bereits knapp unter der aktuellen Inflationsrate. Und nun zum Nein. Wir haben bisher in keinem Tarifbezirk einen Flächentarifvertrag, was unser Ziel ist.

Es geht also in diesem Tarifkonflikt faktisch darum, einen Abschluss zu verhindern, der erneut unter der Inflationsrate liegt, nicht um eine echte Lohnaufbesserung?

Ja, das wäre schon eine reale Lohnerhöhung. Darüber hinaus geht es darum, weitere Verschlechterungen abzuwehren.

Mit welchen Mitteln versuchen die Handelsketten den Streik zu unterlaufen?

Zuerst wird das eigene Personal unter Druck gesetzt. Wir haben beobachtet, dass sich z.B. Abteilungsleiter mit ihren Mitarbeitern irgendwo außerhalb treffen, um dann zusammen mit ihnen in den Betrieb zu gehen. Die Kollegen, die am Streik teilnehmen wollen, müssen sich dann direkt gegenüber dem Chef erklären. Klappt das nicht wie gehofft, wenden sie sich an ihre Zeitarbeitsfirmen, die dann Leiharbeiter als Streikbrecher schicken. Und das funktioniert leider tadellos. Wir haben hier in der Region keinen Fall erlebt, bei dem sich ein Leiharbeitnehmer geweigert hätte, als Streikbrecher zu arbeiten. Das Recht hat er. Offensichtlich sind viele so klamm, dass sie alles andere wegdrücken.

Wäre es nicht nötig, den Kontakt zu den Kollegen dieser Zeitarbeitsfirmen zu suchen, um den Arbeitgebern diese Option zu erschweren?

Es gab vor kurzem eine gewerkschaftliche Aktion zur Leiharbeit. Wir wurden als Fachbereich angesprochen, ob wir nicht mitmachen wollen. Leider ist das aus terminlichen Gründen gescheitert. Wenn wir das als Streiktag hätten planen können, hätten wir das gerne gemacht.

Welche Rolle spielen für euch die Erfahrungen der Lidl-Kampagne?

Lidl ist nach wie vor ein schwieriges Feld. Die Angst der Mitarbeiter ist so ausgeprägt, dass viele Kollegen davor zurückschrecken, offen Position zu beziehen. Die jetzt entdeckten Spitzeleien haben das vermutlich noch mal verstärkt. Wir kommen nur weiter, wenn wir das ehrenamtliche Engagement der Mitglieder stärken. Das ist auch ein Ergebnis der Organizing-Kampagne bei Lidl. Deren Schwäche bestand für mich vor allem darin, dass sie Zugang zum Betrieb vor allem von oben und von außen gesucht hat. Übrigens hat sich ja jetzt herausgestellt, dass nahezu überall solche Überwachungsmethoden angewandt werden, zumeist etwas geschickter und nicht so krass wie bei Lidl. Dies geschieht zum Teil auch mit Beteiligung von Betriebsräten, die sich dabei von den betriebswirtschaftlichen Argumenten der Arbeitgeber überzeugen lassen. Sie müssten das nicht. Sie können ihre Zustimmung verweigern. Sie müssen das nur wollen.

Gibt es denn Gruppen der Gesellschaft, die eure Aktionen unterstützen?

Ja es gibt eine Gruppe von jungen Filmemachern aus dem Labor-B-Projekt. Die machen das sehr gut. Da sind wir auch froh darüber. Die Filme sind toll, und wir haben die auch bei uns ins Netz gestellt. Sonst geschieht da nicht viel. Wir müssten uns auch um mehr Unterstützung aus der Ver.di-Welt kümmern.

Sollte es nicht mehr Bemühungen geben, die getrennt laufenden Konflikte miteinander zu verbinden, um sich gegenseitigen zu stärken und mehr öffentlichen Druck zu erzeugen?

Wir hatten am 21.Februar eine gemeinsame Streikveranstaltung der verschiedenen Fachbereiche mit Demo und Kundgebung auf dem Wittenbergplatz. Das war die erste Aktion dieser Art. Das ist auch bei den Kollegen gut angekommen. Erfahren haben wir jedoch auch, dass der RBB uns als Gewerkschafter aus dem Handel verschwiegen hat. Das hat bei einer ganzen Reihe von Kollegen Frust ausgelöst. Wir haben diese Aktion ja stark getragen und kamen dann nicht vor. Wir werden auch als bundesweiter Konflikt nicht vermittelt. Die Berichterstattung kommt über die Regionalgrenzen nicht hinaus. Eine Ausnahme bilden Promiauftritte. Wenn man die Zahl der Streikenden zusammenzählt, sieht man, wie breit der Konflikt ist. Doch das wird nicht wahrgenommen.


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