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Am 9.April ging einer der
längsten und härtesten Arbeitskonflikte der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende. Nach 30 Tagen gewannen die
430 Arbeiter der Frachtabteilung der Schweizer Bundesbahn (SBB) in Bellinzona (Tessin) ihren Kampf gegen die Direktion.
Die SBB-Cargo AG ist ein Tochterunternehmen der SBB. Die SBB
ist vollständig in staatlicher Hand, arbeitet jedoch nach privatwirtschaftlichen Prinzipien, nachdem das Parlament
(einschließlich der „Linken") sie 1999 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt hat mit der Auflage, Gewinne zu
machen und im Fall eines Defizits die Firma umzustrukturieren (d.h. Personal zu entlassen). Zu diesem Zweck verpflichtete SBB-
Cargo 2007 Andreas Mayer als neuen Vorstandsvorsitzenden; bis dahin hatte er die Deutsche Bahn umstrukturiert.
Am 6.März gab der Vorstand der SBB-Cargo, in dem
gleichfalls Vertreter der Sozialistischen Partei (SP) und der Schweizerische Eisenbahner Verband sitzen, einen
Umstrukturierungsplan bekannt. Er forderte die Schließung der Werke in Bellinzona dort sollten 230
Arbeitsplätze abgeschafft, die 200 anderen in ein Privatunternehmen ausgelagert werden , die Schließung der
Geschäftsstellen in Fribourg (165 Beschäftigte) sowie die Vernichtung von 152 Arbeitsplätzen in Basel und 42 in
Biel.
In Biel und Basel hat die Gewerkschaft erfolgreich die
Belegschaften davon überzeugt, dass sie der Umstrukturierung zustimmen sollten. In Fribourg und Bellinzona lief es aber
gänzlich anders. In Fribourg gelang es der Führung des Schweizerischen Eisenbahner-Verbands immerhin, die
Belegschaft davon zu überzeugen, dass sie keinen harten Streik anzettelte.
In Bellinzona aber begann der Streik am 7.März mit einer
Werksbesetzung und endete erst 33 Tage später mit der kompletten Rücknahme des Umstrukturierungsplans durch die
Firmenleitung.
Der Streikmonat war in mehrfacher Hinsicht exemplarisch
vor allem wegen der Entschlossenheit und dem hohen Organisationsgrad der Arbeiter: Täglich führten sie
Betriebsversammlungen durch, die Entscheidungen fällten und Delegationen wählten, die der Versammlung gegenüber
verantwortlich waren und jederzeit abgesetzt werden konnten. Die Firmenleitung versuchte, die Verhandlungen geheim zu
führen, weit weg vom Lärm der Mobilisierung und der direkten Präsenz der Arbeiter. Die Belegschaft hat jedoch
eine gewisse Öffentlichkeit der Verhandlungen durchgesetzt sowie das Prinzip, dass Vollversammlung der Belegschaft
souverän ist.
Die Arbeiter haben es darüber hinaus verstanden, sich an die Bevölkerung zu wenden und ihren Kampf mit dem
Schicksal der gesamten Region zu verbinden. Dadurch ist es ihnen gelungen, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu
verändern und die breiteste Unterstützung zu gewinnen.
Die italienische Schweiz hat eine der höchsten
Arbeitslosenquoten des Landes; die Gehälter sind hier am niedrigsten. Hier siedeln sich viele Unternehmen mit schwacher
Produktivität an, weil man die preiswerte Arbeitskraft der Grenzregion nutzen kann. Hier hätte die Schließung
von SBB-Cargo hätte nicht nur über 430 unmittelbare Kündigungen zur Folge gehabt, sondern zusätzlich 1700
Entlassungen in den kleinen Privatunternehmen, die von dem Werk in Bellinzona abhängen. Darüber hinaus bietet das
Werk vielen Jugendlichen eine hochwertige Berufsausbildung. Das erklärt auch die starke Unterstützung für den
Streik in der lokalen Bevölkerung, für viele Beschäftigte ist er zu einer Art Stellvertreterkampf geworden.
Während des einmonatigen Streiks kamen zahlreiche
Schulklassen in den besetzten Betrieb, um vor Ort die Geschichte der Industrialisierung einer ganzen Region zu erfahren. In
den Werkhallen wurden öffentliche Diskussionen mit Historikern organisiert, um zu erklären, wie die
Industrialisierung sich entwickelt hat. Es gab auch Diskussionen über die Bedeutung des Transports mit der Bahn vor dem
Hintergrund der sich verschärfenden Umweltkrise und Diskussionen über die regionale Unterentwicklung in diesem Teil
des Tessin.
Die Fähigkeit, auch andere Menschen als die 430 Arbeiter
des SBB-Werks anzusprechen, zahlte sich in einem enormen Mobilisierungsschwung aus. Die selbstverwaltete Kantine des besetzten
Werks wurde der Ort, an dem die Leute selbstverständlich zu Mittag aßen über tausend Essen wurden pro
Tag serviert. Die Sportclubs spendeten die Einnahmen aus ihren Spielen dem Streikfonds. Die Gemeinderäte etlicher
Dörfer der Umgebung taten dasselbe. So konnten die Streikenden einen Kampffonds schaffen, der ihnen ermöglicht
hätte, noch zwei Monate durchzuhalten.
Im Verlauf eines Monats hat Bellinzona, eine Stadt mit weniger
als 20000 Einwohnern, zwei Kundgebungen mit mehr als 12000 Personen und eine dritte mit 8000 Teilnehmern erlebt. Zu einer
1.Mai-Kundgebung kommen in der Regel 1000 Leute!
Diese imposante Mobilisierung hat dazu beigetragen, dass die
Firmenleitung von SBB-Cargo eingeknickt ist. Nun soll ein runder Tisch über die Zukunft des Industrieschwerpunkts
Bellinzona eröffnet werden, an dem außer der Firmenleitung die Gewerkschaft, die lokalen Behörden und die
Vertreter des Streikkomitees teilnehmen sollen.
Aufgrund der einmonatigen Streikerfahrung haben die
Beschäftigten von Bellinzona beschlossen, ihre Mobilisierungsstrukturen nicht aufzulösen. Wie der Sprecher des
Streikkomitees, Gianni Frizzo, anmerkte, ist „eine Schlacht gewonnen, aber noch nicht der Krieg” Die Arbeit wurde
wieder aufgenommen, doch jeden Freitagnachmittag wird eine Betriebsversammlung abgehalten.
(Übersetzung: Angela Huemer.)
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