SoZ - Sozialistische Zeitung |
Du hast im Februar 1968 am Vietnamkongress teilgenommen. Mit welchen Erwartungen kamst du damals nach
Berlin, und was passierte dort?
Diese Demonstration war sehr wichtig. Wir kamen mit einer großen Delegation aus Frankreich,
mehrere hundert Leute von unserer Jugendorganisation, der Revolutionären Kommunistischen Jugend (JCR).
Ich kam einen Tag zuvor nach Berlin, um die Demo vorzubereiten und Dutschke zu treffen, der einer der
Hauptorganisatoren war. Rudi sagte, es könne Gewalt geben, die Polizei würde provozieren wollen.
Wir müssten auch wissen, dass die Berliner Bevölkerung der Demonstration feindselig
gegenüberstehe, wir würden isoliert sein, und deshalb werde die Polizei wahrscheinlich
provozieren.
In der Universität fand eine
große vorbereitende Veranstaltung statt, mit Wandzeitungen. Es war nicht wirklich eine
militärische Vorbereitung, weil wir keine Waffen hatten, wir diskutierten jedoch taktische und
strategische Fragen: hier verläuft die Demoroute, hier steht der Ordnerdienst, wenn es in dieser
Straße Probleme gibt, weichen wir dahin aus usw. Das war neu für mich, ich war jung.
Wir waren es in Frankreich absolut nicht
gewohnt, Demonstrationen unter solchen Umständen durchzuführen. Wir haben in Berlin sehr viel
gelernt. Unsere Demonstrationen in Frankreich waren friedlich, wir liefen durcheinander. Wir hatten als
Parole einen Satz, ohne Musik. Hier gab es einen Rhythmus „Che, Che, Guevara”, „Ho, Ho,
Ho Chi Minh” ein paar Wochen später haben wir das auch in Frankreich nachgemacht. So
haben wir 1968 aus Deutschland Parolen nach Frankreich importiert.
Mit Rudi freundete ich mich an. Er hatte
ein kleines Auto, ich glaube es war ein 2CV, ein sehr alter Citroën. In seinem Handschuhfach führte er
einen Revolver mit sich. Ich fragte warum und er sagte: „Schau, die Springerpresse führt eine
ungeheure Schmutzkampagne gegen mich, die Genossen wollen das so. Aber das ist nichts für mich, ich
kann nicht einmal damit umgehen.” Das war das erste Mal, dass ich etwas von Springer hörte.
War in Frankreich die Bevölkerung auch so feindselig?
Nein. Als wir demonstrierten, war in Berlin kein Mensch auf der Straße. Alles war vollkommen
ruhig, nur die Polizei und wir, und am Straßenrand niemand, wir wurden nicht angegriffen, nicht
angeschrien, es war einfach niemand da. In Frankreich war das ganz anders, die Menschen auf der Straße
schauten und riefen uns zu, klatschten, normalerweise gab es eine große Solidarität mit linken
Demonstrationen.
Wie bist du persönlich zur Jugendorganisation der Französischen Kommunistischen Partei
(PCF) und dann zur 68er Bewegung gekommen?
Ich bin in eine PCF-Familie hineingeboren, alle meine Brüder waren in der PCF, meine Eltern waren
Linke, ich habe den Kommunismus also mit der Muttermilch aufgesogen. Als ich klein war, war ich bei den
Pionieren, eine Kinderorganisation der PCF, dann kam ich in die KP-Jugend und wurde Stalinist. Ich war sehr
stalinistisch, das war jeder damals. Als ich an die Uni kam, kam ich erst in den nationalen Vorstand der
Studentenorganisation der PCF, dann wurde ich ihr Sekretär an der Sorbonne. Das war damals eine
große Organisation, wir hatten an der Sorbonne 500 Mitglieder.
In den 60er Jahren traten zum ersten Mal
alle kommunistischen Studentenorganisationen in Opposition zur Führung der PCF das dauerte
fünf Jahre. Es gab scharfe innere Auseinandersetzungen, das war sehr lehrreich für uns. Ich war
einer der Sprecher der sog. linken Opposition zum Stalinismus; 1965 wurden wir aus der PCF und aus der
Studentenorganisation ausgeschlossen. Unsere beiden Hauptkritikpunkte an der PCF-Führung waren damals,
dass sie keine wirkliche Solidarität mit dem algerischen Befreiungskampf organisierte, und ihre
Haltung zum Stalinismus. 1965 bauten wir in Frankreich dann zum ersten Mal eine unabhängige
revolutionäre Jugendorganisation, die JCR, auf; ich war einer ihrer Sprecher.
Was hast du damals als den größten Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich
erlebt?
Es gab Dinge, die diese Jugendbewegung in der ganzen Welt verbanden in Mexiko, Paris, Prag: der
Vietnamkrieg, der die Studentenschaft politisierte, und der Übergang zur Massenuniversität. Zum
ersten Mal öffneten die Universitäten ihre Tore für Kinder der Mittelschicht, sie waren
nicht mehr so elitär, und vielerorts gab es einen Konflikt zwischen dem Ansturm der neuen Generationen
von Studierenden und den archaischen Strukturen der alten Universität wie die Vorlesungen und
Seminare gehalten wurden, wie der Lernstoff aussah usw. Das war allen gemeinsam.
Der große Unterschied lag darin, dass
die Studentenbewegung in Deutschland sehr isoliert von der Arbeiterklasse und der Bevölkerung war. In
Frankreich hatten wir eine andere Tradition, die Lage auf der Linken war ganz anders. Der große
Unterschied zur Revolte überall sonst auf der Welt war, dass in Frankreich nicht nur die Studierenden
revoltierten, sondern zwei Wochen später auch die Arbeiter. In meiner Erinnerung ist nicht so sehr die
an die Studentenbewegung, sondern es sind die 10 Millionen streikenden Arbeiter. Drei Wochen lang hielten
sie die Fabriken besetzt, über denen die rote Fahne wehte.
Solche Bilder kannten wir sonst aus Afrika
und Lateinamerika, viele Menschen sagten: In unseren [imperialistischen] Ländern gibt es so was nicht;
aber nun gab so etwas, wir haben es gesehen.
Warum haben die Arbeiter euren Kampf unterstützt, waren sie solidarisch mit Vietnam, oder waren
sie mit euch gegen die Repression?
Der eine Grund war etwas, was häufig vergessen wird: Einige Wochen zuvor hatte General de Gaulle
einen sehr scharfen Beschluss gegen die abhängig Beschäftigten gefasst, er betraf die
Sozialversicherung. Das rief spontanen Widerstand unter den Arbeitern hervor. Der zweite Grund war, dass De
Gaulle zehn Jahre lang sehr populär gewesen war bei jedem Referendum erhielt er 80% der
Arbeiterstimmen. Es gab damals große Verwirrung in der Arbeiterschaft, er wurde nicht so sehr als ein
Vertreter der Bourgeoisie gesehen, sondern als eine Art Bonaparte, der über den Klassen steht.
Als er dann diesen Beschluss fällte
zur Sozialversicherung, fiel mit einem Mal der Vorhang und die Leute haben verstanden, dass er in
Wirklichkeit rechts und ein Agent der Bosse war. Es gab eine große Desillusionierung. Eine der
Hauptparolen der Arbeiter lautete nun: „Zehn Jahre sind genug!"
Die Arbeiter und die Studenten sind aber
nicht zusammengekommen. Die Arbeiter haben die Parolen der Studenten nie angenommen. Sie folgten den
Studenten vor allem in ihren Aktionsformen. Die Arbeiter waren es gewohnt, dass
Gewerkschaftsbürokraten ihre Demonstrationen anführten, sehr ordentliche und friedliche Demos von
einem Platz zum anderen, ohne Parolen.
Nun hatten die Arbeiter aber genug von
diesen braven Paraden. Die Studierenden praktizierten die direkte Aktion, bauten Barrikaden, wurden
dafür zusammengeschlagen, und die Arbeiter erkannten eine neue Art des Kampfes, und auch, dass man
damit Erfolg haben konnte. Zum Beispiel, als die Polizei die Sorbonne besetzte, wurde um die Sorbonne eine
Barrikade gebaut, da beschlossen Polizei und Regierung, sich zurückzuziehen und die Sorbonne wieder
den Studenten zu überlassen.
Das war ein Erfolg einer neuen Aktionsform.
Damit erklärten sich die Arbeiter solidarisch, aber nur damit. Die Studenten, die extreme Linke hatten
ansonsten überhaupt keine Verbindung zur Arbeiterklasse. Die Aktionen der Arbeiter wurden
vollständig von den Bürokraten der PCF kontrolliert.
Ich erinnere mich noch an den ersten
Streiktag bei Renault in Billancourt. Das war eine der größten Fabriken im Land, 30000 Leute
arbeiteten dort, es hieß: Wenn Renault brennt, steht ganz Frankreich in Flammen. Es war also wirklich
ein Symbol. Als wir vom Streik hörten, waren wir gerade in einer Vollversammlung an der Sorbonne, wir
unterbrachen sie sofort, und zogen umgehend zu Tausenden in einer Demo zu Renault. Die Arbeiter klebten an
den Fenstern, standen auf den Dächern, aber die PCF-Funktionäre hatten alle Tore verschlossen. Es
sollte keinen Kontakt geben, und die Arbeiter schauten uns auch richtig feindselig an als
„Ultralinke, Pseudorevolutionäre” , es gab keinen Beifall, keinen Wortwechsel, die
stalinistische Propaganda hatte gegriffen.
Das erklärt, warum De Gaulle die
Kontrolle über die Lage zurückerobern konnte. Die Studenten waren damals so etwas wie eine
taktische Avantgarde, nicht eine politische. Ohne die Arbeiter konnten sie nichts ausrichten. De Gaulle
hatte sich nach Deutschland geflüchtet. Zwei Tage hindurch lag die Macht auf der Straße, in Paris
gab es eine riesige Demonstration mit mehreren hunderttausend Arbeitern, die riefen: Die Macht dem Volk
das bedeutete aber nichts, weil es keine unabhängige Organisation der Arbeiter gab, niemand
griff nach der Macht.
Da verstand De Gaulle, dass die PCF nicht
bereit war, die Macht auf der Grundlage eines Generalstreiks zu übernehmen, das war ihr zu
gefährlich, sie wäre überrannt worden, wie so oft seit Beginn der Bewegung. De Gaulle schlug
dann Neuwahlen vor, und das war das Ende.
Die Arbeiter fragten: Wem soll die Macht
gegeben werden? Für sie war es nicht glaubwürdig, sie konnten es sich nicht einmal vorstellen,
die Macht Studentenführern zu geben. Sie waren bereit, ihre Aktionsformen zu übernehmen,
Barrikaden zu bauen, auf die Straße zu gehen, sich mit der Polizei zu schlagen, aber nicht, ihnen die
Macht zu geben. Die offiziellen Führer der Arbeiterklasse aber wollten die Macht nicht
übernehmen.
Das erklärt die Niederlage, warum der
Streik nach ein, zwei Wochen aufhörte. Und es erklärt die Stärke der Studentenbewegung, aber
auch ihre Grenzen. Diese Art der Verbindung zwischen Arbeitern und Studierenden gab es nur in Frankreich
und ein Jahr später in Italien. In anderen Ländern war es vorrangig eine Studentenbewegung.
Du hast in den Tagen auch Daniel Cohn-Bendit getroffen, was waren deine Beziehungen zu ihm?
Ich kenne ihn und hatte in den letzten Jahren im Europaparlament mit ihm zu tun. Er war wirklich das
beste Sprachrohr der Studentenbewegung. Er war nicht organisiert, er stand extrem links, ein
Libertärer. Er war kein Mitglied einer anarchistischen Organisation, stand aber dem Anarchismus
politisch sehr nahe. Er brachte genau rüber, was die Studenten wollten, er war unglaublich
anmaßend, wenn er im Radio, mit den alten Ministern usw. sprach. Politisch aber war er sehr schwach.
Das war eine Schwäche dieser Bewegung,
dass es eine Revolte war, keine Revolution, sie richtete sich gegen die kapitalistische Gesellschaft, die
Repression, die Entfremdung, alles mögliche, aber an positiven Zielen gab es nichts, wir hatten kein
neues Programm.
Das erklärt, warum die Koordination
der Bewegung sich täglich zusammensetzte Gewerkschaftsdelegierte, Lehrer, Studenten, Delegierte
revolutionärer Organisationen; ich war auch da, für meine Organisation. Wir diskutierten jeden
Tag eine Stunde, aber es gab nie eine politische Diskussion. Es ging nur darum, was tun wir diese Nacht.
Denn jede Nacht versammelten sich 50000 bis 70000 Studierende im Zentrum von Paris, und wir sollten ihnen
sagen, wohin sie gehen sollten: auf die Champs-Elysées, oder eine Barrikade bauen. Das war aber eine
rein praktische Diskussion. Wir hatten niemals eine politische Diskussion. Und niemand dachte, dass die
Frage der Macht gestellt war.
So war auch Cohn-Bendit, ein Empiriker,
voller Illusionen auch bezüglich der Arbeiterklasse. Das erklärt seine spätere
Entwicklung. Schon damals war es ihm wichtig, wie er im Radio auftrat, wie er sprach, es begann ein
gewisser Personenkult, ohne wirklichen Inhalt.
Man versteht, warum viele führende
Vertreter der 68er nach einer ultralinken Periode, einer Zeit der Provokation, zum Schluss kamen, dass die
Arbeiterklasse nicht mehr existierte. Denn sie wollten die Arbeiter mit einer ultralinken Attitüde
hinter sich bringen; die folgten ihnen aber nicht, woraus sie schlossen, dass es die Arbeiterklasse nicht
gibt.
Was waren die Differenzen zwischen euch und den spontaneistischeren Teilen der Bewegung?
Die Debatte ging um die Organisation der Bewegung. Wir kämpften für kleine
Aktionsausschüsse an jeder Universität, bestehend aus Delegierten, die jeden Tag von den
Vollversammlungen gewählt und ihnen verantwortlich sein sollten. Cohn-Bendit wollte direkte Demokratie
und erklärte, Delegierte, das sei der Beginn der Bürokratisierung. Und dann gab es jeden Tag um 5
Uhr nachmittags eine Versammlung mehrerer tausend Studenten auf dem Platz Denfer-Rochereau, die Studenten
um die große Statue gruppiert, die Studentenführer auf der Statue sitzend, und Cohn-Bendit mit
dem Mikro in der Hand fragt: „Wo wollte ihr heute hingehen?” Alle rufen: „Champs-
Elysées, Place de la Concorde, Quartier Latin” Wer führt in so einer Situation noch: Ist es
Cohn-Bendit mit dem Mikro in der Hand, oder sind es die Leute, die den Ordnerdienst organisieren?
Jedenfalls war das alles andere als demokratisch.
Deshalb gab es eine große Debatte
über Selbstorganisation und wie sie aussehen sollte. Eine der Schwächen der 68er Bewegung war,
dass die Arbeiterklasse für sich blieb, aber die Arbeiterklasse hatte keine Ansätze zur
Selbstorganisation, es gab keine Streikkomitees, keine eigenständige Repräsentation der Menschen,
die kämpften, und als die Frage der Macht aufgeworfen wurde, wurden die Entscheidungen nur von
Bürokraten gefällt, die Arbeiterklasse als solche war nicht organisiert.
In Deutschland gibt es jetzt die Tendenz, 68 auf eine Kulturrevolution zu reduzieren; einige sagen
sogar: 68 war eine totalitäre Bewegung, deren einziger Unterschied zu 33 war, dass sie keinen Erfolg
hatte.
Bis Sarkozy an die Macht kam, haben sich bei uns nur die Faschisten getraut, 68 anzugreifen. Weil so
viele Menschen damals mitgerissen wurden, sie alle haben eine sehr gute Erinnerung an die Zeit, selbst
Menschen, die heute für die Rechten stimmen, erklären ihren Kindern und Enkelkindern: 1968, das
war wunderbar.
Und das war es auch, in einer solchen
Situation, wo alles im Aufruhr ist, ändert sich alles: die Atmosphäre, die Solidarität, die
Beziehungen zwischen den Menschen. Bei jedem Einzelnen wurde eine enorme Kreativität freigesetzt.
Natürlich war es auch eine kulturelle und sexuelle Revolution, die Rolle der Familie änderte
sich... Daran erinnern sich die meisten. Sarkozy hat jetzt versucht, das anzugreifen und als schreckliches
Gift zu diffamieren, aber damit hat er seine eigenen Wähler geschockt, die wollen nicht schuldig sein,
weil sie 68 dabei waren. Denn damals hat fast jeder mitgemacht.
Wichtig war, dass dies die erste Revolte in
einem fortgeschrittenen kapitalistischen Land seit dem Zweiten Weltkrieg war. Für viele Menschen war
es unvorstellbar, dass wir bei uns einen Generalstreik mit roten Fahnen usw. haben könnten. 68 bewies
das Gegenteil. Das ist entscheidend.
Interessant an 68 sind darüber hinaus
die Fingerzeige in die Zukunft. In gewissem Sinn war es eine Übergangsphase, eine Revolte der
traditionellen Arbeiterklasse und des traditionellen studentischen Milieus mit allen Anklängen
an die alte Arbeiterbewegung: die Barrikaden, die Pariser Kommune, die Porträts von Lenin, Trotzki,
Stalin und Mao in der Sorbonne.
Gleichzeitig war es aber auch das Ende der
alten Parolen und der Beginn einer neuen Zeit, mit neuen sozialen Bewegungen, einer neuen Arbeiterklasse,
mit einer gewissen Bildung, aber unfähig, einen Arbeitsplatz zu finden, mit neuen Forderungen. Vor
allem nach 68 sind neue soziale Bewegungen entstanden: Häuserbesetzungen, Migranten-, Frauen- und
Ökologiebewegungen. Das ist heute sehr wichtig, aber es hat 1968 angefangen.
Wieviele Mitglieder hattet ihr damals?
Als die Bewegung begonnen hat, waren wir 400500, am Ende knapp 1000. Die Polizei glaubte, wie
seien mehrere tausend, weil wir gut organisiert waren. Kleine Gruppen können einen Einfluss
ausüben, der ihre reale Größe um ein Vielfaches übersteigt, wenn sie mitten in der
Bewegung stecken, nicht isoliert sind und die Stimmungen und die Forderungen der Menschen genau zum
Ausdruck bringen.
Warum wird jetzt gegen 68 so scharf polemisiert?
Ich glaube, sie haben Angst; sie fürchten eine Zusammenführung der Kämpfe, Tumulte, eine
neue Welle des Widerstands. Wir erleben derzeit eine tiefe Krise und einen realen sozialen Krieg gegen die
arbeitende Bevölkerung, nicht nur in Frankreich. Die Unternehmer wollen keine Zugeständnisse mehr
machen, das ist der Grund, weshalb die Sozialdemokraten vor dem Liberalismus kapitulieren. 68 ist so etwas
wie ein Symbol für gesellschaftlichen Aufbruch. Das wird attackiert, jedem Ansatz von einer
gesellschaftlichen Alternative erklären Leute wie Sarkozy den Krieg.
Für uns ist es wichtig, nicht nur
zurückzuschauen, sondern ein zukünftiges 68 vorzubereiten. Ich möchte an einem 68 arbeiten,
das Erfolg hat.
Tut das nicht die globalisierungskritische Bewegung?
Das ist eine sehr fortschrittliche Bewegung, wunderbar, weil Millionen Menschen wieder sagen: Eine
andere Welt ist möglich. Aber sie wendet sich nur gegen die Folgen des Kapitalismus; es gibt
verschiedene Strömungen in ihr, und einige wollen nur eine Reform der bestehenden Institutionen. Es
ist keine revolutionäre Bewegung.
Nein, ich denke, wir können von 68
lernen, dass eine globale Mobilisierung, ein Generalstreik, eine massive Politisierung auch in Frankreich
oder Deutschland möglich sind und wie wir es das nächste Mal besser machen müssen. Das wird
andere Formen annehmen als vor 40 Jahren.
Die neuen Protestgenerationen setzen ganz
andere Akzente. Historische Traditionen, Programme, die großen Führer der internationalen
Arbeiterbewegung, das interessiert sie nicht. In den Veranstaltungen von jungen Leuten hängt kein
Porträt von Mao, es gibt höchstens T-Shirts von Che Guevara. Von der russischen Revolution wissen
sie nichts, die junge Generation vertraut keinem Modell mehr, nur ihrem eigenen Kampf.
Liegt darin nicht auch eine Gefahr?
Natürlich, aber wir können ihnen kein Modell überstülpen, wir müssen Wege
einer echten Politisierung finden. Ich glaube, das geht über wirkliche Erfahrungen von
Massenmobilisierung. Als bei uns gegen die Herabsetzung der Einstiegslöhne für junge Leute
gekämpft wurde, lud man mich erst am Schluss ein, über allgemein gesellschaftliche Fragen wie
Ökologie, Sozialismus, Demokratie, gesellschaftliche Kontrolle usw. zu sprechen. Politisierung findet
heute ganz anders statt.
Der große Unterschied zu früher
ist: Heute ist es für einen Revolutionär viel schwieriger glaubwürdig zu sein. Wir
müssen nicht nur sagen, da sind wir dagegen, sondern vor allem wofür wir sind. Wir müssen
den Leuten nicht erklären, wie dramatisch die Verhältnisse sind, sondern ihnen glaubhaft machen,
dass eine andere Gesellschaft möglich ist.
Das ist die Stärke unseres Kandidaten
[der LCR] Olivier Besancenot. Der Junge ist in Frankreich so populär, weil er ganz anders redet als
wir Alten. Nicht der Inhalt ist anders, sondern die Art aufzutreten. Olivier denunziert nicht, sondern
erklärt, dass die Forderungen erfüllt und mit Erfolg gestellt werden können, dass
Gesellschaft tatsächlich anders funktionieren kann. Dann ist es nicht nur ein Traum, es ist eine
Entscheidung, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wir müssen viel positiver wirken.
Wir brauchen keinen Gedenkstein für
1968, wir müssen vermitteln: 1968 ist aktuell...
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Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
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