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Um 23.30 Uhr entstehen 50 Barrikaden. Die Studenten hatten durch Megafon und
mit Hilfe von Stadtplänen die Masse der Demonstranten in Trupps von jeweils einigen tausend
aufgeteilt. Die Straßen werden fachgerecht mit Pickel, Stemmeisen und Schaufeln, die von der
Bevölkerung zur Verfügung gestellt wurden, aufgebrochen, und an jeder Barrikade bilden sich circa
46 Ketten von jeweils 50 Mann, die die Pflastersteine von den Baustellen zur Barrikade reichen. Man
hört Sprechchöre und die Internationale. Ansonsten ist alles ruhig. Straßenschilder dienen
als Wegweiser.
Der Grundstock jeder Barrikade sind zwei
Meter Pflastersteine, darauf schiebt man Autos, Holz, das in Benzin getränkt wird, und Äste, um
den CRS [eine paramilitärische Polizeitruppe] den Einblick in die Straßen zu verwehren. Die
Barrikaden befinden sich jeweils im Abstand von 200 Metern. Rauchen und jeglicher Gebrauch von Feuerzeugen
und Streichhölzern wird strengstens untersagt, und man hält sich daran. Journalisten, die sich an
das Gebot nicht halten wollen, wird die Zigarette aus dem Mund genommen.
Um zwei Uhr nachts ist der Barrikadenbau
beendet. Nun wird in Sprechchören in allen Teilen des besetzten Gebiets nach der Solidarität der
Arbeiter gerufen. Inzwischen hatte sich das Gerücht verbreitet, dass sich Hunderte von Arbeitern vor
den Parteilokalen der KP versammelt hätten, die die Parteiführung zur Solidarität mit den
Studenten aufforderten.
Noch am Abend hatte die KP-Führung die
Studentenbewegung, die sie von Anfang an scharf verurteilt hatte, als eine „kleine Minderheit von
Abenteurern, Anarchisten und Trotzkisten” bezeichnet, und der Rektor der Universität hatte
hinzugefügt, es handele sich um „une dizaine denragés” um „einige
zehn Wildgewordene” Nun riefen 30000 junge Revolutionäre nach der Solidarität der Arbeiter.
Kurz nach 2 Uhr kommt die erste Durchsage durch die Lautsprecher, dass die KP sich gerade zur
Solidarität mit den Studenten erklärt habe. Diese Nachricht wird mit großem Jubel
aufgenommen.
Kurz nach dem Aufruf der KP zur
Solidarität erklärten die Gewerkschaften, an der Spitze die CGT, die im heutigen Frankreich die
Mehrheit der französischen Arbeiter hinter sich hat, einen Generalstreik für den 13.Mai. Die
Studenten hatten politisch gesiegt. Von seiten des Establishments jedoch war dies erst der Beginn der
„roten Nacht” des Quartier Latin. Und es war nun gleichzeitig eine Zeitfrage: Um 6 Uhr beginnt
der Verkehr in den Straßen. Die von den CRS und den Studenten blockierten Straßen gehören
zum Herzen von Paris. Man hat noch vier Stunden, um die Straßen für den Verkehr freizugeben.
Um 2.30 Uhr bekommen die CRS Anweisung, die Barrikaden zu beseitigen, den Kontakt mit den Demonstranten
jedoch „so weit wie möglich zu vermeiden” Nun breitet sich eine unheimliche Stille
über das Quartier Latin. Die Barrikaden stehen, und es sind, wie der Rundfunk bekannt gibt,
„keine Barrikaden zum Lachen” Auf ihnen stehen Hunderte von jungen Demonstranten, z.T. mit
Molotowcocktails bewaffnet. Zwischen den Barrikaden befinden sich in dichten Reihen die Studenten und
Schüler, ein Drittel davon Mädchen. Und alles schweigt. Man erwartet die Anweisungen der Ordner.
Der Angriff der Polizei beginnt um 2.40 Uhr
im Boulevard St.Michel, Ecke Rue Gay-Lussac und Rue Royer-Collard mit Tränengas und Rauchbomben, die
mit Gewehren über die Dächer in die Straßen und zwischen die Barrikaden direkt in die Menge
der Demonstranten geschossen werden. Die Hilfe der Bevölkerung, die sich vorher in Hunderten von
Tassen Kaffee, Wasser und Butterbroten geäußert hatte, kam nun spontan durch Laken,
Mulltücher und Plastiktüten für diejenigen zum Ausdruck, die keine Brillen hatten. Man
verteilt in Zucker getränkte Tücher, schleppt einige, die direkt von den Bomben getroffen waren,
in die Häuser und hält stand.
Durch Megafon hatten einige Ärzte und
Studenten die Bevölkerung aufgefordert, Wasser aus den Fenstern zu schütten, um das Gas, das in
dichten Schwaden in den engen Straßen stand, zu neutralisieren, und prompt regnet aus den Fenstern
warmes Wasser. Nach zwanzig Minuten ist klar, dass Tränengas und Rauchbomben die Studenten nicht
vertreiben werden. Die ersten Barrikaden stehen noch immer mit 200 Studenten besetzt, die sich ständig
abwechseln.
Nun beginnt eine neue Aktion: Die Polizei
schießt mit Chlorgas über die Dächer in die ersten Reihen hinter den ersten Barrikaden.
Innerhalb von Sekunden legt sich auf den blaugrauen Rauch ein gelbgrüner. Und nun wird das Atmen
schwer. Mund und Hals beginnen zu brennen. Aus der Reihe auf den ersten Barrikaden und direkt dahinter
müssen sich die Studenten zurückziehen. Sie tun dies jedoch erst, nachdem sie die Barrikade in
Brand gesteckt haben und die Polizei so daran hindern, die Menge der Studenten, die sich nur langsam hinter
die zweite Barrikade zurückziehen kann, direkt zu attackieren. Einige Rauch- und Tränengasbomben
explodieren auf den Jalousien eines Eckcafés der Rue Gay-Lussac und der Rue Royer-Collard und stecken
diese in Brand. Dies gibt den Studenten Zeit, sich hinter die zweite Barrikade zurückzuziehen und den
Raum zwischen der ersten und der zweiten Barrikade mit Autos vom Straßenrand, deren Beschädigung
man zuvor sorgfältig vermieden hatte, zu verstellen. Die Wagen werden quer über die Straße
verteilt.
Nach einer Stunde, etwa nach 3 Uhr, nimmt
die Polizei die erste Barrikade ein. Der Raum zwischen den Barrikaden ist nun voller Chlor- und
Tränengas, sodass das Atmen trotz des Wassers, das ununterbrochen aus den Fenstern regnet, nicht mehr
möglich ist. Man zieht sich geschlossen hinter die zweite Barrikade zurück.
Die Polizei hat in der Zwischenzeit ihre Kräfte umgesetzt. Sie greift nun nicht mehr frontal,
sondern über Nebenstraßen an, die wesentlich enger und durch Barrikaden abgesperrt sind. Ein
Ordnungsdienst mit einem kleinen Kastenwagen und Megafon verteilt nun auch die Kräfte der Studenten
neu. Inzwischen ist klar, dass das Rote Kreuz nicht in der Lage ist, die Polizeikordons von außen zu
durchbrechen und zu wenig Pflegepersonal im besetzten Viertel ist. Medizinstudenten werden nun mit Binden
des Roten Kreuzes versehen und in die elementarsten Arbeiten eingeweiht. Einige Personenwagen werden mit
roten Kreuzen bemalt für den Transport von Verwundeten vorbereitet. Die Bevölkerung liefert
Decken und Laken.
Inzwischen entwickelt sich um die zweite
Barrikade in der Rue Gay-Lussac ein schwerer Kampf. Die Polizei war mit Gasmasken in das durch Chlor und
Tränengas freigemachte Gebiet zwischen den beiden Barrikaden eingedrungen. Sie schießt nun
Rauchbomben, Chlor und Tränengas direkt in die Menge der Studenten.
Die Demonstranten beschließen jedoch,
diese Barrikade in jedem Fall zu verteidigen, bis sich die Mehrheit der Studenten hinter die nächste
Barrikade zurückziehen kann. Sie greifen nun ihrerseits zum ersten Mal an. In dichten Reihen, mit
Helmen, Brillen und Tüchern vor Mund und Nase und bewaffnet mit Pflastersteinen erwarten sie die
Trupps der CRS, die wegen der brennenden Autos und eines völlig undurchsichtigen Rauchs selbst nur
langsam vorwärts kommen.
Die Bevölkerung versucht weiterhin,
durch Hunderte von Eimern Wasser, die aus den Fenstern geschüttet werden, den Raum hinter der zweiten
Barrikade so schnell wie möglich von Giftgasen freizumachen. Als ein Arzt die ersten Zeichen von Chlor
an den Bewusstlosen entdeckt und sich Hunderte von Studenten über brennende Schleimhäute und
Zungen beklagen, erkundigt sich ein Journalist bei der Polizei, ob sie tatsächlich Chlor benutzen. Er
wird bewusstlos geschlagen und muss sofort ins Krankenhaus transportiert werden. Noch heute bestreitet der
Polizeipräsident den Einsatz von Chlor.
Zu seinem Pech haben die
Krankenhäuser, in die Verletzte transportiert werden, bekannt gegeben, dass es sich einwandfrei um
Chlorverletzungen handele. Darüber hinaus wurde eine nicht geöffnete Chlorgaspatrone sicher
gestellt, bei der es sich um ein amerikanisches Produkt handelt.
Seit dem Eindringen der Polizei in das von
den Studenten besetzte Viertel entwickelt sich für sie ein Zweifrontenkampf. Sie haben vor sich die
sich verteidigenden Studenten und um sich die feindliche Bevölkerung, die nun ebenfalls vereinzelt mit
Steinen aus den Fenstern wirft, vor allem aber die Polizei laut beschimpft.
Jeder Angriff und jede Festnahme wird mit
einem Chor aus den Fenstern begleitet:
"Ist das die Art, wie man die Jugend
behandelt?” „Faschisten”, „Gangster” Polizeitrupps ziehen in die Häuser,
um Verhaftungen vorzunehmen. Man schießt Rauchbomben in die Fenster und verletzt damit auch die
Bevölkerung, die sich nun immer zahlreicher auf die Seite der Studenten schlägt. Trotzdem gelingt
es mit Hilfe der ängstlichen Conciergen gegen 5 Uhr früh, einige Dächer zu besetzen und von
dort Tränengas, Rauchbomben und Chlor direkt in die dicht besetzten Straßen zu schießen.
Aber es entsteht in keinem Augenblick unter den Genossen Panik. Sie halten sich nach wie vor an die
Anweisungen des Ordnerdienstes. Die Bürgersteige werden für die Motorräder der Boten, die
mit roten Tüchern gekennzeichnet sind, frei gehalten.
Um 5.30 Uhr fällt die zweite Barrikade in der Rue Gay-Lussac. Es gibt über 150 zum Teil schwer
Verletzte, von denen nur ein kleiner Teil in Krankenhäuser gebracht werden kann. Alle anderen sind auf
die Hilfe der Bevölkerung angewiesen. Verletzte Polizisten werden sofort vom Roten Kreuz aus den
Polizeikordons hinaus geschleust. Inzwischen sind auch an anderen Stellen die äußeren Barrikaden
von der Polizei eingenommen.
Nachdem einige Trupps der Polizei einen
Teil der Dächer besetzt halten, werden nun auch Studenten auf die Dächer geschickt, die von oben
die Polizei mit Steinen und Ziegeln angreifen. So kommt es zum ersten Schwerverletzten unter den Leuten der
CRS, die nun den Befehl zum „totalen Einsatz” mit allen Mitteln außer Schusswaffen
erhalten. Alle von den Studenten besetzten Straßen werden nun über die Dächer mit
einem Regen von verschiedenen Gasen bedeckt, und das Atmen wird unmöglich.
Man versucht, nach allen Seiten
auszubrechen und gerät auf diese Weise überall in direkten Kontakt mit den Trupps der CRS. Viele
der Demonstranten haben sich inzwischen mit Deckeln von Abfalleimern als Schilder gegen die Steine der
Polizei bewaffnet. Es spielen sich nun grausame Szenen in den Straßen ab. Die CRS, die aufs Ganze
gehen, versuchen in international bewährter Taktik, sich einzelne herauszugreifen, sie zu schlagen und
zu verhaften. Da dies bei der guten Organisation der Genossen fast unmöglich ist, werfen sie sich auf
Leichtverletzte, prügeln zu mehreren auf sie ein und schleppen sie danach halb bewusstlos in die
vergitterten Polizeiwagen.
Dass es trotz der 400 zum Teil schwer
Verletzten keine Toten gab, liegt ganz offensichtlich an der guten Ausrüstung der Studenten und an
einer Organisation, die in Westeuropa ihresgleichen sucht. Diese Tausende von Studenten und Schülern
haben keine einheitliche politische Führung. Sie sind zum großen Teil nicht einmal Mitglied einer
Organisation. An der Spitze der Demonstration stehen ca. fünf verschiedene politische Organisationen,
die sich alle links von der französischen KP befinden und keinesfalls politisch einer Meinung sind. Da
all diese Organisationen einen eigenen politischen Standpunkt haben, war es bisher schwer, eine
Einheitsfront herzustellen.
Als diese Organisationen sich jedoch einer
geschlossenen Repression durch das Establishment gegenüber sahen und da ihre Ziele letztlich die
gleichen sind der Sturz des bürgerlichen Staates, ein sozialistisches Frankreich und Europa,
eine Arbeiteruniversität , stellten sie ihre Diskussionen über die verschiedenen Taktiken
und Wege zu diesem Ziel hinten an und akzeptierten spontan die revolutionäre Disziplin einer
einheitlichen Aktion.
So wehte am 13.Mai auf der Sorbonne und auf
der Place de la République die rote Fahne.
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