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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2008, Seite 24

”..ist man verpflichtet, eine neue revolutionäre Taktik zu finden"

Betrachtungen über den Nutzen des Barrikadenkampfs

von THOMAS KUCZYNSKI

Heutzutage empfinden wir Barrikadenkämpfe als etwas Modernes. Thomas Kuczynski erinnert daran, wie alt diese Kampftaktik ist, und zeigt anhand von Friedrich Engels, wie zwiespältig Revolutionäre ihr mitunter gegenüberstehen.

Die ersten Barrikaden wurden schon in der Antike, im Dritten Punischen Krieg, errichtet, der Krieg, der das große Karthago zerstörte.
Barrikaden waren immer ein Verteidigungswerk, schnell errichtet mit dem nächst besten Material — Steine, Bäume, Balken, Ketten, Wagen, Hausgeräte usw., um Tore, Gebäude, Straßen gegen Angriff zu sichern und den Verteidigern wirksamen Schutz und Deckung zu gewähren. So steht es in Schem‘s Deutsch-amerikanischem Conversations-Lexicon von 1869.
Die Verfassungsschützer sollten sich diese sehr brauchbare Definition gut merken: Nie haben die Angreifer die Barrikaden errichtet, sondern immer die Verteidiger. Deshalb gab es in den großen siegreichen Revolutionen Europas keine Barrikadenkämpfe — nicht in der englischen von 1640, nicht in der Französischen von 1789, auch nicht in der Oktoberrevolution von 1917. Und deshalb kann die Erinnerung an frühere Barrikadenkämpfe auch nie ungetrübt sein, sie waren meist kein erfolgreicher Angriff auf die alte Ordnung, sondern eine verzweifelte Verteidigung dessen, was die Aufständischen zuvor errungen hatten.
Der Geburtsort der modernen Barrikade ist Paris — aber nicht das der Februarrevolution von 1848 und auch nicht das der Julirevolution von 1830, die Barrikade wurde 1588 erfunden. In dem reaktionären Staats- und Gesellschafts-Lexikon des Königlich-Preußischen Justizrats Hermann Wagener heißt es: „In den Kämpfen der katholischen Ligue unter dem Herzog von Guise gegen König Heinrich III. im Jahre 1588 kommen zum ersten Male Barrikaden, und zwar mit Erfolg, zur Anwendung; von diesem Zeitpunkt ab scheint den unteren Schichten der unruhigen Bevölkerung dieser Hauptstadt ... eine zeitweise Auflehnung gegen die Staatsgewalt, gleichviel ob dieselbe absolut, konstitutionell oder republikanisch war, gewissermaßen zum Bedürfnis geworden zu sein. — Daraus entwickelte sich eine gewisse Virtuosität in der Erbauung der Barrikaden als des geeignetsten Widerstandsmittels, und von Paris aus haben dieselben, als Aggregat der von dort durch Europa gehenden revolutionären Bewegung von 1848 den Weg durch fast alle bedeutenden Städte Deutschlands, Frankreichs und Italiens gemacht."
Dieser 12.Mai 1588 ging als der erste Barrikadentag in die französische Geschichte ein. Der sog. zweite Barrikadentag fand erst sechzig Jahre später statt, am 27.August 1648. Diesmal waren die Katholiken am Ruder, die Hugenotten errichteten die Barrikaden.
Welch weitreichende Wirkung von diesem zweiten Tage ausgegangen ist, ersehen wir daraus, dass noch über 200 Jahre später der deutsch-nationale Antisemit und Historiker Heinrich von Treitschke darauf hingewiesen hat, wie „das alte Kampfmittel aus den Straßenschlachten der Hugenotten und der Fronde” seit 1830 von Frankreichs Nachbarvölkern gelehrig aufgenommen worden sei. Bei seiner Anklage hatte Treitschke allerdings übersehen, dass sich schon zuvor einige Städte Europas durch Barrikaden verteidigt haben — in Spanien beispielsweise Saragossa gegen Napoleon 1808, in Deutschland 1813 Dresden und Kassel usw. Die erste Geschichte der Barrikade, Ludovic Vitets Les barricades, scènes historiques, erschien bereits 1826 in Paris.

(Nicht mehr) unüberwindlich

Zweifelsohne hatten die Barrikadenkämpfe der Julirevolution eine enorme Wirkung. Der Liberale Carl Welcker schilderte sie 1835 so: „Die berühmtesten aller Barrikaden aber sind bekanntlich diejenigen, welche 1830 in der Nacht vom 27. auf den 28.Juli in Paris in allen Straßen und Querstraßen von 100 zu 100 Schritten errichtet wurden, ein Beispiel, welches bald darauf Brüssel in seiner Septemberrevolution nachahmte. Wenn die Bürger einer großen Stadt entschlossen und mutig zusammenhalten, so wie in der Julirevolution die Pariser und besser als neuerlichst die Bürger von Madrid, und wenn vollends selbst Frauen und Kinder so wie in der Septemberrevolution in Brüssel aus den Fenstern der Häuser mit Pflastersteinen, mit siedendem Öl und Wasser gegen die andringenden Soldaten kämpfen, so kann eine solche Barrikadenverteidigung fast unüberwindlich werden, wenn die angreifende Kriegsmacht so, wie wohl allermeist die eigne Landesregierung, Bedenken trägt, die Stadt von außen in Brand zu schießen."
In dem oben genannten Lexikon von Wagener, 25 Jahre später in Berlin erschienen, klingt das alles ganz anders: „Befangen in dem lange herrschend gewesenen, jetzt hoffentlich für immer beseitigten Vorurteil, die Barrikadierung einer Stadt sei selbst durch die überlegensten Mittel nicht zu verwehren, wodurch die bewaffnete Macht an der selbständigen rechtzeitigen Entfaltung der nötigen Kräfte verhindert und der Kampf überall erst möglich wurde, wichen die Regierungen wie vor Gespenstern bei dem bloßen Erscheinen der gefürchteten Barrikaden, und halfen die Idee von der Unbezwinglichkeit jener Revolutions-Waffe befestigen, oft ohne nur Miene zu machen, die ihnen zu Gebote stehenden Gewaltmittel dagegen in Anwendung zu bringen. Da, wo die Leitung des Kampfes noch rechtzeitig energischen Händen anvertraut wurde, wie in Paris im Juni 1848, in Prag, Frankfurt und Wien, waren die Truppen fast immer Sieger, und in den wenigen Fällen, wo sie weichen mußten, trugen entweder Umstände, an denen die Kämpfenden selbst keinen [An-]Teil hatten, wie in Berlin, oder aber die Anwendung zu schwacher oder unzuverlässiger Streitkräfte und deren Zersplitterung sowie schlechte Verpflegung, wie in Brüssel 1830 und Mailand 1848, die Schuld."
In aller nur wünschenswerten Offenheit stellen die Herren Verfasser klar, wie in diesem System, in diesem Land, in dieser Stadt gegen Barrikadenkämpfer vorzugehen ist, und zwar bis zum heutigen Tage: „Dass bei allen Barrikadenkämpfen, wenn sie möglichst wenig verlustvoll für die Truppen — und das ist Pflicht der Führer — abgehen sollen, es an Beschädigung von Privateigentum und Verletzung oder Tötung manches Unschuldigen nicht fehlen kann, ist klar — die Schuld fällt auf das Haupt derer, welche die von Gott verordnete Obrigkeit zur Erzwingung des schuldigen Gehorsams, die mit dem Schwert auch die Pflicht, es nötigenfalls zu brauchen, übernommen hat, herausgefordert haben; — den mit Niederwerfung des Aufstands beauftragten Truppenführer können und dürfen solche Rücksichten von keiner Maßregel zurückhalten, die er zur Erreichung seines Zweckes nehmen zu müssen glaubt; jede Konzession an den bewaffneten Aufruhr kann von unermeßlichem Nachteil für das Ganze, für ihn selbst mit Verlust der militärischen Ehre verbunden sein; für ihn gilt nur das schlagende Wort des Fürsten Windischgrätz, das er [1848] unberufenen Humanitäts-Rücksichten bei der Erstürmung von Wien entgegensetzte: Eine Stadt ist leichter wieder aufzubauen als ein Staat."

Friedrich Engels und die Barrikade

Diese Gegenwirkung der Barrikade, diese Rücksichtslosigkeit und Brutalität derer auf der anderen Seite der Barrikade, war und ist es, was seit dem Juni-Aufstand von 1848 in Paris selbst Erzrevolutionäre immer wieder schwankend werden ließ in ihrem Verhältnis zum Barrikadenkampf. Ich möchte das am Beispiel von Friedrich Engels zeigen, der etwas von diesen Dingen verstand. Manches hat er übrigens genauso und früher gesehen wie die hier schon zitierte Gegenseite, jedoch anders gewertet.
Am 1.Juli 1848, sogleich nach dem gescheiterten Aufstand, schrieb er über den Revolutionär Kersausie (irrtümlicherweise davon ausgehend, daß dieser schon erschossen sei): „Erschießen können ihn die Bourgeois, aber ihm nicht den Ruhm nehmen, dass er zuerst den Straßenkampf organisiert hat. Erschießen können sie ihn, aber keine Macht der Erde wird verhindern, dass seine Erfindungen in Zukunft bei allen Straßenkämpfen benutzt werden. Erschießen können sie ihn, aber nicht verhindern, dass sein Name als der des ersten Barrikadenfeldherrn in der Geschichte fortdauert."
Vier Jahre später, im März 1852, meint er dagegen: „Die Proletarier von Paris wurden geschlagen, dezimiert, zerschmettert, dermaßen, dass sie sich von dem Schlag bis heute noch nicht wieder erholt haben. Und sofort erhoben in ganz Europa die neuen und alten Konservativen und Konterrevolutionäre das Haupt mit einer Frechheit, die zeigte, wie gut sie die Bedeutung der Ereignisse verstanden ... Zudem war zum erstenmal seit dem Februar bewiesen worden, dass es ein Irrtum war, eine Volkserhebung in einer großen Stadt für unbesiegbar zu halten; die Ehre der Armee war wiederhergestellt; die Truppen, die bisher in jedem Straßenkampf von Bedeutung den kürzeren gezogen, gewannen wieder die Zuversicht, auch dieser Art Kampf gewachsen zu sein."
Weitere zwei Jahre später, im August 1854, schreibt er angesichts der spanischen Revolution und dem „Schauspiel einer erfolgreichen Barrikadenschlacht” wieder anders: „Wo seit dem Juni 1848 auch Barrikaden errichtet worden waren, hatten sie sich bisher als unwirksam erwiesen. Barrikaden ... schienen ganz ohne Wirkung zu sein. Dieses Vorurteil ist beseitigt. Wir haben wieder siegreiche, unangreifbare Barrikaden gesehen. Der Bann ist gebrochen. Eine neue revolutionäre Ära ist wieder möglich geworden..."
Vierzig Jahre später schwankt er immer noch.
Am 3.November 1892 teilt er Paul Lafargue mit: „Die Zeitungsberichte über die entsetzliche Wirkung der neuen Sprenggeschosse [beim französischen Kolonialkrieg] in Dahomey werden Sie gelesen haben. Ein junger Wiener Arzt ... hat die Verwundungen gesehen, die die österreichischen Sprenggeschosse bei dem Streik von Nürmitz angerichtet haben, er sagt uns dasselbe. Natürlich wollen die Menschen, die sich der Gefahr aussetzen, auf diese Weise in Stücke gerissen zu werden, wissen, warum. Das ist ausgezeichnet, um den Frieden zu erhalten und auch um die sogenannten revolutionären Anwandlungen im Zaum zu halten, auf deren Explodieren unsere Regierenden nur warten. Die Ära der Barrikaden und Straßenschlachten ist für immer vorüber; wenn die Truppe sich schlägt, wird der Widerstand Wahnsinn. Also ist man verpflichtet, eine neue revolutionäre Taktik zu finden. Ich habe seit einiger Zeit darüber nachgedacht, bin aber noch zu keinem Ergebnis gekommen."
Genau ein Jahr später, am 3.November 1893, dagegen schreibt er Karl Kautsky: „Du sagst selbst, Barrikaden seien veraltet (sie können aber wieder nützlich werden, sobald die Armee zu 1/3—2/5 sozialistisch ist und es drauf ankommt, ihr Gelegenheit zum Umfallen zu geben), aber der politische Strike muss entweder sofort siegen — bloß durch Drohung (wie in Belgien, wo die Armee sehr wacklig war) — oder aber in einer kolossalen Blamage endigen oder schließlich direkt auf die Barrikaden führen."
Und im März 1895, anderthalb Jahre später, in der Einleitung zu Karl Marx‘ Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, äußert er sich sehr vorsichtig, als ob er geahnt hätte, dass dies sein letztes Wort zum Thema sein würde. Und mit diesem Zitat möchte ich denn auch schließen, jenen Schlusssatz unterstreichend, den er bei der Erstveröffentlichung, wie er Kautsky mitteilte, in Rücksicht auf die „umsturzvorlagenfurchtsamlichen Bedenken” des Berliner Parteivorstands der SPD gestrichen hatte: „Selbst in der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte ... die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Festigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen. Es ist dies der Hauptpunkt, der im Auge zu halten ist, auch wenn man die Chancen etwaiger künftiger Straßenkämpfe untersucht."


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