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Die Rubrik
„Schwarze Chronik” gibt es in der SoZ nicht. Diesmal machen wir eine Ausnahme, angesichts eines
Verbrechens, das in seiner Ungeheuerlichkeit manche Menschen sprachlos macht, andere eine verräterische
Sprache verwenden lässt und wieder andere endlich zum Sprechen ermutigt.
Ein Vater von sieben Kindern hat in einer
österreichischen Kleinstadt seine Tochter seit ihrem 11.Lebensjahr missbraucht. Als sie 19 war, sperrte
er sie in einen Keller und vergewaltigte sie von da an 24 Jahre lang. Sieben Kinder bringt die Tochter zur
Welt, „im Verlassenen”, wie die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede
Jelinek über den Abgrund von Amstetten schreibt (www. elfriedejelinek.com).
Nur wenige Medien treffen den richtigen Ton,
darunter der österreichische Radiosender Ö1. Ein Tag nach Bekanntwerden des Falls wird hier
„Zivilcourage” thematisiert, das Hinsehen, die richtige Art der Anteilnahme.
Zu diesem Zeitpunkt hatte noch keiner der
Nachbarn oder Bekannten jemals irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt. „Er hat immer
freundlich gegrüßt”, fast scheint es, als hätten die Amstettener, die den
internationalen Medien Rede und Antwort stehen, ihre Angaben aufeinander abgestimmt. „Freundlich
grüßen” ist ein wesentlicher Bestandteil von guter Erziehung. An sich nicht verwerflich,
aber ziemlich nervig, wenn man als Kind schüchtern ist und vielleicht auch oft spürt, dass die,
die man „schön grüßen” soll, keine „braven” Menschen sind, dass ihnen
etwas Unheimliches anhaftet.
Andere Medien, die den richtigen Ton
treffen, lassen Frauen zu Wort kommen, die jahrzehntelang nicht sprechen konnten oder, wenn sie es
schafften, ohne Gehör blieben. In der österreichischen Fernsehsendung Thema erzählen sie ihre
Geschichten, die so furchtbar sind, dass ich sie hier nicht wiedergeben kann und will. Sie ähneln alle
einander, Vergewaltigungen die mehrfach, hundert- und tausendfach erduldet wurden, keiner, dem sie sich
anvertrauen können, die Komplizenschaft der Umgebung, nicht zuletzt der Mütter.
Auch abseits der Medien kommen solche
Geschichten zur Sprache, ein schon lange toter Großonkel, der sich an seiner Tochter verging und das
bei seiner Nichte versuchte, die jedoch sofort Alarm schlug und sofort Gehör fand. Geschichten von der
bösen alten Zeit, über Frauen, die vollkommen ausgeliefert waren, eine Ordnung, die man nicht in
Frage stellen konnte oder wollte. Geschichten von kleinen Mädchen, denen der nette Onkel oder Freund
der Familie bereitwillig half, den Wein aus dem Keller zu holen, und dabei nicht einmal ansatzweise
Schuldgefühle verspürten, oder Angst „verpfiffen” zu werden.
Stammtischgerede darüber, dass man ja
aus lauter Gutherzigkeit der bedauernswürdigen Prostituierten im Puff am Ortsrand ein paar Euro mehr
gibt. Keineswegs glaube ich, dass hier eine nationale Komponente eine Rolle spielt, es sind hierarchische,
durch Angst aufrechterhaltene Beziehungsgeflechte.
Gut ist, dass diese Geflechte ihren
Schrecken mehr und mehr verlieren, dass bei vielen Menschen, die in solchen Strukturen groß wurden,
diese Hierarchie keine Bedeutung mehr hat.
"Verbrechen dieser Dimension offenbaren
einen Riss in der Welt, den Medien, Leser und Zuschauer, alle am Zeitgeschehen teilhabenden Menschen ebenso
manisch wie unzulänglich zu kitten versuchen”, schreibt Nils Minkmar treffend in der FAZ-
Sonntagszeitung. Die Kittversuche reichen vom Versuch, das Verbrechen mit dem Nationalcharakter zu
erklären, bis zur Charakterisierung des Täters als „grenzgenial”,
„tüchtig”, mit „überhöhter sexueller Potenz” gesegnet. Daneben
versucht der Anwalt ihn als geistig abnorm darzustellen es hat den Anschein, die sog. Allgemeinheit
ist darüber fast erleichtert, als würde sie es als Lösung akzeptieren.
Die Medien, die nur falsche Töne
treffen, kitten den Riss mit grausamer Neugier. Während Paparazzi mit Gewalt versuchen, zu den Opfern
vorzudringen, liefern Boulevardzeitungen unmoralische Analysen.
Die Kronen-Zeitung, proportional zur
Bevölkerung die größte Zeitung der Welt, bringt in ihrer Pfingstausgabe neben
Muttertagsgedichten, Anzeigen der rechtsextremen FPÖ, Gedanken zum Sonntagsevangelium, Annoncen von
Etablissements mit „jungen Asiagirls mit russischer Verstärkung” eine
Gegenüberstellung der „Parallelen des Grauens": die beiden „Horror-Ingenieure”
(der Entführer von Natascha Kampusch und der Täter von Amstetten). Beide fahren deutsche
Limousinen, haben „diabolische Seelenkrankheiten”, übten „charismatische Macht”
auf ihre Opfer aus, all das trieft vor „schauriger Bewunderung”
Die Zeitschrift News empörte alle, als
sie auf der Titelseite Bilder und Namen von den Opfern zeigte. „Der Wucht des einmaligen Dramas von
Amstetten” waren unsere Maßstäbe „offenbar nicht angemessen”, entschuldigten
sich die Chefredakteure. Die Maßstäbe reichen jedoch dafür, das sog. „Protokoll des
Grauens” erstellt aus den Gesprächen des Verteidigers mit dem Täter erstellt
reißerisch und psychologisch verbrämt zu präsentieren. Die Tochter hielt sich, wird der
Täter zitiert, an keine Regeln, trank Alkohol, rauchte, er versuchte sie aus dem Sumpf zu holen. Sie
trieb sich mit miesen Personen herum, die kein guter Umgang waren. Da sie sich ihm entzog, ausriss, musste
er ja einen Ort schaffen, an dem er sie „irgendwann möglicherweise zwangsweise von der
Außenwelt fernhalten konnte”
Der Anwalt ergänzt, die Polizei habe
die Sache hochstilisiert und sei deshalb daran schuld, dass „Medien Österreich beschimpfen”
Der Täter habe zwar seine Kinder im Keller festgehalten, „sie dort aber nicht extra
gequält”
Da es mir angesichts solcher
Medienmaßstäbe und Einschätzungen buchstäblich die Sprache verschlägt, kann ich
meine Überlegungen nur mit Shakespeare enden: „Der Rest ist Schweigen”
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
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