SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 07

Das neue Bayerische Versammlungsgesetz

Versammlungsfreiheit — ein Gnadenakt?

von ANJA KÖHLER

Bayern führt durch die Hintertür das Polizeistaatsdenken wieder ein.
Mit der Föderalismusreform 2006 ging die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht auf die Länder über. Bayern hat nun als erstes Bundesland einen eigenen Gesetzesentwurf vorgelegt. Es lässt von diesem Grundrecht kaum noch etwas übrig.
Dabei atmete bereits das alte Versammlungsgesetz in weiten Teilen keinen liberalen Zeitgeist. Schon die geltende Anmeldepflicht für Versammlungen unter freiem Himmel ist grundrechtlich bedenklich und diente eher der Vereitelung, als der Verwirklichung des Bürgerrechts nach Art.8 GG.
Der Staat rechtfertigt dies damit, er wolle das Recht auf Versammlungsfreiheit mit den Rechten Dritter in Einklang bringen und müsse zudem genügend Zeit zur Verfügung haben, die zur Durchführung der Versammlung notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Das BayVersG geht jetzt aber einen Schritt weiter und dehnt die Anzeigenpflicht auch auf Versammlungen in geschlossenen Räumen aus. Deren Notwendigkeit kann man nicht mehr begründen.
Gänzlich neu sind die erweiterten Anforderungen, die jetzt an eine Anmeldung gestellt werden. So soll der Versammlungsleiter zukünftig einer weitreichenden Kooperationspflicht unterliegen; je nach Größe der Versammlung hat er eine bestimmte Zahl an Ordnern zu benennen und sie mit ihren Personalien der Polizei zu melden. Auf der Versammlung selbst steht er in der Verantwortung, das staatliche Ordnungsdenken gegenüber den Versammlungsteilnehmern durchzusetzen.
An dieser Stelle kann die Polizei in jede Veranstaltung reinfunken. Bislang waren nur verbotene Parteien und Vereinigungen, sowie Menschen, die im Namen dieser Vereinigungen und Parteien agierten oder einen Teil ihrer Grundrechte qua Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verwirkt hatten, vom Recht auf Versammlungsfreiheit ausgeschlossen.
Nach dem neuen Gesetz kann die Versammlungsbehörde einen Anmelder oder Ordner schon ablehnen, wenn sie meint, dieser sei unzuverlässig oder ungeeignet, für Ordnung zu sorgen, bzw. gerade von ihm könne eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehen. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verkommt damit zum willkürlichen Gnadenakt der Versammlungsbehörde.
Unzuverlässigkeit erwächst juristisch bekanntlich aus einschlägigen Vorstrafen, zu denen dann auch ein Verstoß gegen das „Militanzverbot” zu zählen sein wird. Unter Militanz versteht der Gesetzgeber aber keineswegs die tatsächliche Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten durch die Versammlungsteilnehmer, sondern die durch Kleidung oder Auftreten hervorgerufene Vermittlung eines gewaltbereiten Eindrucks, sofern dieser einschüchternd wirkt. Was genau darunter zu verstehen ist, bleibt der subjektiven Sicht des jeweiligen polizeilichen Einsatzleiters überlassen.
In den Ausführungen zum Gesetz heißt es, man wolle mit dem Militanzverbot gegen „gewaltbereite Autonome” (sic!) vorgehen, die man ebenso wie Neonazis mit einem eigenen Paragrafen bedenke. Die totalitarismustheoretische Weltsicht durchzieht den gesamten Gesetzesentwurf. Letztlich richtet sie sich immer gegen links.
Angesichts solcher Klopper muten andere im Gesetz enthaltene Verschärfungen fast harmlos an. Die Frist für eine Anmeldung wurde von 48 auf 76 bzw. 96 Stunden heraufgesetzt, die Befugnisse der Behörden zum Abfilmen von Versammlungen und dem (präventiven!) Speichern der dabei gewonnenen Daten erheblich ausgeweitet und ein wie auch immer geartetes „Rücksichtnahmegebot” konstruiert, mit dem das Recht auf Versammlungsfreiheit einer stärkeren Abwägung mit den Rechten Dritter unterworfen wird.
Alles in allem offenbart sich im BayVersG ein grundlegender Wandel von einem bürgerlich-liberalen in ein obrigkeitsstaatliches Rechtsverständnis. Grundrechte werden hier nicht mehr als Rechtspositionen verstanden, die dem selbstbewussten Bürger eine Handhabe gegen staatliche Eingriffe in den eigenen Lebensbereich geben, sondern als Großzügigkeit des Staates. Die (ideologische) Trennung von Staat und Gesellschaft scheint aufgehoben.
Der Bürger verkommt zum Untertanen, der durch subalternes Verhalten und Treue zum bestehenden System die Freiheit erhält, seine — systemkonforme und daher des grundrechtlichen Schutzes nicht mehr bedürfende — Meinung zu sagen.
Das Recht auf Versammlungsfreiheit gehört zu den großen Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen und ist für eine bürgerliche Demokratie konstitutiv. Bei aller Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft sollten wir diese Errungenschaft verteidigen.


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