SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 10

Nur EU-Kriterien gelten

Europäischer Gerichtshof stellt Unternehmerfreiheit über Tarifgesetz

von CHRISTINE WICHT

Am 3.April hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden, dass ein Bundesland bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen keine Tariflöhne vorschreiben kann. Dieses Urteil ist von elementarer Bedeutung, weil der EGV (Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) den wirtschaftlichen Grundfreiheiten eine höhere Priorität einräumt als den arbeitsrechtlichen Koalitionsfreiheiten. Es stellt insbesondere die Bestrebungen der SPD in Frage, einen Mindestlohn über Entsenderichtlinien in einzelnen Branchen durchzusetzen.
Das Oberlandesgericht Celle hatte den EuGH gebeten zu prüfen, ob das niedersächsische Landesvergabegesetz mit der Dienstleistungsfreiheit nach Art.49 des EGV vereinbar ist. Nach niedersächsischem Gesetz dürfen Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen vergeben werden, die sich schriftlich verpflichten, ihren Beschäftigten mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu bezahlen. Der Auftragnehmer ist zudem daran gebunden, dass er diese Verpflichtung auch Nachunternehmern auferlegt und ihre Beachtung überwacht. Bei Nichteinhaltung wird eine Vertragsstrafe fällig. Damit soll unfairer Wettbewerb zulasten der Löhne verhindert werden.
Der EuGH sah im niedersächsischen Landesvergabegesetz einen Verstoß gegen geltendes EU-Recht. Seiner Meinung nach können ausländische Unternehmen, die Staatsaufträge in Deutschland annehmen, nicht dazu verpflichtet werden, Tariflöhne zahlen. Das Urteil bindet die deutsche Gesetzgebung und Rechtsprechung, weil das EG- Recht dem nationalen Recht vorgeht. Dies bildet einen der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts.
Die wirtschaftsliberalen Grundfreiheiten bilden den Kern der europäischen Verträge. Sie werden im Vertrag von Lissabon fortgeschrieben. Bislang war die Debatte um diesen Vertrag für viele Bürger eher abstrakt, weil eine Kritik an sog. Freiheitsrechten immer schwierig ist, solange nicht konkret wird, zu wessen Lasten die Wirtschaftsfreiheiten gehen und wozu sie führen können.

Rosdorf

Im genannten Fall ging es um den Bau des Gefängnisses in Rosdorf bei Göttingen. Aufgrund der Bestimmungen des niedersächsischen Landesvergabegesetzes verpflichtete sich das beauftragte Unternehmen Objekt und Bauregie GmbH den beim Bau der Justizvollzugsanstalt eingesetzten Beschäftigten die im Baugewerbetarifvertrag festgeschriebenen Löhne zu zahlen. Ein polnisches Unternehmen, Subunternehmer von Objekt und Bauregie, zahlte jedoch seinen auf der Baustelle eingesetzten 53 Arbeitern nur 46,57% des Tariflohns.
Nachdem der Werkvertrag aufgrund von Strafverfolgungsmaßnahmen gekündigt worden war, stritten das Land Niedersachsen und der Insolvenzverwalter über das Vermögen des Unternehmens Objekt und Bauregi, und darüber, ob es wegen Verletzung der Entgeltverpflichtung zur Zahlung einer Vertragsstrafe in Höhe von 84934,31 Euro (entsprechend 1% der Auftragssumme) verpflichtet sei.
Das Oberlandesgericht Celle als Berufungsgericht hatte Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der die Vertragsstrafe vorsehenden Bestimmungen und legte die Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vor. Die Frage lautete: Steht der freie Dienstleistungsverkehr der gesetzlichen Verpflichtung eines öffentlichen Auftragnehmers entgegen, den Arbeitnehmern mindestens das tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu zahlen? Der EuGH bejahte diese Frage und begründete:
"Der Lohnsatz nach dem Baugewerbe- Tarifvertrag ist nicht nach einer der in der Richtlinie vorgesehenen Modalitäten festgelegt worden. Zwar gibt es in Deutschland ein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, doch ist der Baugewerbe-Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden. Außerdem erstreckt sich die Bindungswirkung dieses Tarifvertrags nur auf einen Teil der Bautätigkeit, da zum einen die einschlägigen Rechtsvorschriften nur auf die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbar sind und nicht für die Vergabe privater Aufträge gelten und zum anderen der Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist. Die landesrechtlichen Vorschriften entsprechen somit nicht den Bestimmungen der Gemeinschaftsrichtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern, nach denen die Mitgliedstaaten bei einer staatenübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen Mindestlohnsätze vorschreiben können."

Viking Line

Rosdorf ist nicht der einzige Fall; es gibt zwei weitere Fälle, die in dieselbe Richtung weisen:
Die Viking Line ist eine finnische Fähre, die zwischen Finnland und Estland verkehrt. Damit sie die estnische Besatzung nach estnischem Lohnniveau beschäftigen kann, hat das Unternehmen angekündigt, die Fähre in Estland umzuflaggen. Daraufhin hat die finnische Seeleutegewerkschaft (FSU) angekündigt zu streiken und Viking Line aufgefordert, auch im Falle einer Umflaggung das finnische Recht weiter zu beachten, die finnische Besatzung nicht zu entlassen und einen Tarifvertrag abzuschließen. Die Forderungen der finnischen Gewerkschaft wurden von der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) unterstützt. Daraufhin hat Viking Line gegen die beiden Gewerkschaften eine Unterlassungsverfügung beantragt. Die Sache kam vor den EuGH, der in seinem Urteil vom 11.Dezember 2007 feststellte:
"Kollektive Maßnahmen, die darauf abzielen, ein ausländisches Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrags mit einer Gewerkschaft zu veranlassen, der geeignet ist, das Unternehmen davon abzubringen, von seiner Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, beschränken diese Freiheit."

Laval/Vaxholm

Die lettische Gesellschaft Laval hat Arbeiter aus Lettland nach Schweden entsandt, um eine Schule in der schwedischen Stadt Vaxholm zu renovieren. In Schweden wird der Mindestlohn, der auch für entsandte Beschäftigte gelten soll, durch Tarifverträge festgelegt. Obwohl die schwedische Bauarbeitergewerkschaft und Laval verhandelt haben, unterzeichnete Laval einen Tarifvertrag mit der lettischen Bauarbeitergewerkschaft, was die schwedische Gewerkschaft dazu veranlasste, sämtliche Baustellen von Laval in Schweden zu blockieren. Dem Arbeitskampf schloss sich auch die schwedische Elektrikergewerkschaft an. Die Gewerkschaften wurden von Laval auf Schadenersatz verklagt.
Der EuGH stellte in seinem Urteil vom 18.Dezember 2007 fest: „...dass das Streikrecht zwar anzuerkennen ist und Bestandteil des Gemeinschaftsrechts darstellt. Dieses Recht könne sich jedoch nicht dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und insbesondere dem Anwendungsbereich der Grundfreiheiten entziehen. Das Mindestmaß an Schutz für entsandte Arbeitnehmer/innen sei von der Entsende-Richtlinie festgelegt und jeder Versuch, durch Kollektivmaßnahmen ein Unternehmen zum Abschluss eines Tarifvertrags zu zwingen, der über den Mindestschutz der Entsende-Richtlinie hinausgeht, stelle eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar."

Darf die EU nationales Recht missachten?

Die Rechtsprechung des EuGH zeigt, dass die Wirtschaftsfreiheiten über den in Sonntagsreden viel beschworenen Zielen eines sozialen Europas stehen. Die in den nationalen Gesetzen und Verfassungen festgeschriebenen sozialen Rechte sollen die EU-weite wirtschaftliche Betätigungsfreiheit nicht mehr binden. Art.9 Abs.3 Grundgesetz gilt nur noch eingeschränkt.
Arbeitnehmer sind den Bedingungen des Wettbewerbs weitgehend schutzlos ausgeliefert. Und inländische Firmen werden diskriminiert, weil sie die nationalen Regeln einhalten müssen. Ausländische Firmen hingegen können die Regeln über die öffentliche Auftragsvergabe umgehen, nur weil sie ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben.
Bestimmungen, die die sozialen Rechte etwa bei der Mitbestimmung oder bei anderen Arbeitnehmerrechten besonders schützen, sucht man im europäischen Vertragswerk vergeblich. Im Gegensatz zum Grundgesetz, das wirtschaftspolitisch neutral ist, werden in den EG-Verträgen offene Märkte, freier und unverfälschter Wettbewerb, Privatisierung, unternehmerische Freiheit, kurz: eine marktliberale Wirtschaftsauffassung festgeschrieben.
Nach dem EGV ist das Streikrecht aus dem Kompetenzbereich der EU explizit ausgeschlossen (Art.137 Abs.5 EGV). Das Gleiche gilt für das Koalitionsrecht und die daraus folgenden Tarifverträge. Das hat den EuGH aber nicht daran gehindert, das in Finnland bestehende Arbeitskampfrecht mit dem Verweis auf die Höherrangigkeit des EU-Rechts zu beschränken. Die Missachtung der demokratischen und repräsentativen Funktion der autonomen Tarifverhandlungen durch den EuGH führt nach kritischen Einschätzungen in der arbeitsrechtlichen Literatur zu einer Tarifzensur.
Im Unterschied zu Schweden ist in Deutschland der Mindestlohn nur in einigen wenigen Branchen für entsandte Arbeitnehmer über das Entsendegesetz geregelt. Die Laval-Entscheidung ist dennoch für das deutsche Recht von Bedeutung, denn sie eröffnet die Möglichkeit zur Tarifkonkurrenz mit ausländischen Tarifverträgen: Wenn ein Gesetz, das nach ausländischem Recht abgeschlossene Tarifverträge nicht anerkennt (was beim schwedischen Gesetz der Fall war) vom EuGH für nicht vereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erklärt wird, stellt sich künftig die Frage, unter welchen Voraussetzungen das deutsche Recht einen nach ausländischem Recht abgeschlossenen Tarifvertrag anerkennen muss.
Stark gekürzt und bearbeitet. Quelle: MdB-Büro Ulla Lötzer, Fraktion DIE LINKE.


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