SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 12

60 Jahre Israel, 60 Jahre Vertreibung

Legenden über Staatsbildung und Gegenwart

von MICHAEL WARSCHAWSKI

Die Gründung des Staates Israel zu feiern ist in sich eine problematische Sache, denn wenn es dabei für viele um die Schaffung einer Zuflucht für die dem Völkermord Hitlers Entronnen ging, ist es doch auch der Sieg eines kolonialen Projekts, der hier gefeiert wird.
Dies Jubiläum zu feiern, ohne die unmittelbaren Opfer der Gründung des Staates Israels auch nur zu nennen, ist regelrecht obszön: Während die jungen Bürger des neuen jüdischen Staates im Zentrum von Tel Aviv tanzten, zogen Hunderttausende Bewohner des Landes ins Exil. Daran zu erinnern ist wichtig, wenn man nicht der Leugnung von Verbrechen schuldig werden will. Denn die Gründung Israels hat zwei Seiten, die nicht voneinander zu trennen sind: die jüdische Souveränität und die Enteignung der Araber. Die Unabhängigkeit der einen hat aus den anderen Flüchtlinge gemacht.
War es ein tragischer Unfall der Geschichte? Nein, und das ist eine der vielen Legenden, die den Zionismus und die Gründung des jüdischen Staates umranken. Tatsächlich kann man von zwei Serien von Legenden sprechen: solche, die sich um die Gründung Israels ranken, und solche, die sich auf die Gegenwart beziehen.
Zur ersten Kategorie gehört die Legende, die das Palästina der Frühzeit als „Land ohne Volk für ein Volk ohne Land” beschreibt. Denn wenn es stimmt, dass das jüdische Volk (ein Begriff, der selber stark umstritten ist) keineswegs souverän ist, ist es falsch, Palästina als leeres Land zu beschreiben: Ein Volk lebt dort und hat, im Gegensatz zu den Vorstellungen der Orientalisten, eine Landwirtschaft und, seit den 20er Jahren, auch den Ansatz einer Industrie entwickelt. Teil der Legenden um die Gründung von Israel ist auch die „Flucht der Flüchtlinge” Die Neuen Historiker Israels haben dieser kolossalen Lüge den Garaus gemacht: Die Palästinenser sind zu einem Volk von Flüchtlingen geworden infolge eines sorgfältig geplanten ethnischen Säuberungskriegs, nicht durch den schlagartigen Wunsch, ihr Land in Richtung Zelte des UN-Flüchtlingskommissars zu verlassen.
Die Legenden rund um die Realität des jüdischen Staates dienen seit nun fünf Jahrzehnten als Hintergrund für eine Propagandakampagne, deren Wirksamkeit nicht zu leugnen ist. Nennen wir drei davon:
„Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten.” Der Staat Israel definiert sich selbst nicht als Demokratie, sondern als „jüdischer und demokratischer Staat” Die Nuance ist von Bedeutung: „Jüdischer Staat” beinhaltet einen privilegierten Status, der in die Verfassung und Gesetzgebung des Staates eingeschrieben ist, zugunsten einer Gemeinschaft und zum Schaden der anderen — was dem demokratischen Prinzip widerspricht. Der Zugang zu Land und zum Recht auf Niederlassung sowie die Gesetze, die die Einwanderung regeln, sind nicht dieselben für jüdische und arabische Bürger — selbst wenn letztere über die gleichen Bürgerrechte verfügen. Es ist daher völlig unpassend, von einer Demokratie zu sprechen.
„Israel ist eine egalitäre Gesellschaft”, sogar ein Beispiel des „demokratischen Sozialismus” Das bestätigen angeblich die Kibbutzim und die zentrale Rolle der Histadruth, eine in der Welt einzigartige Einrichtung, da sie zugleich Gewerkschaftsverband, der größte Arbeitgeber der Schwerindustrie, die zweite Bank des Landes, Sozialversicherung, der größte Sportverband und noch einiges mehr ist. Der Politologe Zeev Sternhell hat diesem Mythos den Garaus gemacht, indem er zeigte, dass all diese Institutionen, auch der ökonomische Kollektivismus, nur ein — provisorisches — Instrument waren, um einen modernen Staat von oben durchzusetzen, da die Möglichkeit, ihn von unten organisch zu entwickeln, nun einmal nicht gegeben war... Wie es auch in Dutzenden anderer Länder der Fall war, die neu aus der Entkolonialisierung entstanden sind.
„Die Juden sind aus den arabischen Ländern spontan eingewandert.” In ihrer Mehrzahl aber sind sie durch geheime Abkommen mit den arabischen Regimen und durch Manipulationen gezwungen worden, ihr Vaterland zu verlassen — darunter auch durch Attentate des zionistischen Geheimdienstes.
Wenn die neuen israelischen Historiker heute in aller Welt bekannt sind, gilt das nicht für die „neuen Soziologen” und andere Kritiker der israelischen Gesellschaft und Staates, die es ermöglicht haben, dass die Legenden um diese Realität radikal in Frage gestellt werden. Diese kritische Recherchearbeit hat stark dazu beigetragen, dass sich soziale Bewegungen entwickelt haben, die in Israel ein „anderes Israel” fordern — ein egalitäreres und gegenüber anderen offeneres, seien sie nun Juden oder nicht.
Der Kampf für einen demokratischen und laizistischen Staat ist heute, nach 60 Jahren Existenz Israels, wichtiger denn je. Es wird ein gemeinsamer jüdisch-arabischer Kampf sein, ein Kampf, der die zionistischen Grundsätze in Frage stellt. Anders wird es ihn nicht geben, andernfalls würde Israel immer mehr die Züge eines Apartheidstaats annehmen.

Der Autor ist Leiter des Alternative Information Center (AIC) in Jerusalem.


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