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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 13

Israel

Die ethnische Säuberung Palästinas 1948

von ILAN PAPPÉ

Der israelische Historiker und Autor des Buches Die ethnische Säuberung Palästinas (siehe SoZ 12/07) beschreibt, wie der Staat Israel gegründet wurde.

An einem kalten Mittwochnachmittag, dem 10.März 1948, arbeitete eine Gruppe von elf erfahrenen zionistischen Führern mit jungen jüdischen Offizieren an den letzten Punkten eines Plans zur ethnischen Säuberung Palästinas. Noch am selben Abend gingen Militärbefehle an die Einheiten vor Ort, um die systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Gebieten des Landes vorzubereiten.
Die Befehle enthielten detaillierte Beschreibungen der anzuwendenden Methoden für die zwangsweise Vertreibung des Volkes: umfassende Einschüchterung; Belagerung und Bombardierung der Dörfer und der Siedlungen; Brandstiftung an Häusern, Hab und Gut; Vertreibung der Bewohner; Zerstörung der Häuser und schließlich Verminung der Ruinen, um eine Rückkehr der Bewohner zu verhindern. Jede Einheit bekam eine eigene Liste von Dörfern oder Stadtteilen, die sie sich nach dem Gesamtplan vornehmen sollte. Der Deckname war Plan Dalet.
Es war die vierte und letzte Version der Pläne, die sich mit dem Schicksal der einheimischen Bevölkerung Palästinas befassten. Die vorausgegangenen drei Pläne hatten sich noch sehr unklar darüber ausgedrückt, was die zionistische Führung mit der Anwesenheit so vieler Palästinenser in dem Land vorhatte, welches die jüdische Nationalbewegung für sich selber wollte. Dieser vierte und letzte Entwurf sagte sehr klar und eindeutig: Die Palästinenser haben zu verschwinden.
Der Plan Dalet war die unvermeidliche Folge der zionistischen ideologischen Kampagne für eine ausschließlich jüdische Präsenz in Palästina und eine Reaktion auf die Entwicklungen nach der britischen Entscheidung im Februar 1947, das Mandat abzugeben und an die UNO zurückzugeben.
Zusammenstöße mit lokalen palästinensischen Milizen, besonders nach der UN-Teilung im November 1947, lieferten den perfekten Vorwand für die Erfüllung der ideologischen Vision eines ethnisch gesäuberten Palästina.
Nach Abschluss des Plans dauerte es noch sechs Monate, bis die Mission erfüllt war. Am Ende waren über 750000 Menschen — mehr als die Hälfte der Bevölkerung Palästinas — entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und elf Städte von ihren Bewohnern „befreit” Der Plan, über den am 10.März 1948 entschieden wurde, war ein klarer Fall für das, was man heute ethnische Säuberung nennt.

Das Vorspiel

Das Potenzial für eine Übernahme des Landes durch Juden und die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung war von Anfang an in den Schriften der Gründungsväter des Zionismus angelegt. Doch erst in den späten 30er Jahren — 20 Jahre nach der Balfour-Erklärung von 1917, in der die britische Regierung versprach, Palästina in eine nationale Heimstätte für die Juden zu verwandeln — begannen die zionistischen Führer damit, ihre abstrakte Vision in konkretere Pläne zu übersetzen.
1937 empfahl die königlich-britische Peel-Kommission die Teilung des Mandatsgebiets in zwei Staaten. Obwohl das für den jüdischen Staat bestimmte Gebiet für die zionistischen Ambitionen zu klein ausfiel, reagierte die Führung positiv, weil ihr die Bedeutung einer offiziellen Anerkennung des Prinzips eines jüdischen Staates wenigstens in einem Teil Palästinas bewusst war. 1942 schlug sie schon eine maximalistische Strategie ein: Bei einem Treffen im Biltmore-Hotel in New York legte der zionistische Führer David Ben Gurion Forderungen nach einem jüdischen Reich im gesamten Mandatsgebiet Palästina auf den Tisch.
Der von der zionistischen Bewegung begehrte geografische Raum hat sich je nach Umständen und Möglichkeiten geändert, aber das Hauptziel blieb immer dasselbe: in Palästina einen rein jüdischen Staat zu schaffen, eine sichere Zufluchtstätte für Juden und Wiege für einen neuen jüdischen Nationalismus. Dieser Staat sollte nicht nur seiner soziopolitischen Struktur nach, sondern auch seiner ethnischen Zusammensetzung nach ausschließlich jüdisch sein.
Dass der zionistischen Spitze die Auswirkungen solcher Ausschließlichkeit vollkommen bewusst war, wird aus ihren internen Debatten, aus ihren Tagebüchern und aus ihrer privaten Korrespondenz deutlich. Ben Gurion schrieb 1937 z.B. in einem Brief an seinen Sohn: „Die Araber werden gehen müssen, aber man benötigt einen passenden Moment, z.B. einen Krieg, damit dies passiert.” Während die meisten seiner Kollegen darauf hofften, ihr Ziel durch den Kauf von Land und Häusern hier und dort erreichen zu können, hatte Ben Gurion längst begriffen, dass dies nicht reichen würde. Er erkannte früh, dass der jüdische Staat nur mit Gewalt gewonnen werden konnte, dass es aber notwendig war abzuwarten, bis der geeignete Moment dazu gekommen war.
Die von Ben Gurion angeführte zionistische Bewegung ging unverzüglich daran, sich auf eine gewaltsame Landnahme vorzubereiten, sollte sie auf diplomatischem Wege nicht möglich sein. Die Vorbereitungen schlossen den Aufbau einer effizienten militärischen Organisation sowie die Suche nach größeren finanziellen Mitteln ein (die sie in der jüdischen Diaspora fanden).
Die hauptsächlich paramilitärische Organisation der jüdischen Gemeinde in Palästina war 1920 aufgebaut worden, vor allem um jüdische Siedlungen zu verteidigen, die zwischen palästinensischen Dörfern errichtet worden waren. Sympathisierende britische Offiziere halfen mit, sie in eine richtige Armee zu verwandeln, die schließlich in der Lage war, die Pläne des zionistischen Militärs zu erfüllen.

Kurs auf Krieg

Als das Ende des Zweiten Weltkriegs nahte, wurden die Vorstellungen der zionistischen Bewegung, wie sie einen Staat erreichen könnte, langsam klarer. Zu jener Zeit wurde deutlich, dass die Palästinenser kein wirkliches Hindernis darstellten. Sie stellten zwar die überwiegende Mehrheit im Lande und insofern ein demografisches Problem, aber sie wurden nicht mehr als militärische Bedrohung empfunden. Die Briten hatten die palästinensische Führung und Verteidigungsfähigkeit schon 1939 vollkommen zerstört, als sie den arabischen Aufstand 1936—1939 unterdrückten. Letztere war sich auch über die zögerliche Haltung der arabischen Staaten in der Palästinafrage im klaren. Als nach der Schlacht von El-Alamein die Gefahr einer Nazi-Invasion gebannt war, wurde ihr bewusst, dass das einzige verbleibende Hindernis für die Übernahme des ganzen Landes die Präsenz der Briten war.
Nach dem Ende des Krieges und angesichts einer Labourregierung, die nach einer demokratischen Lösung in Palästina suchte — was bei einer arabischen Bevölkerungsmehrheit von 75% den Untergang des zionistischen Projekts bedeutet hätte — war klar, dass die Briten gehen mussten.
Das Hauptproblem für die zionistischen Pläne, der Kampf gegen die Briten, löste sich 1947 mit deren Entscheidung, Palästina zu verlassen und die Frage an die UNO zu übergeben.
Schon Ende 1946 — noch vor der britischen Entscheidung — war Ben Gurion klar geworden, dass die Briten abziehen würden. Mit seinen Mitarbeitern begann er, an einer Strategie zu arbeiten, wie gegen die palästinensische Bevölkerung nach dem Abzug der Briten vorgegangen werden könnte. Dies wurde der Plan C.
Genau wie die anderen Pläne sollte Plan C die jüdischen Streitkräfte für eine Offensive gegen das ländliche und städtische Palästina vorbereiten. Die palästinensische Bevölkerung sollte davon abgeschreckt werden, jüdische Siedlungen anzugreifen, Angriffe auf jüdische Häuser und Straßen hingegen gerächt werden.
Plan C erklärte deutlich, wie Strafaktionen auszusehen hatten: Vergeltungsaktionen gegen die politische Führung; gegen Aufwiegler und ihre finanziellen Unterstützer; gegen Araber, die Juden angriffen; gegen ranghohe arabische Offiziere und Angestellte der Mandatsregierung; gegen das palästinensischen Transportsystem; gegen die Quellen des Lebensunterhalts und wichtige wirtschaftliche Ziele (Wasser, Mühlen); gegen Dörfer und Stadtteile, die bei künftigen Angriffen mitmachen konnten; gegen Clubs, Kaffeehäuser, Versammlungsstätten...
Einzelheiten der Operation fehlten im Plan. So wurde innerhalb weniger Monate ein neuer Plan aufgestellt, der Plan Dalet. Im Gegensatz zum Plan C enthielt er direkte Hinweise auf geografische Parameter (78% auf der Karte der jüdischen Agentur von 1946) und auf das Schicksal von einer Million Palästinensern, die in diesem Gebiet lebten. Kein Dorf innerhalb des geplanten Operationsgebiets wurde von den Befehlen ausgenommen. Ähnliche Instruktionen — zuweilen mit demselben Wortlaut — gab es für Aktionen in palästinensischen Städten.
Die Order, die direkt an die Einheiten vor Ort gingen, waren genauer. Das Land war nach der Zahl der Brigaden in Zonen eingeteilt, wobei die vier ursprünglichen Brigaden der Haganah (der zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation) in zwölf aufgeteilt wurden, um die Ausführung des Plans zu erleichtern. Jeder Brigadekommandeur erhielt eine Liste der Dörfer oder Stadtteile seiner Zone, die zu einem bestimmten Zeitpunkt besetzt und zerstört und deren Bewohner vertrieben werden sollten. Einige Kommandeure waren beim Ausführen der Order übereifrig und fügten im Eifer des Gefechts weitere Örtlichkeiten hinzu.
Die israelischen Dokumente aus den Armeearchiven, die in den 90er Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, zeigen deutlich — entgegen den Behauptungen von Historikern wie Benny Morris —, dass der Plan Dalet für die Brigadekommandeure keine vage Richtlinie waren, sondern klarer, eindeutiger Befehl zum Handeln. In dem den Militärkommandeuren ausgehändigten Plan waren keine Maßnahmen vorgesehen, wie Dörfer ihrem Schicksal entgehen konnten, z.B. durch bedingungslose Kapitulation.
Und es gab noch einen Unterschied zwischen dem Plan, der den Politikern, und dem, der den Militärs gegeben wurde: Ersterer sollte erst nach dem Ende des britischen Mandats in Kraft gesetzt werden, die Offiziere vor Ort aber erhielten den Befehl, mit seiner Durchführung wenige Tage nach Erhalt der Order zu beginnen. Diese Doppelzüngigkeit ist typisch für die Beziehungen, die in Israel zwischen Armee und Politik bis heute bestehen. Die Armee informiert die Politik falsch über ihre wirklichen Absichten — so taten es Moshe Dayan 1956, Ariel Sharon 1982 und Shaul Mofaz 2000.

Neues Paradigma

In meinem neuen Buch (Die ethnische Säuberung Palästinas) wird der Mechanismus der ethnischen Säuberung von 1948 dargelegt und das kognitive System erklärt, das es ermöglichte, dass die Welt (dies alles) vergessen und die Täter die von der zionistischen Bewegung begangenen Verbrechen gegen das palästinensische Volk leugnen konnten. Ich möchte das Paradigma des Krieges durch das Paradigma der ethnischen Säuberung ersetzen — als Grundlage für die wissenschaftliche Forschung und die öffentliche Debatte über 1948.
Es ist nicht so, dass die zionistische Bewegung, indem sie den Nationalstaat gründete, einen Krieg begann, der „tragischerweise, aber unvermeidlich” zur Vertreibung von Teilen der einheimischen Bevölkerung führte. Es ist eher umgekehrt: Die ethnische Säuberung des Landes war das Ziel, wonach die Bewegung trachtete, um den Staat zu gründen. Der Krieg war die Folge, das Mittel, um sie auszuführen. Am 15.Mai, einen Tag nach dem offiziellen Ende des Mandats und dem Tag, an dem der Staat Israel proklamiert wurde, schickten die benachbarten Staaten eine kleine Armee — klein im Vergleich zu ihren militärischen Fähigkeiten. Sie sollte versuchen, die ethnische Säuberung, die schon seit über einem Monat in vollem Gang war, aufzuhalten. Der Krieg mit den regulären arabischen Armeen bewirkte an keiner Stelle, dass die fortschreitende ethnische Säuberung verhindert wurde. Sie wurde erfolgreich bis in den Herbst 1948 fortgesetzt.

Gekürzt aus: Inprekorr, Nr.438/439, Mai/Juni 2008.


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