SoZ - Sozialistische Zeitung |
In der Diskussion, welche Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit gefunden
werden kann, reicht die Debatte von der defensiven Verteidigung des heutigen Sozialstaats bis zu seiner
Abschaffung. Von vielen wird das bedingungslose Grundeinkommen als Ausweg gepriesen. Dazu gibt es die
vielfältigsten, auch sich widersprechende, Modelle. Kein Wunder, hat doch auch die Kapitalseite die
Vorzüge des bGE entdeckt. WOLFGANG RATZEL diskutiert, was seine Einführung unter den heutigen
Verhältnissen für Folgen hätte.
Götz Werner, Milliardär und Chef der dm-Drogeriekette, hat einen Traum, dass eines Tages alle
Menschen „Lebensunternehmer” sind, die sich ohne Existenzangst frei entfalten, weil sie ein
bedingungsloses Grundeinkommen (bGE) in Höhe des Kulturminimums bekommen, und zwar als Grundrecht. Die
Zeit hierfür ist längst reif, denn: „Mit der Industrialisierung haben wir nun endlich den
Rückweg zum Hintereingang des Paradieses gefunden” Dort lebt eine „Gemeinschaft von
Freelancern mit bedingungslosem Grundeinkommen” in einer Art postmoderner Volksgemeinschaft. Aber noch
steht am Eingang ein Türhüter namens Sozialstaat! Er zwingt uns, vor dem Eingang zu verharren; nur
von ferne dürfen wir den Glanz des Paradieses sehen.
Wessen Paradies ist das bGE-Paradies des
Götz Werner, ist es für uns vielleicht die Hölle auf Erden? Dieselbe Frage muss auch, da
geistesverwandt, an Thomas Straubhaar/Ingrid Hohenleitner und an Dieter Althaus gestellt werden. (Thomas
Straubhaar ist Leiter des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts. Dieter Althaus ist CDU-
Ministerpräsident von Thüringen. Sein bGE-Modell heißt Solidarisches Bürgergeld.)
Der Geist, der die Modelle durchweht,
überschreitet das, was als „neoliberal” gilt. Man glaubt an die Heilungskräfte des
Marktes; man verspricht gewaltige Eruptionen von Produktivkraft, sofern sich die Marktkräfte ungehemmt
entfalten können; man verurteilt die Bürger zur Eigenverantwortung für ihre Lebensrisiken;
der Staat soll die Marktbeziehungen schützen und Sicherheit garantieren. Aber von sozialem Ausgleich
ist nicht mehr die Rede. Man hasst jeden Sozialstaat auch den neoliberalen. Weg damit! Für die
Auszahlung des bGE reicht das Finanzamt plus ein Torso von Krankenversicherung.
Götz Werner stieg ein mit monatlich 1500 Euro für alle Bürger Kinder und Alte
weniger aber erst am St.Nimmerleinstag! Ein Medientrick, der Aufsehen garantierte. Seit langem geht
es nur noch um 700800 Euro auch bei Althaus und Straubhaar/Hohenleitner. Eine
Milchjungenrechnung ergibt nämlich, dass die Kosten des verhassten Sozialstaats (rund 700 Milliarden
Euro) geteilt durch 82,5 Millionen Einwohner eben 700 Euro pro Monat ergibt. Man suggeriert: Wenn wir den
Sozialstaat vernichten, ist das bGE-Paradies sofort machbar, Herr Nachbar!
Aber selbst diese Summe erweist sich als
Mogelpackung; sie enthält nämlich 200 Euro Krankenversicherungsprämie. Das Netto-BGE
beträgt somit gerade mal 500600 Euro. Althaus bietet ehrliche 600 Euro; Straubhaar/Hohenleitner
liegen je nach Interview bei 200 (!) bis 425 Euro.
Die Krankenversicherungsprämie (KV) ist
das, was vom Sozialstaat übrig bleibt. Gleiche Leistung bei unterschiedlich hoher Prämie als
Krankenversicherungsprinzip verhöhnt Götz Werner als „Rundum-sorglos-Paket”, als
„Vollkaskoversicherung”, die man zugunsten einer Teilkasko mit Selbstbeteiligung überwinden
müsse. Übrig bleibt eine vage Grundversorgung. Althaus schließt eine Pflegeprämie ein;
Straubhaar/Hohenleitner dazu noch eine Unfallversicherung. Wo es um Leben und Tod geht, zeigt sich das
Höllenhafte des bGE.
Merke: Wer lohnarbeitslos ist, muss vom bGE
alles bezahlen: die hoch besteuerten Lebensmittel, marktregulierte Mieten, alle Krankheitskosten jenseits
der Grundversorgung und vor allem die Kosten des Alterns. Jede Dienstleistung wird kosten, denn es wird
keine kostenlosen oder subventionierten Kultur-, Sozial-, Gesundheitseinrichtungen, Altersheime,
Verkehrsbetriebe mehr geben. Alles, selbst die Armenfürsorge, wird privatisiert sein.
Mein Arbeitslosengeld II beträgt netto 650 Euro (Regelsatz plus Kosten für Unterkunft und
Heizung). Hinzu kommen rund 50 Euro Ersparnisse aus Rundfunkgebührenbefreiung, BVG-Sozialkarte und
Telekom-Sozialtarif, außerdem Rentenversicherungsbeiträge (40 Euro), Beiträge für eine
„Vollkasko"-Krankenversicherung (125 Euro) und die Pflegeversicherung (20 Euro) macht
brutto rund 885 Euro. Wäre ich verschuldet, süchtig, psychosozial auffällig oder
Kleinkindsvater, könnte ich entsprechende Beratungs- und Betreuungskosten beantragen; dazu ein kleiner
Katalog von Einmalbeihilfen. Dazu vielleicht 130 Stunden à 1,50 Euro Gemeinwohlarbeit (= 180190
Euro) und zusätzlich bis 100 Euro anrechnungsfreier Zuverdienst. Alles in allem erhalte ich ein Netto
zwischen 700 und 1000 Euro; ein Brutto zwischen rund 850 und 1200 Euro.
Und: meine Grundsicherung ist eingebettet in
einen Sozialstaat, der mehr ist als die Sozialversicherung: der eine opferreich erkämpfte Sozialpolitik
umfasst Arbeiterschutz, Arbeitsrecht, Betriebsverfassung, Streikrecht, Tarifautonomie,
Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelung und ein flächendeckendes, engmaschiges und
vielgestaltiges Netz von Einrichtungen unterhält 10000 Vereine allein im DPWV. Dieser verzweigte
Sozialstaat gebiert ein Grundvertrauen: Wenn ich „unproduktiv”, krank und alt bin, wird der
Staat mich nicht verrecken lassen.
Das ALG II wird zu Recht als nicht
armutsfest kritisiert. Gegenüber dem bedingungslosen Grundeinkommen aber verlöre ein ALG-II-
Bezieher eine Grundsicherung von netto 700 Euro plus Sozialstaat und gewänne ein bGE von netto 600 Euro
plus Teilkaskokrankenversicherung.
Götz Werners zweiter Traum: dass es keine Sozialversicherungsabgaben mehr gibt und nur noch eine
Steuer: die Mehrwertsteuer. Statt Belastung des produktiven Ertrags, „Knospenfrevel” genannt,
Besteuerung des Konsums! Leider muss die MWSt, je nach Höhe des bGE, dafür auf 50% erhöht
werden, eher mehr. Die Mehrwertsteuer auf den privaten Konsum wird zur einzigen Steuer der Reichen.
(Straubhaar/Hohenleitner finanzieren ihr bGE in Höhe von 625 Euro über eine Flattax von 50% auf
alle Einkommen [mit Freibetrag in Höhe des Jahres-bGE von 7500 Euro]. Dadurch ergibt sich eine
progressive Einkommensbesteuerung: 0% bei brutto 15000 Euro, 42,5% bei 100000 Euro. Althaus arbeitet mit
zwei Flattaxes: 50% für netto 600 Euro, 25% für netto 200 Euro bGE.)
Wer aber lohnarbeitet, muss sich sein bGE
anrechnen lassen. Es wirkt „lohnsubstitutiv” als „ein in die Fläche gedachtes
Kombieinkommensmodell” „Es ist so etwas wie ein Sockel, der durch Einkünfte aus
Erwerbstätigkeit oder unternehmerische Initiative aufgestockt werden kann."
Beispiel: Wer 1600 Euro brutto verdient,
spart alle Steuern und Abgaben (100 + 300 = 400 Euro). Er bekommt 800 Euro bGE + 800 Euro Lohn = 1600 Euro:
Brutto gleich Netto.
Der Unternehmer spart die Sozialabgaben (300
Euro) und rechnet das bGE auf den Lohn an: Die Vollzeitarbeitskraft, die ihn bisher 1900 Euro kostete, wird
für 800 Euro zu haben sein. Verschwiegen wird aber, dass die Arbeitnehmer auch verlieren: Wenn sie im
Alter, bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeit den bisherigen KV-, RV- und PflV-Standard halten wollen,
müssen sie sich nämlich privat versichern. Und das kann gerade bei „schlechten
Risiken” teuer werden. Sie verlieren darüber hinaus 300 Euro Soziallohn (nichts anderes
ist der „Arbeitgeberbeitrag"), was sie doppelt spüren werden, weil sie die Kosten für
die Sozialversicherung nun privat aufbringen sollen.
Rechnet man die bGE-Lohnsubvention auf 30
Millionen lohnabhängige Stellen hoch, betrüge sie gigantische 288 Milliarden Euro (bei 1500 Euro
gar 540 Milliarden Euro) und niemand schreit auf.
Keine Arbeitgeberanteile zur
Sozialversicherung, keine Einkommen- und Unternehmensteuern, und als Zugabe noch eine gigantische
Lohnsubvention! Welch ein Standortvorteil! Ganz Deutschland wird zu einer einzigen Sonderwirtschaftszone!
Stellenverlagerungen ins Ausland? Schnee von gestern! Das vagabundierende Kapital würde sich gleich
einem reißenden Strom in die BRD ergießen.
Götz Werner reist ständig durchs Land; in gefüllten Sälen erfährt er viel
Zustimmung. Was fasziniert? Es faszinieren seine Erlösungsversprechen:
Das bGE wird dich vom Zwang zu entfremdender
Arbeit befreien! Endlich kannst du frei von Existenzangst das arbeiten, was deinen
Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht! Du kannst kündigen! Du musst nicht mehr leiden an
Arbeit, die von jedem Sinn und jeder Sinnlichkeit entleert ist.
Das bGE wird dich von den Zumutungen eines
paternalistischen Sozialstaats erlösen: Nie wieder Anträge und Widersprüche schreiben, nie
wieder Sozialgericht, Bevormundung und Angst vor demütigender Pflichtarbeit! Unter Hartz IV lebst du im
„offenen Strafvollzug in gesellschaftlicher Isolation”, ich aber eröffne dir ein Leben in
angstfreier Entfaltung.
Götz Werner fasziniert, weil er die
wirklichen Leiden wirklicher Menschen aufgreift.
Aber Götz Werner treibt den Teufel mit
dem Beelzebub aus: Statt Hartz IV keinen Sozialstaat! Und: Was nützt es zu wissen, was man eigentlich
arbeiten will, wenn die Struktur fehlt, in der man wollen kann? Wie aus dem Nichts heraus mit
monatlich 600 Euro eine sinnvolle Stelle schaffen? Wie von heute auf morgen von fremdbestimmt-
entleerter auf selbstbestimmt-sinnvolle Arbeit umschalten? Wer kann das? Zeig mir den Kippschalter!
Gewinner sind die Gutverdienenden. Aber schon die Normalverdienenden gewinnen nur dann, wenn sie und ihre
Familie lebenslang gesund sind und rechtzeitig sterben, d.h. bevor sie pflegebedürftig werden.
Geringverdienende überleben nur bei Billigmieten, bei Gesundheit und im „besten Alter”
Die großen Verlierer sind alle, die
krank, „behindert”, pflegebedürftig, erwerbsunfähig, süchtig, verschuldet,
arbeitsunwillig und „lebensuntüchtig” sind kurz: der sog. unproduktive Teil der
Bevölkerung und alle, die es irgendwann werden.
Das bGE macht die Reichen reicher und den
Standort BRD enorm konkurrenzfähig. Es macht eine kostengünstige Aufbewahrung der
„unproduktiven” Bevölkerungsteile möglich. Hinsichtlich der Arbeitsfähigen sind
Workfare, also Pflichtarbeitsprogramme, zu teuer. Das bGE ist besser, weil es anonym zum Zuverdienst zwingt;
und den findet man sowieso nur in unprofitablen Sektoren wie Fürsorge.
In Zeiten der Krise und Inflation wird sich
die Logik des vorzeitigen Todes voll entfalten. Dann wird sich erweisen, dass man das bGE nicht essen kann.
Wehe dem „Unproduktiven”, der keine Mama hat, zu der er flüchten kann. Und es wird keine
Schuldigen geben: Niemand wirds gewesen sein!
Insofern repräsentieren die bGE-Modelle
den Übergang vom rheinisch-paternalistischen zum reinen Kapitalismus. Ersterer bedient neben der
Kapitalakkumulation auch andere, konkurrierende soziale Zwecke; letzterer verfolgt nur Ziele, die seinem
Wesen, der Kapitalakkumulation, unmittelbar dienen. Unser bundesdeutscher Kapitalismus würde das, was
er global-normal immer schon war: ein asozialer Kapitalismus ohne Sozialstaat. Deshalb sind die bGE-Modelle
nicht Ausdruck neoliberalen, sondern asozialen Denkens.
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