SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 20

Kapitalismus ohne Sozialstaat

Das bedingungslose Grundeinkommen

von WOLFGANG RATZEL

In der Diskussion, welche Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit gefunden werden kann, reicht die Debatte von der defensiven Verteidigung des heutigen Sozialstaats bis zu seiner Abschaffung. Von vielen wird das bedingungslose Grundeinkommen als Ausweg gepriesen. Dazu gibt es die vielfältigsten, auch sich widersprechende, Modelle. Kein Wunder, hat doch auch die Kapitalseite die Vorzüge des bGE entdeckt. WOLFGANG RATZEL diskutiert, was seine Einführung unter den heutigen Verhältnissen für Folgen hätte.

Götz Werner, Milliardär und Chef der dm-Drogeriekette, hat einen Traum, dass eines Tages alle Menschen „Lebensunternehmer” sind, die sich ohne Existenzangst frei entfalten, weil sie ein bedingungsloses Grundeinkommen (bGE) in Höhe des Kulturminimums bekommen, und zwar als Grundrecht. Die Zeit hierfür ist längst reif, denn: „Mit der Industrialisierung haben wir nun endlich den Rückweg zum Hintereingang des Paradieses gefunden” Dort lebt eine „Gemeinschaft von Freelancern mit bedingungslosem Grundeinkommen” in einer Art postmoderner Volksgemeinschaft. Aber noch steht am Eingang ein Türhüter namens Sozialstaat! Er zwingt uns, vor dem Eingang zu verharren; nur von ferne dürfen wir den Glanz des Paradieses sehen.
Wessen Paradies ist das bGE-Paradies des Götz Werner, ist es für uns vielleicht die Hölle auf Erden? Dieselbe Frage muss auch, da geistesverwandt, an Thomas Straubhaar/Ingrid Hohenleitner und an Dieter Althaus gestellt werden. (Thomas Straubhaar ist Leiter des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts. Dieter Althaus ist CDU- Ministerpräsident von Thüringen. Sein bGE-Modell heißt Solidarisches Bürgergeld.)
Der Geist, der die Modelle durchweht, überschreitet das, was als „neoliberal” gilt. Man glaubt an die Heilungskräfte des Marktes; man verspricht gewaltige Eruptionen von Produktivkraft, sofern sich die Marktkräfte ungehemmt entfalten können; man verurteilt die Bürger zur Eigenverantwortung für ihre Lebensrisiken; der Staat soll die Marktbeziehungen schützen und Sicherheit garantieren. Aber von sozialem Ausgleich ist nicht mehr die Rede. Man hasst jeden Sozialstaat — auch den neoliberalen. Weg damit! Für die Auszahlung des bGE reicht das Finanzamt plus ein Torso von Krankenversicherung.

Das Paradies sofort

Götz Werner stieg ein mit monatlich 1500 Euro für alle Bürger — Kinder und Alte weniger — aber erst am St.Nimmerleinstag! Ein Medientrick, der Aufsehen garantierte. Seit langem geht es nur noch um 700—800 Euro — auch bei Althaus und Straubhaar/Hohenleitner. Eine Milchjungenrechnung ergibt nämlich, dass die Kosten des verhassten Sozialstaats (rund 700 Milliarden Euro) geteilt durch 82,5 Millionen Einwohner eben 700 Euro pro Monat ergibt. Man suggeriert: Wenn wir den Sozialstaat vernichten, ist das bGE-Paradies sofort machbar, Herr Nachbar!
Aber selbst diese Summe erweist sich als Mogelpackung; sie enthält nämlich 200 Euro Krankenversicherungsprämie. Das Netto-BGE beträgt somit gerade mal 500—600 Euro. Althaus bietet ehrliche 600 Euro; Straubhaar/Hohenleitner liegen — je nach Interview — bei 200 (!) bis 425 Euro.
Die Krankenversicherungsprämie (KV) ist das, was vom Sozialstaat übrig bleibt. Gleiche Leistung bei unterschiedlich hoher Prämie als Krankenversicherungsprinzip verhöhnt Götz Werner als „Rundum-sorglos-Paket”, als „Vollkaskoversicherung”, die man zugunsten einer Teilkasko mit Selbstbeteiligung überwinden müsse. Übrig bleibt eine vage Grundversorgung. Althaus schließt eine Pflegeprämie ein; Straubhaar/Hohenleitner dazu noch eine Unfallversicherung. Wo es um Leben und Tod geht, zeigt sich das Höllenhafte des bGE.
Merke: Wer lohnarbeitslos ist, muss vom bGE alles bezahlen: die hoch besteuerten Lebensmittel, marktregulierte Mieten, alle Krankheitskosten jenseits der Grundversorgung und vor allem die Kosten des Alterns. Jede Dienstleistung wird kosten, denn es wird keine kostenlosen oder subventionierten Kultur-, Sozial-, Gesundheitseinrichtungen, Altersheime, Verkehrsbetriebe mehr geben. Alles, selbst die Armenfürsorge, wird privatisiert sein.

Was würden wir verlieren?

Mein Arbeitslosengeld II beträgt netto 650 Euro (Regelsatz plus Kosten für Unterkunft und Heizung). Hinzu kommen rund 50 Euro Ersparnisse aus Rundfunkgebührenbefreiung, BVG-Sozialkarte und Telekom-Sozialtarif, außerdem Rentenversicherungsbeiträge (40 Euro), Beiträge für eine „Vollkasko"-Krankenversicherung (125 Euro) und die Pflegeversicherung (20 Euro) — macht brutto rund 885 Euro. Wäre ich verschuldet, süchtig, psychosozial auffällig oder Kleinkindsvater, könnte ich entsprechende Beratungs- und Betreuungskosten beantragen; dazu ein kleiner Katalog von Einmalbeihilfen. Dazu vielleicht 130 Stunden à 1,50 Euro Gemeinwohlarbeit (= 180—190 Euro) und zusätzlich bis 100 Euro anrechnungsfreier Zuverdienst. Alles in allem erhalte ich ein Netto zwischen 700 und 1000 Euro; ein Brutto zwischen rund 850 und 1200 Euro.
Und: meine Grundsicherung ist eingebettet in einen Sozialstaat, der mehr ist als die Sozialversicherung: der eine opferreich erkämpfte Sozialpolitik umfasst — Arbeiterschutz, Arbeitsrecht, Betriebsverfassung, Streikrecht, Tarifautonomie, Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelung — und ein flächendeckendes, engmaschiges und vielgestaltiges Netz von Einrichtungen unterhält — 10000 Vereine allein im DPWV. Dieser verzweigte Sozialstaat gebiert ein Grundvertrauen: Wenn ich „unproduktiv”, krank und alt bin, wird der Staat mich nicht verrecken lassen.
Das ALG II wird zu Recht als nicht armutsfest kritisiert. Gegenüber dem bedingungslosen Grundeinkommen aber verlöre ein ALG-II- Bezieher eine Grundsicherung von netto 700 Euro plus Sozialstaat und gewänne ein bGE von netto 600 Euro plus Teilkaskokrankenversicherung.

Größte Unternehmenssubvention aller Zeiten

Götz Werners zweiter Traum: dass es keine Sozialversicherungsabgaben mehr gibt und nur noch eine Steuer: die Mehrwertsteuer. Statt Belastung des produktiven Ertrags, „Knospenfrevel” genannt, Besteuerung des Konsums! Leider muss die MWSt, je nach Höhe des bGE, dafür auf 50% erhöht werden, eher mehr. Die Mehrwertsteuer auf den privaten Konsum wird zur einzigen Steuer der Reichen. (Straubhaar/Hohenleitner finanzieren ihr bGE in Höhe von 625 Euro über eine Flattax von 50% auf alle Einkommen [mit Freibetrag in Höhe des Jahres-bGE von 7500 Euro]. Dadurch ergibt sich eine progressive Einkommensbesteuerung: 0% bei brutto 15000 Euro, 42,5% bei 100000 Euro. Althaus arbeitet mit zwei Flattaxes: 50% für netto 600 Euro, 25% für netto 200 Euro bGE.)
Wer aber lohnarbeitet, muss sich sein bGE anrechnen lassen. Es wirkt „lohnsubstitutiv” als „ein in die Fläche gedachtes Kombieinkommensmodell” „Es ist so etwas wie ein Sockel, der durch Einkünfte aus Erwerbstätigkeit oder unternehmerische Initiative aufgestockt werden kann."
Beispiel: Wer 1600 Euro brutto verdient, spart alle Steuern und Abgaben (100 + 300 = 400 Euro). Er bekommt 800 Euro bGE + 800 Euro Lohn = 1600 Euro: Brutto gleich Netto.
Der Unternehmer spart die Sozialabgaben (300 Euro) und rechnet das bGE auf den Lohn an: Die Vollzeitarbeitskraft, die ihn bisher 1900 Euro kostete, wird für 800 Euro zu haben sein. Verschwiegen wird aber, dass die Arbeitnehmer auch verlieren: Wenn sie im Alter, bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeit den bisherigen KV-, RV- und PflV-Standard halten wollen, müssen sie sich nämlich privat versichern. Und das kann — gerade bei „schlechten Risiken” — teuer werden. Sie verlieren darüber hinaus 300 Euro Soziallohn (nichts anderes ist der „Arbeitgeberbeitrag"), was sie doppelt spüren werden, weil sie die Kosten für die Sozialversicherung nun privat aufbringen sollen.
Rechnet man die bGE-Lohnsubvention auf 30 Millionen lohnabhängige Stellen hoch, betrüge sie gigantische 288 Milliarden Euro (bei 1500 Euro gar 540 Milliarden Euro) — und niemand schreit auf.
Keine Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung, keine Einkommen- und Unternehmensteuern, und als Zugabe noch eine gigantische Lohnsubvention! Welch ein Standortvorteil! Ganz Deutschland wird zu einer einzigen Sonderwirtschaftszone! Stellenverlagerungen ins Ausland? Schnee von gestern! Das vagabundierende Kapital würde sich gleich einem reißenden Strom in die BRD ergießen.

Was fasziniert am bGE?

Götz Werner reist ständig durchs Land; in gefüllten Sälen erfährt er viel Zustimmung. Was fasziniert? Es faszinieren seine Erlösungsversprechen:
Das bGE wird dich vom Zwang zu entfremdender Arbeit befreien! Endlich kannst du — frei von Existenzangst — das arbeiten, was deinen Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht! Du kannst kündigen! Du musst nicht mehr leiden an Arbeit, die von jedem Sinn und jeder Sinnlichkeit entleert ist.
Das bGE wird dich von den Zumutungen eines paternalistischen Sozialstaats erlösen: Nie wieder Anträge und Widersprüche schreiben, nie wieder Sozialgericht, Bevormundung und Angst vor demütigender Pflichtarbeit! Unter Hartz IV lebst du im „offenen Strafvollzug in gesellschaftlicher Isolation”, ich aber eröffne dir ein Leben in angstfreier Entfaltung.
Götz Werner fasziniert, weil er die wirklichen Leiden wirklicher Menschen aufgreift.
Aber Götz Werner treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus: Statt Hartz IV keinen Sozialstaat! Und: Was nützt es zu wissen, was man eigentlich arbeiten will, wenn die Struktur fehlt, in der man wollen kann? Wie aus dem Nichts heraus — mit monatlich 600 Euro — eine sinnvolle Stelle schaffen? Wie von heute auf morgen von fremdbestimmt- entleerter auf selbstbestimmt-sinnvolle Arbeit umschalten? Wer kann das? Zeig mir den Kippschalter!

Wer gewinnt und wer verliert?

Gewinner sind die Gutverdienenden. Aber schon die Normalverdienenden gewinnen nur dann, wenn sie und ihre Familie lebenslang gesund sind und rechtzeitig sterben, d.h. bevor sie pflegebedürftig werden. Geringverdienende überleben nur bei Billigmieten, bei Gesundheit und im „besten Alter”
Die großen Verlierer sind alle, die krank, „behindert”, pflegebedürftig, erwerbsunfähig, süchtig, verschuldet, arbeitsunwillig und „lebensuntüchtig” sind — kurz: der sog. unproduktive Teil der Bevölkerung — und alle, die es irgendwann werden.
Das bGE macht die Reichen reicher und den Standort BRD enorm konkurrenzfähig. Es macht eine kostengünstige Aufbewahrung der „unproduktiven” Bevölkerungsteile möglich. Hinsichtlich der Arbeitsfähigen sind Workfare, also Pflichtarbeitsprogramme, zu teuer. Das bGE ist besser, weil es anonym zum Zuverdienst zwingt; und den findet man sowieso nur in unprofitablen Sektoren wie Fürsorge.
In Zeiten der Krise und Inflation wird sich die Logik des vorzeitigen Todes voll entfalten. Dann wird sich erweisen, dass man das bGE nicht essen kann. Wehe dem „Unproduktiven”, der keine Mama hat, zu der er flüchten kann. Und es wird keine Schuldigen geben: Niemand wird‘s gewesen sein!
Insofern repräsentieren die bGE-Modelle den Übergang vom rheinisch-paternalistischen zum reinen Kapitalismus. Ersterer bedient neben der Kapitalakkumulation auch andere, konkurrierende soziale Zwecke; letzterer verfolgt nur Ziele, die seinem Wesen, der Kapitalakkumulation, unmittelbar dienen. Unser bundesdeutscher Kapitalismus würde das, was er global-normal immer schon war: ein asozialer Kapitalismus ohne Sozialstaat. Deshalb sind die bGE-Modelle nicht Ausdruck neoliberalen, sondern asozialen Denkens.

Wolfgang Ratzel bezieht nach 23 Jahren Lohnarbeit seit 1994 ALG II. Er ist ehemaliger BR- Vorsitzender und Vertrauensmann (ÖTV/HBV). Er ist Mitorganisator des Autonomen Seminars an der Humboldt-Universität und des Treffpunkts „Pankow Precaristi”


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