SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 22

Wolfgang Bittner: Der Aufsteiger oder Ein Versuch zu leben

Horlemann Verlag, 200 Seiten, 16,90 Euro

Im Jahr1978 erschien dieser Roman zum ersten Mal, lange Zeit war er vergriffen, nun wagt der kleine, engagierte Horlemann Verlag eine leicht überarbeitete Neuausgabe. Das Buch beschreibt die Situation der alten Bundesrepublik von 1960 bis 1974. Der Roman trägt zum Verständnis von 1968 bei: er verdeutlicht, ohne dass dies die Haupthandlung wäre, die Situation in der alten BRD, in der diese Revolte, diese Hoffnung auf Veränderung entstehen musste. Man sieht auch, woran sie scheiterte, denn schon zu Zeiten von Willy Brandt entstand der Radikalenerlass, ganz zu schweigen von dem, was dann unter den Kanzlern Schmidt und Helmut Kohl folgte.Doch worum geht es in dem Roman? Erich Wegener, Flüchtlingskind aus Oberschlesien, arbeitet nach dem Abschluss der Mittelschule als Hilfsarbeiter im Tiefbau. Die Arbeit ist hart und dreckig, der Lohn miserabel. Er will da raus. Raus aus solchen Arbeitsverhältnissen, raus aus dem kleinbürgerlichen Milieu. Der einzige Weg ist der über Qualifizierung, Bildung ist das Zauberwort. Also macht sich Erich Wegener auf den Weg, seinen Weg. Dieser ist exemplarisch, denn es gibt viele Erich Wegeners zu dieser Zeit. Aber jeder zieht los als Einzelkämpfer, gemeinsamen Erfahrungsaustausch gibt es nicht, noch funktioniert die Kontrolle von oben, die totale Auslese. Die Klassenunterschiede sind in Stein gemeißelt, aber der Traum vom Aufstieg ist erlaubt. Gelingt er, wird diese Tatsache gerne zur Legitimation unserer Demokratie benutzt.
Er bewirbt sich beim Landkreis und wird in der Sozialverwaltung als Hilfskraft angestellt. Nichts großes, aber er ist raus aus dem Dreck und Schlamm. Schon bald erkennt er seine Situation, die natürlich eine Sackgasse ist, und er beschließt das Abitur nachzuholen. Das Ziel ist klar: „Mit einem Abitur bekam man jeden Posten. Oder man konnte studieren und sich ein paar Jahre einen schönen Lenz machen.” Der Weg ist hart, aber zum ersten Mal liest er Brecht, Böll, Dürrenmatt, wenn er denn Zeit dazu hat. Denn die Arbeit geht weiter, er wohnt immer noch zu Hause, zum Lernen bleiben nur die Abende und das Wochenende. Er ist jetzt 21, das Lernen fällt schwerer, in seiner Umgebung gibt es keine Anreize, geschweige denn Hilfe. Aber er lernt. Lernt zu erkennen, das die Bauernkriege nicht das Werk von Mordbrennern, sondern ein Aufstand der Geknechteten und Entrechteten waren, dass Marx und Engels keine „üblen Kommunisten” gewesen waren, sondern Sozialphilosophen, die für eine klassenlose Gesellschaft eintraten. Er politisiert sich selbst, ahnt Zusammenhänge, wagt aber nicht, diese konsequent zu Ende zu denken. Er muss arbeiten und büffeln, mehr ist nicht drin. Denn immer noch steht er am Anfang, die Gefahr des persönlichen Scheiterns riesengroß.
Doch er schafft das Abitur, hat „den Marschallstab im Tornister” und bricht auf zu neuen Ufern. In Göttingen studiert er Jura als Hauptfach, Philosophie, Geschichte und Soziologie nebenbei. Eine Liebesbeziehung mit Lina, eine Frau aus der oberen Mittelschicht, scheitert, die große Liebe reicht nicht aus.
Schicht- und Klassengegensätze sind jetzt auch für ihn deutlich erkennbar. Und er sieht endgültig die Situation im Land, die Verdrängung und die Lügen: Der problemlose Übergang für viele „Führungskräfte” aus der NS-Zeit in entsprechende Stellen und Ämter in der BRD. Kein Wort in der Schule über KZs und Emigranten, aber viel über herrliche Zeiten im U-Boot-Krieg oder sonst wo. Und schuld waren immer die Linken, die Kommunisten, und die Vaterlandsverräter wie Brandt und Wehner.
Seine nächste Station ist München, er studiert weiterhin Jura. Es ist Ostern 1968, er gerät in eine Studentendemonstration, wird bei dem überharten Polizeieinsatz verletzt und flieht in die Wohnung von Marianne, die an der Pädagogischen Hochschule studiert. Neben der Bekanntschaft und der Erkenntnis über den Unterschied zwischen Theorie und Praxis der im Grundgesetz verbrieften Rechte als Bürger unserer Demokratie passiert zunächst nichts. Dann hört er die Nachrichten im Radio, Benno Ohnesorg ist von der Polizei erschossen worden. „Erschossen, dachte er, die schießen ja tatsächlich."
Mit Marianne entsteht eine Liebesbeziehung, sie ist absolut unpolitisch, ihr Vater Landgerichtsdirektor in Stuttgart. Anlässlich des ersten Besuches bei ihren Eltern wird er in den Familienkreis aufgenommen, praktisch zur Hochzeit „genötigt” (wunderbar realistisch geschildert), und dann könnte eigentlich alles seinen geplanten Weg gehen. Also Dissertation in Göttingen mit finanzieller Unterstützung seiner Schwiegereltern, Kind, Häuschen, Pension. Wie gesagt, es könnte. Wenn da nicht die Widersprüche des realen politischen Alltags wären, die Erfahrungen beim Durchlaufen des Aufstiegs, die eigenen Vorstellungen von einem humanen und selbst bestimmten Leben in einer sozialen Gesellschaft.
Das Ende will ich nicht verraten, das muss man sich schon selbst erlesen. Nur soviel: Es ist schlüssig, logisch, lesenswert. Wie der gesamte Roman. Er schildert nichts weiter als den Aufstieg eines jungen Erwachsenen aus dem Arbeitermilieu in das sog. gehobene Bürgertum. Die Widersprüche, die Mühen und Kompromisse, die nötig sind, wenn man nicht von Geburt an dazugehört. Und wie man manchmal in den eigenen Kampf ums Überleben eingebunden ist und keine Zeit hat sich politisch einzumischen, selbst wenn man die Situation erkennt. Und trotzdem sein Rückgrat behält, zu seiner Überzeugung steht. Manchmal zu zaghaft, manchmal zu spät, manchmal für alle anderen zu unvermittelt. Ein Roman über einen „Helden” von unten, aus der Sicht von unten und deshalb wichtig für alle.
Wolfgang Bittner erhielt mehrere Literaturpreise und hat über 50 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht. Trotzdem hat er es heute schwer, seine Leser zu finden. Denn im Rahmen der Umstrukturierung der Verlagsszene vor einigen Jahren und der damit einhergehenden „Bereinigung” der Verlagsautoren fiel er durch das Raster. Er, der immer nur gegenüber sich selbst und seinem Gewissen verantwortlich geschrieben hatte, der darauf bestand, für Jugendliche nur Romane zu veröffentlichen, deren Handlungen er als emanzipatorisch und wahr empfand, wurde nun plötzlich nicht mehr veröffentlicht. Mühsam war die Suche nach „neuen” Verlagen. Nun liegen die ersten Neuauflagen vor. Es lohnt, sie zu lesen und sie (insbesondere seine Jugendromane) zu verschenken.
Der vorliegende Roman ist der persönlichste, fast als Biografie zu lesende Text von Bittner. Die Überschneidungen mit seinem Leben, Wünschen und (politischen) Vorstellungen sind offensichtlich.

Uli Klinger


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