SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2008, Seite 24

Bruno Schulz (1892—1942)

Die Zimtläden

Die Geschichte einer Familie als der letzte Sinn der Geschichte

von ANGELA HUEMER

Der von den Nazis ermordete Bruno Schulz war einer der wichtigsten polnischen Autoren der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Seit den 60er Jahren liegt jetzt erstmals wieder eine Neuübersetzung seiner Erzählung „Die Zimtläden” vor. Dies wie auch die parallel erscheinende Biografie von Jerzy Ficowski erlauben, diesen großartigen Dichter neu zu entdecken.

Zu den Lebzeiten von Bruno Schulz gehörte Drohobycz zu vier verschiedenen Ländern: vor 1918 zu Österreich, 1918—1919 zur Westukrainischen Volksrepublik, 1919—1939 zu Polen. 1939 besetzten es die sowjetischen Truppen, 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht die kleine Stadt, in der 10000 Polen, ebenso viele Ukrainer und 15000 Juden friedlich miteinander lebten.
Drohobycz erlebte zu Ende des 19.Jahrhunderts eine Art Boom, als in der Gegend Öl gefunden wurde — das bestimmt heute noch die Ökonomie des Ortes. In Schulz‘ Geschichten taucht die Kleinstadt als mythisch-surrealer Ort auf. Schulz war ein kosmopolitischer Mann. Er unternahm ausgedehnte Reisen und studierte zeitweise in Lemberg und Wien an den technischen Hochschulen Architektur. In ihrem Nachwort zur Erzählung deutet die Übersetzerin Doreen Daume dies als wiederholte Versuche, der deprimierenden Realität seiner Heimatstadt zu entfliehen.
Der Vater von Bruno Schulz betrieb einen Tuchladen, den er schließen musste, als russische Militärs Schulz‘ Elternhaus samt Wohnung und Geschäft in Brand setzten. 1924 trat Schulz eine Anstellung als Zeichenlehrer am polnischen Gymnasium seiner Stadt an. Lange Zeit war er vornehmlich als Maler und Grafiker tätig, seine schriftstellerische Tätigkeit entwickelte sich erst nach und nach.
In der Einleitung zur amerikanischen Ausgabe einer Sammlung seiner Briefe fragt Adam Zagajewski: „Wer war Bruno Schulz ‘sociologically speaking‘? In seiner Prosa wird das provinzielle Drohobycz in eine Art östliches Bagdad, eine exotische Stadt aus Tausendundeiner Nacht verwandelt. Sein Leben, das auch von einem Zauberstab berührt worden war, entzieht sich einer herkömmlichen Zuordnung. Wenn er nicht geschrieben oder gezeichnet hätte, wäre er nur ein melancholischer jüdischer Zeichenlehrer aus der Mittelschicht gewesen ... ein Träumer, der an andere Träumer schrieb. Da er aber so flüssig schrieb und zeichnete, ließ er die Soziologie hinter sich; er ließ sogar dieses besondere Milieu zurück, die Intelligentsia, die am intellektuellen Leben des Landes nicht teilnehmen wollte und konnte, und die für das Polen der Zwischenkriegszeit so typisch war."
Die Bedeutung der Briefe von Bruno Schulz geht über eine alltägliche Korrespondenz hinaus. Laut seinem Biografen Jerzy Ficowski blieben von 1000 Briefen lediglich 156 erhalten. Lange Zeit konzentrierte er sich, neben seiner Tätigkeit als Lehrer, auf das Zeichnen, die Malerei und die Grafik. Briefe schreiben war für ihn eine Brücke zur Welt, mehr aber noch eine schöpferische Tätigkeit. Einige Jahre nach der Veröffentlichung von Zimtläden schrieb er in einem Brief an seine Warschauer Freundin Romana Halpern (die 1944 als Jüdin ermordet wurde): „Schade, dass wir uns nicht schon vor einigen Jahren kannten, damals konnte ich noch schöne Briefe schreiben. Aus diesen Briefen entstanden die Zimtläden. Die meisten dieser Briefe waren an Debora Vogel gerichtet, die Autorin von Akazien blühn” (Debora Vogel, geb. 1900, wurde 1942 im Lemberger Ghetto ermordet.)

"Die Zimtläden"

Die ausgezeichnete Neuübersetzung des Meisterwerks von Bruno Schulz versorgt den neugierigen Leser mit einem sehr nützlichen kurzen Exposé, das der Autor selber verfasste, als er eine Übersetzung ins Italienische anregte. In diesem Exposé, das Schulz in exzellentem Deutsch verfasste, vermag er besser als jeder Rezensent die Essenz seiner Geschichten zu vermitteln: „In diesem Buche wird der Versuch unternommen, die Geschichte einer Familie, eines Provinzhauses nicht aus ihren realen Elementen, aus Begebenheiten, Charakteren und den wirklichen Geschicken heraus zu begreifen, sondern über diese hinaus nach einem mythischen Gehalt, nach einem letzten Sinn jener Geschichte zu suchen.” Weiter schreibt er etwas, was sehr gut auch sein eigenes Leben umreißt: „Der Verfasser ist von dem Gefühl ausgegangen, daß die tiefsten Gründe einer Biografie, die letzte Form eines Schicksals gar nicht durch die Schilderung eines äußeren Lebenslaufs, noch durch eine noch so tief geführte psychologische Analyse erschöpft werden können."
Adam Zagajewski meint, es gebe keinen Schlüssel zu Schulz‘ Werk. „Sehr häufig reagiert Schulz‘ Prosa auf rein poetische Stimuli; die Fragen, die er künstlerisch ‘beantworten‘ wollte, sind die eines metaphysischen Dichters, der die Essenz des Frühlings, eines Baums oder eines Hauses erfassen will."
"Diese letzten Gegebenheiten des menschlichen Lebens”, schreibt Schulz in seinem Exposé weiter, „lägen vielmehr in ganz anderer geistigen Dimension, nicht in der Kategorie des Faktischen, sondern in der des geistigen Sinnes."

Unter „Fittichen"
Nach den „Zimtläden” veröffentlichte Schulz Das Sanatorium zur Todesanzeige, weiterhin bemühte er sich um die Übersetzung seiner Texte. Joseph Roth, der ebenfalls aus Galizien stammte, versuchte sich dafür einzusetzen, starb jedoch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Ein 1937 fertig gestellter Text, Die Heimkehr, den Schulz an sein großes Vorbild Thomas Mann (neben Rilke und Roth) schickte, ist bis heute verschollen.
Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Schulz ins Ghetto der Stadt verbannt. Nach ihrer Besetzung durch die Wehrmacht nahm ihn der Gestapo-Offizier Felix Landau unter seine Fittiche. Landau, „der Judengeneral”, Kunsttischler aus Wien, war zuständig für die Zuordnung der jüdischen Arbeitssklaven. Schulz nahm er selber „in Anspruch”, er ließ ihn u.a. die Wände des Kinderzimmers in der Villa bemalen, die er beschlagnahmt hatte und in der er mit seiner Geliebten und seinen Kindern lebte. In seinem Tagebuch schreibt Landau über die Ermordungen der Juden von Drohobycz, die meisten von ihnen wurden im Vernichtungslager Belzec vergast, einige im nahen Wald von Bronica erschossen:
"Die Einteilung wurde getroffen, 3 Mann auf Herz, 3 auf Schädl, ich nehme Herz. Die Schüsse fallen und die Gehirnmassen schwirren durch die Luft ... Fast alle sinken lautlos zusammen. Nur bei Zweien klappt es nicht, sie heulen und winseln noch lange ... Die vorletzte Gruppe muss nun die bereits vorher Erschossenen in das Massengrab werfen, dann müssen sie sich aufstellen und fallen auch und zwar von selbst hinein ... Nun werden noch einige Leichen mit einer Spitzhacke umgeschichtet und dann beginnen wir mit der Totengräberarbeit. Hundemüde komme ich zurück, und nun geht es wieder an die Arbeit, alles im Gebäude in Ordnung bringen."
Die Vernichtung der Juden geht seinen „reibungslosen” Gang — von den rund 10000 Juden lebten 1944 noch 400 — bis am 19.November 1942 ein jüdischer Apotheker einen Gestapomann mit einer Feuerwaffe angreift. Daraufhin schießt die Gestapo den ganzen Tag über jeden Juden ab, der durch eine bestimmte Straße kommt, insgesamt 230. Felix Landau erschießt den „Zahnarztjuden” seines Waffenbruders Karl Günther. Günther rächt sich, in dem er Bruno Schulz erschießt. Kurz zuvor hatten noch Warschauer Freunde Vorbereitungen getroffen, ihn aus seiner Heimatstadt herauszuholen.

Wiederentdeckung

1945 wurde Drohobycz Teil der Sowjetunion. Obwohl Schulz schon zu Lebzeiten als einer der wichtigsten Autoren polnischer Sprache galt, wurden seine Werke erst nach Stalins Tod wieder veröffentlicht und kommentiert. Jerzy Ficowski, Dichter und Literaturwissenschaftler, übernahm für Schulz eine ähnliche Rolle, wie Max Brod sie für Franz Kafka innehatte. In den 60er Jahren fand Schulz endlich internationale Verbreitung. Autoren wie Primo Levi, Philip Roth und John Updike wurden von Schulz inspiriert.
Anfang 2001 begab sich der deutsche Dokumentarfilmer Benjamin Geissler gemeinsam mit seinem Vater, dem Autor Christian Geissler, auf die Suche nach den Wandbildern, die Schulz für die Kinder des Gestapo- Offiziers Landau gemalt hatte. Die Geisslers fanden sie, das frühere Kinderzimmer war nun eine Art Speisekammer einer der Wohnungen, in die seither die Villa des Gestapo-Manns aufgeteilt worden war. Polnische Restaurateure begannen mit den Restaurierungsarbeiten und verständigten die Gedenkstätte Yad Vashem von dem Fund. Im Mai 2001 kamen Experten, entfernten einige Malereien und brachten sie nach Israel. Eine internationale Kontroverse folgte. Yad Vashem behauptete, die Erlaubnis dafür von den örtlichen Behörden erhalten zu haben. Besonders in Polen schlugen die Wellen hoch. Zunächst bestätigten die ukrainischen Behörden diese Version, später stellten sie offiziell fest, dass die Malereien ohne Exporterlaubnis entfernt worden waren. Der Kern der Kontroverse liegt tiefer: Sollen die wenigen Reste der zerstörten jüdischen Kultur Mitteleuropas in ihrem ursprünglichen Umfeld verbleiben, oder sollen sie vereint in einer Gedenkstätte wie Yad Vashem zugänglich sein? Derzeit werden die Malereien im neu gebauten Museum Yad Vashems gelagert, über ihre Bestimmung wird noch verhandelt. Die in Polen verbliebenen Malereien wurden restauriert und sind nun Teil des Bruno-Schulz-Museums in Drohobycz. Benjamin Geissler thematisiert neben seinem sensationellen Fund auch diese Kontroverse und lässt vor allem einige der ganz wenigen Juden von Drohobycz zu Wort kommen.

Bruno Schulz: Die Zimtläden. Neu übersetzt von Doreen Daume, München: Hanser, 2008.


Jerzy Ficowski: Bruno Schulz 1892—1942, München: Hanser, 2008.
Stephen & Timothy Quay: The Streets of Crocodiles, 21 Min., 1986 soeben erschienen auf DVD: Quay Brothers. Die Kurzfilme 1979—2003.


Benjamin Geissler: Bilder finden, 102 Min., 2002. Erhältlich über www.benjamingeissler.de.


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