SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 12

"Bitte draußen bleiben"

Wie in Berlin der Supermarkt Reichelt bestreikt wurde

von Gregor Zattler

Beschäftigte, Gewerkschaften und Unterstützer probieren neue Kampfformen aus.

Ende 2006: Der Hauptverband des deutschen Einzelhandels kündigt den Manteltarifvertrag und will Spätarbeits- und Nachtschichtzulagen streichen. Mitte 2007 beginnt Ver.di die Tarifverhandlungen im Einzelhandel mit einer Forderung nach 6,5% Lohnerhöhung und Beibehaltung der Zulagen. Die Unternehmer unterbreiten kein verhandlungsfähiges Angebot. Mitte Dezember erklärt sich Rewe (Penny, Toom) zur Zahlung eines Übergangstarifs bereit: eine Einmalzahlung, 3% mehr Lohn ab 2008 und Erhalt der Zuschläge bei schlechteren Arbeitszeiten. Damit ist klar, dass in der Fläche nicht mehr zu holen sein wird. Ver.di lässt den Streik im Weihnachtsgeschäft ruhen, die Kolleginnen sauer. Ab 2008 bröckelt der Streik ab und bleibt von Kunden und Medien weitgehend unbeachtet.

Berlin, Frühjahr 2007: Dokumentarfilmerinnen machen zusammen mit anderen Konsumenten eine Aktion bei Real (siehe auch http://kanalB.org/ einzelhandel). Sie greifen damit in den Tarifkampf ein. Diese wütenden Konsumenten und ein Bündnis linker Gruppen, die sich anlässlich des Mayday zusammengefunden und schon zuvor auf der Berlinale in Kinos die prekären Arbeitsbedingungen thematisiert hatten, arbeiten zusammen für eine Aktion bei Reichelt. Ziel ist, die Filiale dicht zu machen. Für Ver.di ist das die Chance, Verbündete zu finden, Schwung in die Tarifauseinandersetzung zu bekommen, Medienaufmerksamkeit zu gewinnen und Druck für einen Überleitungstarif mit der Reicheltkette aufzubauen; hier ist der Organisationsgrad relativ hoch.
Innerhalb von Ver.di arbeiten ein Organiser und eine Organiserin an der Umsetzung der für eine DGB-Gewerkschaft ungewohnten Aktionsform und bilden dabei eine Brücke vor allem zu dem Bündnis aus dem Maydayzusammenhang. Für die Unterstützer liegt die Chance im Kontakt mit den Beschäftigten, gegenseitige Lernprozesse können angestoßen werden. Unterstützer und Organiser orientieren auf eine kurze Aktion ab 18.30 Uhr, um die Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten und die Bedeutung der Zuschläge zu thematisieren und möglichst viele Kunden in die Aktion einzubeziehen. Filiale und Termin werden von der Belegschaftsvertretung von Reichelt festgelegt.
In der Reichelt-Filiale auf der Berliner Straße in Berlin-Wilmersdorf arbeiten relativ viele Ver.di-Mitglieder, und die Berliner Straße ist sehr belebt. Die Aktion beginnt zum Schichtwechsel, damit die Streikenden nicht aus dem Laden hinaus gehen müssen, sondern „nur” nicht hineingehen. Weil die Aktion länger als zwei Stunden dauert, erhalten die Beschäftigten Streikgeld.

5.Juni, abends: Wir, vier Unterstützer und eine Einzelhändlerin, verteilen eine allgemein gehaltene Information kritischer Konsumenten zum Einzelhandelsstreik in die Hausbriefkästen rund um die Filiale in der Berliner Straße. Das Echo der Anwohner ist überwiegend freundlich.

6.Juni, 6 Uhr morgens: Treffen vor der Reichelt-Filiale. Etwa 10 Meter neben dem Eingang hat Ver.di Klapptische mit Kaffeeausschank und Materialien aufgebaut. Ein paar Meter vor dem Eingang steht ein mannshoher Bogen mit der Aufschrift „Streikbrecher” Noch ist nicht viel los, aber die Polizei ist schon da.
Der Eingang der Filiale wird von der von Reichelt bestellten Security blockiert. Inzwischen halten Unterstützer ein Transparent über den Reichelteingang: „Bitte bleiben Sie draußen!” Langsam kommen mehr Unterstützer vor die Filiale und auch die Reicheltbeschäftigten aus verschiedenen Filialen werden mehr. Am Ende werden 120 von ihnen gezählt worden sein: weniger als zum Streikauftakt, aber mehr als beim letzten Mal.
Die Ver.di-Streikleiterin gibt durch‘s Mikro bekannt, dass der Eingang nicht blockiert werden darf und die Polizei eine Gasse fordert. Die Unterstützer formieren sich widerwillig zu etwas gassenähnlichem. Wann immer eine Kundin auf die Filiale zusteuert, wird sie zunehmend dringlicher aufgefordert, die Filiale nicht zu betreten. Einige tun es doch: Buhrufe und Trillerpfeifenkonzert. Andere drehen in der Gasse um: Jubel und Beifall.
Noch ist die Arbeitsteilung ganz deutlich ausgeprägt: Unterstützer stehen vor dem Eingang und verteilen rechts und links Flugblätter an die wenigen Passanten, die Einzelhändlerinnen stehen beim Kaffeeausschank und protestieren neben dem Eingang. Die Polizei nervt weiter, lässt Unterstützung anfahren und räumt das Streikbrechertor gewaltsam ab, die Unterstützer halten sich daran fest — nach drei Minuten hat die Polizei ein paar Bodychecks verteilt und das Tor gewonnen, der Betriebsrat wirkt unsicher über den Verlauf der Aktion und wie friedlich alles wohl bleiben wird.

9 Uhr 30: Inzwischen wirkt alles recht routiniert. Einige Einzelhändlerinnen haben sich neben der Gasse aufgebaut und bitten Kundinnen, die versuchen von der Seite in die Filiale zu kommen, es doch bleiben zu lassen. Wenn diese Kundinnen in die Gasse geraten, ist sofort ein Unterstützer oder die Organiserin bei ihnen und fordert sie eindringlich auf draußen zu bleiben — mit gemischtem Erfolg.
Die meisten Kundinnen versuchen gar nicht erst, in die Filiale zu gehen, weil sie sofort begreifen, dass sie mit den Einzelhändlerinnen solidarisch sein wollen. Ich begegne einer Frau, die rechts und links am Fahrradlenker große Taschen mit Glasleergut hat, das sie auf dem Weg zur Arbeit bei Reichelt abgeben will. Sie hat sofort klar, dass sie jetzt keinen Schritt in den Laden setzt, und weiß nur nicht so recht, was sie jetzt mit dem Pfandglas machen soll. Susanne Stumpenhusen von der Ver.di-Landesbezirksleitung besucht unsere Aktion, spricht kämpferisch durch‘s Mikro und bedankt sich bei der Polizei.

11.30 Uhr: Die Routine rutscht in Richtung Langeweile und so habe ich Zeit, über das bisher Erlebte nachzudenken. Mir gegenüber beziehen sich ausschließlich Passantinnen auf den Umstand, dass dort klassische Frauenarbeitsbedingungen herrschen. Unter denen, die sehr heftig reagieren sind es aber auch gerade Frauen, die sich mit einer Mischung aus Wut und Autismus einen Weg durch die Menge in den Laden bahnen. Einige schieben Kinderwagen, für sie bedeutet die Aktion vor allem zusätzlichen Stress im eh schon zeitknappen Alltag.
Auch sind in den Morgenstunden besonders viele Rentnerinnen unterwegs, die realistischerweise damit rechnen, dass höhere Löhne im Laden zu höheren Preisen, aber kaum zu höheren Renten führen. Einmal werde ich als „Preistreiber” beschimpft. Mir fällt auf, dass wir nicht, wie ich das sonst von Aktionen kenne, allgemein ein Publikum, sondern jede Person, die den Laden ansteuerte ganz gezielt und direkt ansprechen. Irgendwie traten wir wie Menschenfischer auf, die jedes einzelne Schäfchen retten wollten.
Witzigerweise tritt die arbeitende Reicheltseite teilweise genauso auf, macht einladende Gesten und redet den verunsicherten Kundinnen gut zu, teilweise bietet auch die Polizei den Kunden an, sie in die Filiale zu begleiten. Von einer Blockade kann also nicht gesprochen werden, aber der Laden war trotzdem fast leer von Kunden, die Aktion war insofern ein Erfolg, (freilich um den Preis eines Aufwands, der nur schwer zu wiederholen sein wird).

12.30 Uhr: Auf dem Nachhauseweg kommt mir in den Sinn, mit welchen Inhalten die linken Unterstützer bei der Aktion präsent waren oder hätten sein können. Insgesamt war es eben die Unterstützung einer Aktion, die ganz in der Tarifbewegung von Ver.di aufging. Beispielsweise wurde gar nicht thematisiert, dass das Ziel (mehr Lohn, Erhalt der Spät- und Nachtarbeitszuschläge) den zu den Sonderöffnungszeiten beschäftigten Leiharbeiterinnen — die Filiale ist von Montags 8 Uhr früh durchgehend bis Samstags 23 Uhr geöffnet — gar nicht unmittelbar zugute kommt: Die fallen nicht unter den Einzelhandelstarif, sondern kriegen 6,25 Euro brutto die Stunde, wie mir eine Reichelkollegin sagt.
Diese Leiharbeiterinnen wurden während der Aktion eigentlich nur als Bedrohung der besseren Arbeitsbedingungen und als arme Opfer adressiert, sollten sich aber solidarisieren und nicht arbeiten. Ob welche tatsächlich die Arbeit verweigerten, weiß ich nicht. Fragen nach Arbeitsinhalt oder -hierarchie wurden nicht gestellt...
Zu Hause lese ich die Pressemitteilung von Ver.di zur Aktion: Offenbar haben die das alles ganz allein gemacht, zusammen mit den Kunden.


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