SoZ - Sozialistische Zeitung |
Der Bundestag berät Mitte Juni über ein Gesetz, das
Patientenverfügungen, in denen Menschen aufschreiben, wie sie im Falle der Bewusstlosigkeit behandelt
werden wollen, für den Arzt verbindlicher macht.
Bislang gelten Patientenverfügungen als
„Behandlungswunsch”, den Vormundschaftsrichter, Ärzte und gesetzliche Betreuer
interpretieren und befolgen können aber nicht müssen. Der jüngste Vorschlag zu einem
deutschen Patientenverfügungsgesetz will den tödlichen Behandlungsabbruch unabhängig vom
Grundleiden des Betroffenen verbindlich umgesetzt sehen. Was zähle, sei die
„Patientenautonomie”, die auch bei nicht tödlich verlaufende Krankheiten gelte, zum
Beispiel im Koma oder bei Demenz. Der Vorschlag wird von über 200 Parlamentariern unterstützt.
Patientenverfügungen werden aktiv
beworben. Darüber kursieren weit über zweihundert Broschüren, Anleitungshefte und Muster.
Seit Jahren gibt es parlamentarische Versuche, solche Willenserklärungen rechtsverbindlich zu machen.
Dabei ist viel von
„Selbstbestimmung” die Rede, wenig aber von den ökonomischen und sozialpolitischen Motiven
der Protagonisten solcher Angebote in Landesärztekammern, Pflegeheimen, Seniorenverbänden oder
Sterbehilfeverbänden. Das überstrapazierte Ideal passt zu einem Gesundheitswesen, das immer
warenförmiger wird und in dem das Arzt-Patient-Verhältnis in eine Kunden-Dienstleister-Beziehung
umgedeutet wird. Es passt zu einer Gesellschaft, in der jede Zuversicht, im Alter und bei
Pflegebedürftigkeit versorgt und geachtet zu werden, verschwunden ist. Jeder muss selbst Vorsorge zu
treffen, das ist sozial erwünscht.
Auch die Patientenverfügung gilt als
verantwortungsbewusstes Verhalten. Dabei wird übersehen, dass hier nicht weniger auf dem Spiel steht
als das gesellschaftliche Tötungsverbot. Mit den Verfügungsangeboten wird die ärztliche
Behandlungspflicht außerhalb der Sterbephase beschränkt. Wenn die Behandlung mit Antibiotika oder
die Sondenernährung unterlassen werden, dann ist das Ziel des Behandelns bzw. Unterlassens der Tod des
Patienten, der gerade nicht stirbt, dessen Leben aber als „nicht mehr lebenswert”
eingeschätzt wird.
Carl-Henning Wijkmark hat in seinem 1978 erschienen Buch Der moderne Tod. Vom Ende der Humanität die
sozialpolitischen und gesellschaftlichen Gefahren der Sterbeplanung literarisch vorweggenommen.
Die Geschichte erzählt von einem
Symposium zum Thema „Der letzte Lebensabschnitt des Menschen” Bert Persson, Ministerialdirektor
und Mitglied einer gleichnamigen Projektgruppe im Sozialministerium, leitet das Symposium und schaut
zurück auf die 70er Jahren: Damals war die Zeit für Euthanasiebeschlüsse noch nicht reif.
Ökonomen spielten eine untergeordnete Rolle. Eine „massive Meinungsbildung in gesellschaftlicher
Regie” hatte noch nicht stattgefunden. Nun sei es allerhöchste Zeit dafür: „Die
Bevölkerungspyramide ist ungünstig. 75% der Pflegekosten entfallen auf Langzeitpflege und Pflege
hoffnungsloser Fälle ... Unter den 25% Produktiven ... herrscht verzweifelte Unzufriedenheit.”
Persson weiß: Eine gesellschaftliche Planung, die auf Tötung alter oder behinderter
Pflegebedürftiger hinausläuft, ist heikel. Doch die eskalierende gesellschaftliche Krise lasse
keine andere Wahl, sagt Persson. „Wir brauchen schnell mehr Tote, um es ganz brutal zu sagen ... Und
die Wurzel des Übels ist nicht primär, dass die Euthanasie ungesetzlich ist, sondern sie ist es,
weil so wenige eine Euthanasie verlangen ... Es muss wieder natürlich werden, zu sterben wenn die
aktive Zeit vorbei ist. Wir müssen die Probleme mit den Alten lösen, nicht gegen sie."
Seine Projektgruppe hat eine versteckte
Meinungsumfrage gemacht und festgestellt: Es gibt, besonders bei den armen und kranken Alten, eine
„Reformbereitschaft”, sprich Euthanasiebereitschaft. Sie wollen nicht der Allgemeinheit zur Last
fallen. Dies zu verstärken ist die vornehme Aufgabe der Politik. Der „letzte Akt der
Selbständigkeit” die Entscheidung zum Tod darf aber nicht erbettelt werden, sondern
soll ein „gesetzlich festgelegtes Recht auf Sicherheit” sein.
Den modernen Tod gibt es auch in Deutschland. Unterhalb der aktiven Sterbehilfe, wie sie mittlerweile in
den Niederlanden, Belgien und Luxemburg üblich ist, wird der Tod verordnet, entschieden und
nachgefragt. Der Unterschied liegt nicht in der Wahl der Methode, also in der aktiv oder passiv genannten
Sterbehilfe, sondern darin dass diese „Hilfe” gar nicht Sterbenden gilt, sondern Menschen, die
schwerkrank oder verzweifelt sind.
Das Problem liegt deshalb auch nicht in
individuellen, persönlich verantworteten Behandlungsgrenzen, die im Klinikalltag getroffen werden. Es
liegt in einer Gesellschaft, in der „das Leiden und der Verfall nicht als würdig
gelten und nicht übereinstimmen mit dem glatten, jugendlichen, gut ernährten Bild, das wir uns vom
Menschen und seinen Rechten machen”, analysiert der französische Philosoph Alain Badiou.
„Wer sieht nicht, dass die Debatte über Euthanasie vor allem auf das radikale Fehlen
einer Symbolisierung für Alter und Tod hinweist?"
Damit meint Badiou, dass alt,
pflegebedürftig oder verwirrt zu sein aus dem Spektrum der sozial akzeptierten Lebensweisen
herausfällt. Sie passen nicht in das Bild des „willensfähigen” Individuums. Ein Leben
in solcher Lage wird zunehmend rechtfertigungsbedürftig.
Die Rede von den „unbezahlbaren
Gesundheitskosten in einer überalternden Gesellschaft” ist unüberhörbar.
Öffentlich alimentierte Wissenschaftler verfassen Studien mit dem schönen Titel:
„Altersbezogene Rationierung von Gesundheitsleistungen im liberalen Rechtsstaat” Der Ökonom
Friederich Breyer favorisiert das „Alter als Abgrenzungskriterium bei lebenserhaltenden
Maßnahmen” Seine Begründung für den altersbezogenen Ausschluss von medizinischen
Leistungen: Er „beruht ganz wesentlich auf der Annahme, dass die Erwartungen auf zukünftigen
Konsum die entscheidende Quelle für Lebensfreude sind. Je älter der Mensch bereits ist, desto
weniger zukünftiger Konsum liegt noch vor ihm, um so weniger kann er noch gewinnen, wenn er seine
augenblickliche Überlebenschance steigert."
Mit der Einführung von Budgets und
diagnosebezogenen Abrechnungsschlüsseln in den Krankenhäusern werden Patienten in ökonomisch
mehr oder weniger rentable Fälle unterteilt. Für die Pflegenden und die Ärzte entstehen unter
Umständen Dissonanzen zwischen ihrer berufsethischen Orientierung und dem Zwang, wirtschaftlich handeln
zu sollen. Sie suchen Entlastung. Eine Patientenverfügung, die den Wunsch nach Leistungsbegrenzung zum
Ausdruck bringt, kann entlastend wirken und im Berufsalltag zum „tödlichen Mitleid” werden.
Aber auch die unmittelbare soziale Umgebung
der Verfügenden ist alles andere als eindeutig und entspricht keineswegs immer jenem harmonischen
Familienideal, dass im Diskurs um Patientenverfügungen angeführt wird.
Thomas Klie und Baldo Blinkert haben sich
mit sozialer Ungleichheit und Pflege beschäftigt und festgestellt, dass die Sicherheit, im Alter und
bei Pflegebedürftigkeit gut versorgt zu werden, brüchig wird. Wer arm ist und wenig
sozialstaatliche Unterstützung bekommt, ist mit der Pflege ohne professionelle Dienste
möglicherweise überfordert, braucht das Pflegegeld aber möglicherweise für die eigene
knappe Haushaltskasse. Andere hoffen, wenigstens die eigene Alterssicherung oder die eigenen Ersparnisse zu
retten und vermeiden teure Unterbringungen.
Und was ist mit jenen Kranken und Betagten,
die weder rechtzeitig Familien gegründet noch private Altersvorsorge betrieben haben? Einen Anspruch
auf umfassende Versorgung am Lebensende gibt es nicht. Wer seine Familie nicht belasten will oder diesen
sozialen Zusammenhang gar nicht hat, wird sich etwas „leichter” für den Versorgungsabbruch
entscheiden.
Kern der Patientenverfügung als Formular und als Debatte ist nicht die Suche nach sozialen Lebens-
und Sterbedingungen. Es geht um den tödlichen Behandlungsabbruch außerhalb der Sterbephase. Das
vermeintliche Angebot, das eigene Sterben oder das der Anderen entscheiden und planen zu können, wird
von allen Verfügungsanbietern bis hin zu Hospizvereinen als „würdig” und
gelegentlich als (moralischer) Rechtsanspruch zur Sprache gebracht.
Die Tragödie des Todes, die konkrete
Sterblichkeit, das Problem der Pflege- und Hilfebedürftigkeit, die möglichen Kontrollverluste, all
das soll individuell und vertraglich vermieden werden können. In den öffentlichen Botschaften
herrscht eine Art Management des Sterbens. Weil der Übergang vom Sterblichen zum Sterbenden prinzipiell
einer anderen Ordnung angehört, weil also die Zukünftigkeit des Todes nicht vergegenwärtigt
werden kann, ist das Denken hier besonders offen für allerlei Mythen und Handlungsanweisungen. Das ist
eine der Gefahren, die dem modernen Sprechen über den Tod innewohnen: Ästhetisch und kontrolliert,
mit wenig Leidenszeit verknüpft, ist tatsächlich auch oder gerade der Tod durch die Hand des
Arztes oder die Mitarbeit des Sterbebeihelfers.
Die Folie, vor der diese Fantasien
mobilisiert werden, ist eindeutig: Wenn der „Ressourcenverbrauch” als Leitlinie für
therapeutisches wie pflegerisches Handeln etabliert ist und das ist der Fall kann
„Leidvermeidung” zur allgemeinen Norm werden, die dann durchgesetzt ist, wenn sie auch
individuell und familiär handlungsleitend geworden ist.
Gerade in diesem Kontext ist die Rede von
der „Apparatemedizin”, als eine „nicht mehr loslassende Medizin” (Enquêtekommission
Ethik und Recht der modernen Medizin, 2004) gefährlich. Es gibt eine solche Medizin, es gibt aber auch
umgekehrt soziale Sicherungssysteme, die immer mehr Menschen „loslassen” erst Recht im
Alter, bei Krankheit und wenig privater Risikoabsicherung.
Behandlungsentscheidungen werden in Heimen oder Kliniken getroffen. Doch die Verantwortung dafür
verschiebt die dokumentierte Willensbekundung vom Arzt und Betreuer auf den Betroffenen, der oder die sich
in dieser Lage nicht mehr äußern kann. Die Angaben in den Verfügungen sind notgedrungen
diffus und können vor dem Hintergrund ökonomischer und sozialer Bedingungen interpretiert werden.
Bemerkenswert dabei: Gerade solche Pflegekräfte, die den Abbruch von Ernährungen oder das fiebrige
Sterben mit einer unbehandelten Lungenentzündung alltäglich begleiten müssen, werden in den
Gerichtsentscheidungen zu diesem Thema gar nicht gehört. Nicht selten sind es die Pflegenden, die den
Behandlungsabbruch nicht befürworten und deshalb juristisch dazu verpflichtet werden.
Anders als immer dargestellt, sind Patienten
renitenter und uneindeutiger, als man denken möchte. Nach zwanzig Jahren Werbung in den USA bezeugen
ausgesprochene Befürworter des Verfügungswesens, dass nur sehr wenige auch nur wenige
schwer Erkrankte, die ihren Tod absehen können Patientenverfügungen ausfüllen. Auch
der Onkologe Stephan Sahm hat eine Studie vorgelegt, die zum Ergebnis kommt, dass gerade Krebskranke keine
rechtsverbindliche Verfügung wollen.
Der Ministerialdirektor Bert Persson hat
nicht nur willige Medizinethiker und Sozialökonomen geladen, um den selbstbestimmten Lebensverzicht bei
alten Menschen zu mobilisieren. Sein Gegenspieler ist der Schriftsteller und Historiker Axel Rönning.
Er nennt die angestrebte „Sterbedienstleistung” den „modernen Tod”, der zu dem Leben
davor passe. „Wir dürfen existieren. Zuerst als Produktionsfaktoren. Dann aus Gnade als Alte und
bald nicht einmal mehr das."
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |