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Ende der 80er Jahre, die Wirtschaftspresse begann gerade, die
Informationstechnologie als Quelle unbegrenzten Produktivitätswachstums zu vermarkten, spottete der US-
Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson: „Computer sind überall zu finden, nur nicht
in der Wirtschaftsstatistik.” Ähnliches ließe sich gegenwärtig über die
Wirtschaftskrise sagen. Empirische Wirtschaftsforscher berichten zwar allenthalben von Preissteigerungen,
eine Rezession die nach einer verbreiteten Definition des amerikanischen National Bureau of Economic
Research dann vorliegt, wenn das Bruttoinlandsprodukt in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen negative
Wachstumsraten aufweist haben sie aber noch nicht ausmachen können, weder in den USA noch in
einem der anderen kapitalistischen Hauptländer. Und trotzdem ist allenthalben von Krise die Rede.
Die Verunsicherung der Finanzanleger geht
Hand in Hand mit widersprüchlichen Konjunkturprognosen. Die Konfusion unter Börsenhändlern,
Wirtschaftsforschern und anderen „Wirtschaftsmachern” bestätigt, was John Maynard Keynes
bereits Mitte der 30er Jahre über die ökonomische Zukunft und die Fähigkeit, diese treffend
zu prognostizieren, in knappen Worten zusammenfasste: Wir wissen es einfach nicht. Bei wirtschaftlichen oder
anderen Entscheidungen käme man deshalb nicht an der Annahme vorbei, dass die Welt morgen noch so
ähnlich aussehen werde wie gestern. Auf dieser Grundlage ließen sich dann Entscheidungen treffen
und Käufe bzw. Verkäufe tätigen.
Ein ebenso plausibler wie praktikabler
Vorschlag, der allerdings ein gewisses Grundvertrauen in die Stabilität der wirtschaftlichen und
politischen Verhältnisse voraussetzt. Damit ist es allerdings nicht zum Besten bestellt. Als sei er von
Münteferings Heuschrecken gebissen, erklärte Bundespräsident Horst Köhler, immerhin ein
ehemaliger Direktor des IWF, Finanzmärkte kürzlich zu Monstern, die an die politische Leine gelegt
werden müssten. Ins gleiche Horn stießen Ex-Kanzler Helmut Schmidt, die Ex-Präsidenten der
EU-Kommission Jacques Delors und Jacques Santer sowie eine Reihe weiterer Ex-Politiker. Sie forderten in
einem Offenen Brief an die amtierende EU-Kommission die Einrichtung eines EU-Gremiums, das in Zusammenarbeit
mit IWF und UN-Sicherheitsrat die internationalen Finanzmärkte kontrollieren soll.
Auch wenn wieder einmal nichts Praktisches
aus solchen Vorschlägen folgt, deuten sie doch eine gewisse Entfremdung zwischen der politischen Klasse
und der Bourgeoisie an, ein Haarriss im neoliberalen Herrschaftsblock. Teilen der politischen Klasse behagt
es offenbar nicht, die Prügel für eine Politik einzustecken, die anderen mehr nutzt als ihnen
selbst. Andererseits wird soviel Eigensinn des politischen Personals von Vermögensbesitzern und
Unternehmenslenkern als unangemessen empfunden. Von einem Butler wird loyale Zuarbeit, keine Mitsprache
erwartet.
Es liegt allerdings auch etwas
Verstörendes in der Tatsache, dass Politiker, die den Neoliberalismus in der Vergangenheit entweder
aktiv vorangetrieben haben wie Köhler und Santer, oder wie Schmidt und Delors als den
sozialdemokratischen Idealen letztlich überlegen akzeptiert haben, Töne à la Lafontaine
anschlagen. Sollte, nachdem das Tempo der neoliberalen Gegenreform in den vergangenen Jahren bereits
erheblich verlangsamt wurde, auch noch ein politischer Richtungswechsel angezeigt sein? Wäre es nicht
gut, selbst ein Alternativprogramm vorzulegen, bevor Attac, die LINKE und Gewerkschaften ihre
diesbezüglichen Forderungen zu einem mobilisierungsfähigen Aktionsprogramm ausarbeiten? Vorsicht
ist bekanntlich besser als Nachsicht. So wie damals als Keynes, Lord Beveridge und einige amerikanische New
Dealer einer möglichen Radikalisierung der Arbeiterbewegung durch einen „bürgerlichen
Reformismus” zuvorkamen, der aus heutiger Sicht allerdings selbst schon als radikal erscheint.
Ende der 90er Jahre die Bewegung für globale soziale Gerechtigkeit war gerade im Entstehen
hat sich eine Denkrichtung herausgebildet, für die Autoren wie Barry Eichengreen, Jeffry
Frieden, Harold James und Dani Rodrik bekannt sind. Der rote Faden, der deren Werke durchzieht, lässt
sich grob vereinfachend folgendermaßen zusammenfassen: Von den 1870er Jahren bis 1914 führten
zunehmende Außenhandelsverflechtungen und internationale Kapitalströme zu einer „ersten
Welle der Globalisierung” Möglich wurde dies, weil immer mehr Länder zu dem von
Großbritannien garantierten Goldstandard übergingen. Dieser schuf verlässliche
Kalkulationsgrundlagen für Händler und Investoren und machte insofern das erwähnte Problem
der Unsicherheit hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen handhabbar. Darauf bauend, dass der Wert des in
Import- und Exportgeschäften zirkulierenden oder im Ausland angelegten Kapitals zumindest nicht durch
Inflation oder Wechselkursänderungen verringert würde, wagten sich immer mehr Unternehmen auf den
Weltmarkt vor.
Der „Preis” der internationalen
Stabilität bestand allerdings darin, dass Konjunkturkrisen im Inland jedes Mal mit einem enormen
Anschwellen von Arbeitslosigkeit und Armut einhergingen eine Arbeitslosenversicherung gab es ja noch
nicht. Dadurch wurden politische Gegenbewegungen hervorgerufen, die es nach dem Ersten Weltkrieg politisch
unmöglich machten, zum Goldstandard zurückzukehren der wegen der inflationären
Kriegsfinanzierung von den kriegführenden Ländern aufgegeben worden war oder ein
multilaterales Weltwirtschaftssystem auszuhandeln, das an die Stelle des Goldstandards hätte treten
können.
Dies gelang erst nach dem Zweiten Weltkrieg,
als mit dem Bretton-Woods-System feste Wechselkurse, mit dem Gatt-Prozess stufenweise Zollsenkungen und mit
der UNO ein „liberaler Internationalismus” institutionalisiert werden konnte, der eine
Integration der Weltwirtschaft ermöglichte und außenpolitische Spannungen politisch verhandelbar
machte. Zudem produzierten sozialstaatliche Absicherungen und Umverteilung im Inneren die notwendige
Legitimation.
Allerdings, und mit dieser negativen
Dialektik endet die Argumentation von Eichengreen und ihm verwandten Autoren, hat die Globalisierung den
Spielraum sozialstaatlicher Umverteilung immer weiter eingeschränkt. Damit ist eine Situation
eingetreten, in der der Sozialstaat zur Legitimationsbeschaffung zwar notwendig bleibt, aber leider,
aufgrund der Eigenlogik des Wirtschaftssystems, ein Ding der Unmöglichkeit geworden ist.
Politikfähig wird man mit solchen
Argumenten nicht. Das musste die rot-grüne Bundesregierung erfahren, als sie Hartz IV und die Agenda
2010 damit entschuldigte, dass sie den Sozialstaat „eigentlich” gar nicht abbauen wolle, dies
unter dem Druck des weltwirtschaftlichen Imperativs aber leider tun müsse. Den „Jargon der
Eigentlichkeit” hat schon Adorno mit guten Gründen verspottet... Einen Weg der
sozialdemokratischen Überwindung oder wenigstens Eindämmung neoliberaler Legitimationsprobleme
gibt es bis heute nicht. Insofern können sich großes Geld und Konzernbesitz zumindest damit
beruhigen, dass es gegenwärtig keine Alternativen zum Neoliberalismus gibt.
Und dennoch können die Herrschaften
nicht ruhig schlafen. Fast möchte man meinen, sie sehen das Gespenst des Kommunismus umgehen. Ob und in
welcher Gestalt das Gespenst allerdings zum „Vorschein” kommt, hängt nicht zuletzt von der
Linken im weitesten und nicht im parteipolitischen Sinne ab.
Leider sind die meisten linken
Strömungen aber mehr mit der Interpretation als mit der Veränderung der Welt beschäftigt. Ob
die Sozialdemokratie unter Bezug auf Kant erklärt, Kommunismus solle nicht existieren; ob Kritische
Theoretiker erklären, er könne nicht existieren; ob Wertkritiker erklären, der Kommunismus
sei in der Wertform versteckt oder ob Postmodernisten den Kommunismus in eine „umherschweifende”
Fantasie auflösen die Frage nach der Veränderung der Welt durch jene, die an ihr leiden,
wird aus Angst, es könnte wieder daneben gehen, nicht gestellt. Und dabei gäbe es viele Fragen,
die Raum für Kritik, Fantasie und kategorische Imperative lassen.
Allein die blinden Stellen der
„Eichengreen-Strömung” liefern genug Ansatzpunkte für eine neuerliche
Auseinandersetzung mit politischer Ökonomie und Klassenpolitik: Jene fragt nicht nach den Ursachen des
Ersten Weltkriegs, der das Ende der ersten Globalisierungswelle eingeleitet hat. Sie erwähnt nicht,
dass der größte Teil der Welt unter Kolonialverwaltung stand und daher den Goldstandard nicht
freiwillig übernommen hat, sondern mit militärischer Gewalt dazu gebracht wurde. Sie setzt
Kommunismus und Faschismus als protektionistische Bewegungen gleich, ohne nach der sozialen Basis, den
Strategien und Zielen des einen oder anderen zu fragen.
Erst recht kommt ihr die Frage nicht in den
Sinn, ob jene, die mit dem damaligen Weltwirtschaftssystem unzufrieden waren, nicht selbst hätten ein
anderes System erschaffen können, das eine Alternative zu Sowjetkommunismus, Faschismus oder liberalem
Internationalismus hätte sein können. Aus der Beantwortung dieser historischen Fragen lassen sich
sicherlich auch Anregungen zur Entwicklung einer politischen und ökonomischen Alternative zum
Neoliberalismus gewinnen. Die „Nachfrage” hiernach besteht seit langem, nur steht ihr noch kein
überzeugendes „Angebot” gegenüber.
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