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Was ermuntert euch zur Gründung einer antikapitalistischen Partei?
Seit einigen Jahren erleben wir einen neuen Aufschwung der Kämpfe. Der Winter 1995 scheint ein
Wendepunkt gewesen zu sein und eine neue Phase eingeleitet zu haben, mit neuen Mobilisierungen, geführt
von Lohnabhängigen, die von der Prekarisierung besonders betroffen sind. Danach kam die
Antiglobalisierungsbewegung, die sich nicht auf die Sozialforen beschränkt. Das ist eine bedeutende
Bewegung von Menschen, die konkrete Kampagnen durchführen zum Recht auf Wasser, zum
Schuldenerlass u.a.
Seit etwa zehn Jahren haben wir auch das
Vergnügen, internationale Kontakte wieder aufbauen zu können. Das alles kommt zustande, weil die
Mobilisierungen in den letzten Jahren zunehmend dichter werden. 2003 hatten wir den Streik gegen die
Rentenreform und den Kampf gegen den Ersteinstellungsvertrag (CPE); sie haben der Vorstellung wieder Geltung
verschafft, dass ein Kampf auch siegreich sein kann.
Es gibt also Widerstand, selbst in
schwierigen Momenten kommt er zum Ausdruck. Viele dachten, die Wahl von Sarkozy würde den
Mobilisierungen ein Ende setzen, aber so kam es nicht; der Widerstand geht weiter. Ich will kein zu
optimistisches Szenario skizzieren, aber diesen Widerstand gibt es und über ihn formiert sich eine neue
Arbeiterschaft. Eine neue Generation tritt in den Kampf und beteiligt sich an den Bewegungen.
In den jüngsten Mobilisierungen tritt tatsächlich eine neue Generation auf, aber auch neue
Bereiche der Lohnabhängigen, der Frauen, der Prekarisierten, die sich nun in Bewegung setzen. Ich denke
an die jüngsten Streiks bei Carrefour, FNAC, bei Monoprix. Erreicht die LCR diese neuen Aktivisten, die
den gewerkschaftlichen und politischen Organisationen relativ fremd gegenüberstehen?
Für uns geht es dabei um zwei Dinge. In Bereichen, in denen die Beschäftigten für
gewöhnlich nicht kämpfen, gibt es jetzt einen Konflikt nach dem anderen: im Einzelhandel, bei
Pizza Hut, MacDonalds, FNAC. Für uns gilt es als erstes, den Menschen, die in diesen neuen
Kämpfen ihr Engagement entdeckt haben, eine politische Antwort zu geben. Wir wollen mit ihren
Bestrebungen Schritt halten, auf ihren Drang antworten, weiter zu gehen.
Zweitens geht es darum, für die
Mehrheit der abhängig Beschäftigten wieder ein Klassengefühl zu schaffen, das dem Bild vom
Proletariat entspricht, wie es heute existiert. Aus marxistischer Sicht hat es niemals so viele Ausgebeutete
gegeben wie heute, niemals so viele Menschen, die ihre intellektuelle oder manuelle Arbeitskraft verkaufen.
Andererseits ist aber auch das Klassenbewusstsein noch nie so schwach gewesen. Es ist paradox: Quantitativ
gibt es immer mehr Ausgebeutete, qualitativ aber nimmt die Zahl derer, die sich der Ausbeutung bewusst sind,
ab. Das konkrete Problem besteht also darin, ausgehend von den Kämpfen für dieses neue Proletariat
ein Klassenbewusstsein zu rekonstruieren. Aber das kapitalistische Gift ist immer noch sehr wirksam. Man
braucht sich nur die Spaltungen anschauen zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor, zwischen den
prekarisiertesten und den stabilsten Schichten der Klasse.
Ist die LCR heute in der Lage, Mütter, Prekarisierte, die neuen Generationen zu organisieren,
die ja nicht dem gewöhnlichen Profil trotzkistischer Aktivisten entsprechen?
Ja. Teilweise haben wir es schon getan. Die LCR hat sich in ihrer sozialen Zusammensetzung sehr
verändert. Seit 2002 lernen wir, Bereiche anzusprechen, bei denen wir bislang keinen Erfolg hatten.
Aber das wirkliche Problem liegt nicht darin, es liegt darin, für diese Menschen erfolgreich eine neue
politische Kraft aufzubauen.
Man muss eine Gesamtsicht der Kämpfe
haben und verstehen, dass diese große Zahl neuer Ausgebeuteter im Augenblick keine politische
Vertretung hat. Lange Zeit haben die Organisationen der extremen Linken geglaubt, sich an die
Lohnabhängigen nur vermittelt über die traditionellen Arbeiterparteien, vor allem die
Kommunistische Partei (PCF), wenden zu können. Es gab die Vorstellung, dass es die PCF sei, welche die
Gewerkschaften führte, Arbeiterkader heranbildete, die Arbeiterklasse organisierte, und dass man daher,
um an die Lohnabhängigen heranzukommen, nicht an der PCF vorbei könne.
Nun zeigt sich, dass dies nicht mehr stimmt.
Heute gibt es eine Menge Leute, die vermittelt über die Gewerkschaften in den Kampf treten, ohne jedoch
durch die CGT oder die PCF gegangen zu sein; deren Verbindungen zur Klasse haben sich gelockert. Das
heißt nicht, dass die PCF verschwunden ist. Es gibt noch einen Haufen Aktivisten in der PCF, aber wir
sind nicht mehr in einer Situation, wo wir auf uns selbst gestellt nicht hätten existieren können.
Heute geht es darum, dass wir selbst
erfolgreich handeln und aufhören, uns damit zufrieden zu geben, dass wir anderen sagen, was sie tun
sollen. Wir müssen wirklich eine neue politische Vertretung aufbauen, die dem Bild dieser neuen, aus
den Kämpfen hervorgehenden Arbeiterschaft entspricht.
War es diese Vorstellung von der Erneuerung der sozialen Kämpfe, die euch dazu bewogen hat, eine
Neue Antikapitalistische Partei (NPA) zu gründen?
Ganz und gar. In der LCR ist dieses Projekt alt. Seit dem Fall der Berliner Mauer sagen wir, dass wir
eine neue Partei und ein neues Programm brauchen. Wir denken, dass der historische Zyklus, der 1917 mit der
russischen Revolution begonnen hat, 1989 zu Ende gegangen ist. Das heißt nicht, dass man diese Periode
pauschal ablehnt, im Gegenteil, man muss sich mit diesem Jahrhundert auseinandersetzen, um daraus Lehren zu
ziehen, was man tun muss und was nicht; wir müssen aber auch begreifen, dass wir in einer neuen Periode
leben. Die russische Revolution kann nicht länger der Bezugspunkt bleiben, den sie für alle
revolutionären Gruppen ein Jahrhundert lang war.
Das Projekt datiert also nicht von gestern.
Aber die Frage ist, wie man es erfolgreich durchführen kann. Lange Zeit hat die LCR geglaubt, man
könne es realisieren, indem man alle Gruppen links von der Linken zusammenführt, also Bestehendes
verbindet. Ich habe diese Orientierung nicht geteilt, und ich teile sie immer noch nicht. Sie zeugt von
einem tiefen Unverständnis der Bewegung, die heute die Gesellschaft aufrüttelt.
Ich denke im Gegenteil, dass man sich auf
die Kämpfe selbst stützen muss. Ich glaube, die sozialen Kämpfe sind an sich eine
emanzipatorische Kraft. Wenn Lohnabhängige und Jugendliche in mehreren Wellen in den Kampf treten und
darin ihre Waffen schmieden, sich politisieren, Bewusstsein erlangen, muss man begreifen, dass es hier um
die Suche nach einer neuen politischen Repräsentanz geht.
All diese Menschen, die seit einem Dutzend
Jahren kämpfen, erkennen sich in der institutionellen Linken nicht wieder. Sie mögen bei den
Wahlen für sie stimmen, um die Rechte zu stoppen, aber sie erkennen sich darin nicht wieder. Wir haben
gespürt, dass dieser Raum existiert, aber wir haben uns über die Art und Weise getäuscht, ihn
zu besetzen. Man muss von dem Diskurs wegkommen, der da sagt: „Kommt zu uns, wir sind es, die Recht
haben” Stattdessen müssen wir auffordern: „Handelt selber!"
nEs gibt also breite soziale Kämpfe,
und die LCR besetzt einen immer wichtigeren Platz in den Medien. Entsteht eine Begegnung zwischen den
Kämpfen und eurer Organisation? Anders gesagt: Erfährt die LCR über den medialen Erfolg
hinaus ein organisatorisches Wachstum?
Ja. Es gibt ein Wachstum. Früher hat
sich die LCR nur an sehr aktive und informierte Aktivisten gewandt, und sie dachte nicht daran, sich direkt
an die einfachen Leute zu wenden. Wir haben gelernt, das zu tun, in sozialen und politischen Kämpfen,
bei Wahlen. Wir haben angefangen, Politik zu machen.
nAber ist es euch gelungen, neue Mitglieder
zu gewinnen?
Ja. Seit 2002 haben wir unsere
Mitgliederzahl verdoppelt. Zusammen mit der Jugendorganisation [Jeunesse Communiste Révolutionnaire]
sind wir 4000 bis 5000. Vor allem konnten wir unseren Mitgliederbestand stabilisieren. Es hat trotzdem eine
ziemlich seltsame Absetzbewegung von Genossen gegeben, die lange in der LCR waren und beschlossen haben zu
gehen, als eine neue Generation gekommen ist eine Art zu sagen: „Wir haben unsere Arbeit
gemacht, wir können uns jetzt ausruhen."
Sie sind nicht wegen politischen
Meinungsverschiedenheiten ausgetreten, sie haben es vorgezogen, weitläufigere Sympathisanten zu werden.
Gleichzeitig sind Neue zu uns gestoßen, die uns ermöglicht haben, Aktivitäten wieder
aufzunehmen, die wir seit Jahren nicht mehr unternommen hatten und die ich selbst in der LCR nicht mehr
erlebt habe, z.B. regelmäßige Aktivitäten in den Betrieben und Wohnvierteln.
Diese neuen Mitglieder und neuen Aktivitäten vermitteln den Eindruck, die LCR habe ein anderes
Profil gewonnen...
Was die soziale Zusammensetzung betrifft, ja. Die LCR ähnelt der Gesellschaft mehr als früher.
Es gibt Lohnabhängige, Frauen, wir haben uns geöffnet, und unsere Organisation bildet mehr die
unteren Klassen ab. Zu unseren Versammlungen kommen nun auch zunehmend Arbeiter, Jugendliche aus den
Stadtteilen, also müssen wir Mittel und Wege finden, diese Menschen einzubeziehen.
Das ist nicht immer leicht. Es gibt ja eine
Krise der Militanz. In unserer Gesellschaft haben die Leute die Tendenz zu sagen: Wir delegieren unsere
Belange an jemanden, der für uns die Arbeit erledigt. Dies Gefühl wird von denen kultiviert, die
uns beherrschen und ausbeuten. Zeit zu finden, sich selber zu engagieren, selber aktiv zu sein, ist nicht
selbstverständlich. In dieser Hinsicht haben wir große Fortschritte gemacht.
Die Idee der NPA ist nicht, eine Partei
passiver Mitglieder aufzubauen. Das wiederhole ich ständig. Wir wollen keine Webseite sein, die die
Leute lächelnd anklicken können, um Geld zu spenden und Mitglied zu werden, ohne sich
einzubringen. Das wäre eine leichte und gefährliche Lösung. Das führt dazu, dass man
seine Interessen an Spezialisten delegiert, die Zeit haben und Politik machen wollen. Daraus entstehen
Parteien, in denen die Führung keine Beziehungen mehr zu ihrer Basis hat bürokratische
Parteien.
Wir haben eine extreme Linke erlebt, die
ständig sagte, dass sie die Ausgebeuteten repräsentieren will. Wenn wir uns aber angeschaut haben,
wer zu ihr gehörte, fanden wir nur Lehrer, Männer und Weiße. Ich übertreibe ein wenig,
aber das war die Tendenz. In derselben Weise können wir auch nicht sagen: „Wir wollen eine
Organisation sein, die die Lohnabhängigen verteidigt”, und jede Woche Versammlungen abhalten, die
bis 3 Uhr morgens dauern. Wenn man Student ist, geht das, aber wenn man morgens um fünf zur Arbeit
muss, ist das nicht möglich. Und Versammlungen mit dreißig Leuten sind gut für die, die es
gewohnt sind, in der Öffentlichkeit zu sprechen, aber für Anfänger in der Politik ist das
nicht unbedingt eine gute Idee. Wir müssen Mittel entwickeln, damit alle wirklich zu Akteuren in der
Organisation werden, das Wort ergreifen, sich ausdrücken, aktiv teilnehmen. Man muss einen Arbeitsstil
finden, der es den Leuten erlaubt, Selbstvertrauen zu haben. Wir haben keine perfekte Lösung, aber das
ist ein Teil der Diskussion, die wir führen müssen.
Welcher Unterschied besteht zwischen der Partei, die ihr aufbauen wollt, und einer trotzkistischen
Partei?
Ich bin Sprecher einer trotzkistischen Partei und ich nehme dieses Erbe an, aber es gibt noch andere,
und vor allem darf das kein Vorwand sein für fraktionellen Streit. Wir sind keine roten Professoren.
Davon gibt es zu viele in der extremen Linken. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, als
Minderheit die Fahne hochzuhalten das ist kein Programm. Die Revolution wollen wir mit der Mehrheit
der Bevölkerung machen. Man darf vor der großen Zahl keine Angst haben.
Ihr sagt, dass die NPA eine revolutionäre Partei sein wird, und ebenso oft sagt ihr, dass ihr
vor allem keine LCR 2.0 aufbauen wollt. Warum habt ihr keine Partner gesucht, besonders bei Lutte
Ouvrière (LO)?
Wir haben uns sehr früh mit der Leitung von LO getroffen und ihr vorgeschlagen, bei dieser neuen
Partei mitzumachen. Sie haben abgelehnt, weil die NPA keine trotzkistische Partei werden wird. Kurz danach
haben wir erfahren, dass sie im ersten Wahlgang der Kommunalwahlen auf Listen der Sozialistischen Partei
(PS) kandidieren würden. Wo ist da die Kohärenz? Man muss die Hegemonie der PS brechen, und der
erste Schritt dahin ist, von ihrer Führung unabhängig zu sein.
Euer Projekt der neuen Partei wird nicht von allen Mitgliedern der LCR unterstützt.
Man muss begreifen, dass die LCR sich in einem Prozess befindet, der unumkehrbar ist. Wir haben einen
Appell zur Gründung der NPA lanciert, wir sehen, dass er auf Resonanz stößt, wir werden das
durchziehen. Wir werden den Neuen, die kommen und die nicht die erfahrenen alten Hasen sind, den Platz
überlassen. Und wir werden die Verbindungen mit den anderen Kräften in Europa stärken, um
schließlich eine europäische antikapitalistische Kraft aufzubauen.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
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