SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 21

"Handelt selbst!"

LCR gründet neue antikapitalistische Partei — Interview mit Olivier Besancenot

Der Präsidentschaftskandidat der LCR, Olivier Besancenot, äußert sich über Ziele und Voraussetzungen des neuen Parteiprojekts. Das Gespräch führte Marlène Benquet, Doktorandin der Soziologie und früher Mitglied von LO.

Was ermuntert euch zur Gründung einer antikapitalistischen Partei?

Seit einigen Jahren erleben wir einen neuen Aufschwung der Kämpfe. Der Winter 1995 scheint ein Wendepunkt gewesen zu sein und eine neue Phase eingeleitet zu haben, mit neuen Mobilisierungen, geführt von Lohnabhängigen, die von der Prekarisierung besonders betroffen sind. Danach kam die Antiglobalisierungsbewegung, die sich nicht auf die Sozialforen beschränkt. Das ist eine bedeutende Bewegung von Menschen, die konkrete Kampagnen durchführen — zum Recht auf Wasser, zum Schuldenerlass u.a.
Seit etwa zehn Jahren haben wir auch das Vergnügen, internationale Kontakte wieder aufbauen zu können. Das alles kommt zustande, weil die Mobilisierungen in den letzten Jahren zunehmend dichter werden. 2003 hatten wir den Streik gegen die Rentenreform und den Kampf gegen den Ersteinstellungsvertrag (CPE); sie haben der Vorstellung wieder Geltung verschafft, dass ein Kampf auch siegreich sein kann.
Es gibt also Widerstand, selbst in schwierigen Momenten kommt er zum Ausdruck. Viele dachten, die Wahl von Sarkozy würde den Mobilisierungen ein Ende setzen, aber so kam es nicht; der Widerstand geht weiter. Ich will kein zu optimistisches Szenario skizzieren, aber diesen Widerstand gibt es und über ihn formiert sich eine neue Arbeiterschaft. Eine neue Generation tritt in den Kampf und beteiligt sich an den Bewegungen.

In den jüngsten Mobilisierungen tritt tatsächlich eine neue Generation auf, aber auch neue Bereiche der Lohnabhängigen, der Frauen, der Prekarisierten, die sich nun in Bewegung setzen. Ich denke an die jüngsten Streiks bei Carrefour, FNAC, bei Monoprix. Erreicht die LCR diese neuen Aktivisten, die den gewerkschaftlichen und politischen Organisationen relativ fremd gegenüberstehen?

Für uns geht es dabei um zwei Dinge. In Bereichen, in denen die Beschäftigten für gewöhnlich nicht kämpfen, gibt es jetzt einen Konflikt nach dem anderen: im Einzelhandel, bei Pizza Hut, MacDonald‘s, FNAC. Für uns gilt es als erstes, den Menschen, die in diesen neuen Kämpfen ihr Engagement entdeckt haben, eine politische Antwort zu geben. Wir wollen mit ihren Bestrebungen Schritt halten, auf ihren Drang antworten, weiter zu gehen.
Zweitens geht es darum, für die Mehrheit der abhängig Beschäftigten wieder ein Klassengefühl zu schaffen, das dem Bild vom Proletariat entspricht, wie es heute existiert. Aus marxistischer Sicht hat es niemals so viele Ausgebeutete gegeben wie heute, niemals so viele Menschen, die ihre intellektuelle oder manuelle Arbeitskraft verkaufen. Andererseits ist aber auch das Klassenbewusstsein noch nie so schwach gewesen. Es ist paradox: Quantitativ gibt es immer mehr Ausgebeutete, qualitativ aber nimmt die Zahl derer, die sich der Ausbeutung bewusst sind, ab. Das konkrete Problem besteht also darin, ausgehend von den Kämpfen für dieses neue Proletariat ein Klassenbewusstsein zu rekonstruieren. Aber das kapitalistische Gift ist immer noch sehr wirksam. Man braucht sich nur die Spaltungen anschauen zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor, zwischen den prekarisiertesten und den stabilsten Schichten der Klasse.

Ist die LCR heute in der Lage, Mütter, Prekarisierte, die neuen Generationen zu organisieren, die ja nicht dem gewöhnlichen Profil trotzkistischer Aktivisten entsprechen?

Ja. Teilweise haben wir es schon getan. Die LCR hat sich in ihrer sozialen Zusammensetzung sehr verändert. Seit 2002 lernen wir, Bereiche anzusprechen, bei denen wir bislang keinen Erfolg hatten. Aber das wirkliche Problem liegt nicht darin, es liegt darin, für diese Menschen erfolgreich eine neue politische Kraft aufzubauen.
Man muss eine Gesamtsicht der Kämpfe haben und verstehen, dass diese große Zahl neuer Ausgebeuteter im Augenblick keine politische Vertretung hat. Lange Zeit haben die Organisationen der extremen Linken geglaubt, sich an die Lohnabhängigen nur vermittelt über die traditionellen Arbeiterparteien, vor allem die Kommunistische Partei (PCF), wenden zu können. Es gab die Vorstellung, dass es die PCF sei, welche die Gewerkschaften führte, Arbeiterkader heranbildete, die Arbeiterklasse organisierte, und dass man daher, um an die Lohnabhängigen heranzukommen, nicht an der PCF vorbei könne.
Nun zeigt sich, dass dies nicht mehr stimmt. Heute gibt es eine Menge Leute, die vermittelt über die Gewerkschaften in den Kampf treten, ohne jedoch durch die CGT oder die PCF gegangen zu sein; deren Verbindungen zur Klasse haben sich gelockert. Das heißt nicht, dass die PCF verschwunden ist. Es gibt noch einen Haufen Aktivisten in der PCF, aber wir sind nicht mehr in einer Situation, wo wir auf uns selbst gestellt nicht hätten existieren können.
Heute geht es darum, dass wir selbst erfolgreich handeln und aufhören, uns damit zufrieden zu geben, dass wir anderen sagen, was sie tun sollen. Wir müssen wirklich eine neue politische Vertretung aufbauen, die dem Bild dieser neuen, aus den Kämpfen hervorgehenden Arbeiterschaft entspricht.

War es diese Vorstellung von der Erneuerung der sozialen Kämpfe, die euch dazu bewogen hat, eine Neue Antikapitalistische Partei (NPA) zu gründen?

Ganz und gar. In der LCR ist dieses Projekt alt. Seit dem Fall der Berliner Mauer sagen wir, dass wir eine neue Partei und ein neues Programm brauchen. Wir denken, dass der historische Zyklus, der 1917 mit der russischen Revolution begonnen hat, 1989 zu Ende gegangen ist. Das heißt nicht, dass man diese Periode pauschal ablehnt, im Gegenteil, man muss sich mit diesem Jahrhundert auseinandersetzen, um daraus Lehren zu ziehen, was man tun muss und was nicht; wir müssen aber auch begreifen, dass wir in einer neuen Periode leben. Die russische Revolution kann nicht länger der Bezugspunkt bleiben, den sie für alle revolutionären Gruppen ein Jahrhundert lang war.
Das Projekt datiert also nicht von gestern. Aber die Frage ist, wie man es erfolgreich durchführen kann. Lange Zeit hat die LCR geglaubt, man könne es realisieren, indem man alle Gruppen links von der Linken zusammenführt, also Bestehendes verbindet. Ich habe diese Orientierung nicht geteilt, und ich teile sie immer noch nicht. Sie zeugt von einem tiefen Unverständnis der Bewegung, die heute die Gesellschaft aufrüttelt.
Ich denke im Gegenteil, dass man sich auf die Kämpfe selbst stützen muss. Ich glaube, die sozialen Kämpfe sind an sich eine emanzipatorische Kraft. Wenn Lohnabhängige und Jugendliche in mehreren Wellen in den Kampf treten und darin ihre Waffen schmieden, sich politisieren, Bewusstsein erlangen, muss man begreifen, dass es hier um die Suche nach einer neuen politischen Repräsentanz geht.
All diese Menschen, die seit einem Dutzend Jahren kämpfen, erkennen sich in der institutionellen Linken nicht wieder. Sie mögen bei den Wahlen für sie stimmen, um die Rechte zu stoppen, aber sie erkennen sich darin nicht wieder. Wir haben gespürt, dass dieser Raum existiert, aber wir haben uns über die Art und Weise getäuscht, ihn zu besetzen. Man muss von dem Diskurs wegkommen, der da sagt: „Kommt zu uns, wir sind es, die Recht haben” Stattdessen müssen wir auffordern: „Handelt selber!"
nEs gibt also breite soziale Kämpfe, und die LCR besetzt einen immer wichtigeren Platz in den Medien. Entsteht eine Begegnung zwischen den Kämpfen und eurer Organisation? Anders gesagt: Erfährt die LCR über den medialen Erfolg hinaus ein organisatorisches Wachstum?
Ja. Es gibt ein Wachstum. Früher hat sich die LCR nur an sehr aktive und informierte Aktivisten gewandt, und sie dachte nicht daran, sich direkt an die einfachen Leute zu wenden. Wir haben gelernt, das zu tun, in sozialen und politischen Kämpfen, bei Wahlen. Wir haben angefangen, Politik zu machen.
nAber ist es euch gelungen, neue Mitglieder zu gewinnen?
Ja. Seit 2002 haben wir unsere Mitgliederzahl verdoppelt. Zusammen mit der Jugendorganisation [Jeunesse Communiste Révolutionnaire] sind wir 4000 bis 5000. Vor allem konnten wir unseren Mitgliederbestand stabilisieren. Es hat trotzdem eine ziemlich seltsame Absetzbewegung von Genossen gegeben, die lange in der LCR waren und beschlossen haben zu gehen, als eine neue Generation gekommen ist — eine Art zu sagen: „Wir haben unsere Arbeit gemacht, wir können uns jetzt ausruhen."
Sie sind nicht wegen politischen Meinungsverschiedenheiten ausgetreten, sie haben es vorgezogen, weitläufigere Sympathisanten zu werden. Gleichzeitig sind Neue zu uns gestoßen, die uns ermöglicht haben, Aktivitäten wieder aufzunehmen, die wir seit Jahren nicht mehr unternommen hatten und die ich selbst in der LCR nicht mehr erlebt habe, z.B. regelmäßige Aktivitäten in den Betrieben und Wohnvierteln.

Diese neuen Mitglieder und neuen Aktivitäten vermitteln den Eindruck, die LCR habe ein anderes Profil gewonnen...

Was die soziale Zusammensetzung betrifft, ja. Die LCR ähnelt der Gesellschaft mehr als früher. Es gibt Lohnabhängige, Frauen, wir haben uns geöffnet, und unsere Organisation bildet mehr die unteren Klassen ab. Zu unseren Versammlungen kommen nun auch zunehmend Arbeiter, Jugendliche aus den Stadtteilen, also müssen wir Mittel und Wege finden, diese Menschen einzubeziehen.
Das ist nicht immer leicht. Es gibt ja eine Krise der Militanz. In unserer Gesellschaft haben die Leute die Tendenz zu sagen: Wir delegieren unsere Belange an jemanden, der für uns die Arbeit erledigt. Dies Gefühl wird von denen kultiviert, die uns beherrschen und ausbeuten. Zeit zu finden, sich selber zu engagieren, selber aktiv zu sein, ist nicht selbstverständlich. In dieser Hinsicht haben wir große Fortschritte gemacht.
Die Idee der NPA ist nicht, eine Partei passiver Mitglieder aufzubauen. Das wiederhole ich ständig. Wir wollen keine Webseite sein, die die Leute lächelnd anklicken können, um Geld zu spenden und Mitglied zu werden, ohne sich einzubringen. Das wäre eine leichte und gefährliche Lösung. Das führt dazu, dass man seine Interessen an Spezialisten delegiert, die Zeit haben und Politik machen wollen. Daraus entstehen Parteien, in denen die Führung keine Beziehungen mehr zu ihrer Basis hat — bürokratische Parteien.
Wir haben eine extreme Linke erlebt, die ständig sagte, dass sie die Ausgebeuteten repräsentieren will. Wenn wir uns aber angeschaut haben, wer zu ihr gehörte, fanden wir nur Lehrer, Männer und Weiße. Ich übertreibe ein wenig, aber das war die Tendenz. In derselben Weise können wir auch nicht sagen: „Wir wollen eine Organisation sein, die die Lohnabhängigen verteidigt”, und jede Woche Versammlungen abhalten, die bis 3 Uhr morgens dauern. Wenn man Student ist, geht das, aber wenn man morgens um fünf zur Arbeit muss, ist das nicht möglich. Und Versammlungen mit dreißig Leuten sind gut für die, die es gewohnt sind, in der Öffentlichkeit zu sprechen, aber für Anfänger in der Politik ist das nicht unbedingt eine gute Idee. Wir müssen Mittel entwickeln, damit alle wirklich zu Akteuren in der Organisation werden, das Wort ergreifen, sich ausdrücken, aktiv teilnehmen. Man muss einen Arbeitsstil finden, der es den Leuten erlaubt, Selbstvertrauen zu haben. Wir haben keine perfekte Lösung, aber das ist ein Teil der Diskussion, die wir führen müssen.

Welcher Unterschied besteht zwischen der Partei, die ihr aufbauen wollt, und einer trotzkistischen Partei?

Ich bin Sprecher einer trotzkistischen Partei und ich nehme dieses Erbe an, aber es gibt noch andere, und vor allem darf das kein Vorwand sein für fraktionellen Streit. Wir sind keine roten Professoren. Davon gibt es zu viele in der extremen Linken. Wir können uns nicht damit zufrieden geben, als Minderheit die Fahne hochzuhalten — das ist kein Programm. Die Revolution wollen wir mit der Mehrheit der Bevölkerung machen. Man darf vor der großen Zahl keine Angst haben.

Ihr sagt, dass die NPA eine revolutionäre Partei sein wird, und ebenso oft sagt ihr, dass ihr vor allem keine LCR 2.0 aufbauen wollt. Warum habt ihr keine Partner gesucht, besonders bei Lutte Ouvrière (LO)?

Wir haben uns sehr früh mit der Leitung von LO getroffen und ihr vorgeschlagen, bei dieser neuen Partei mitzumachen. Sie haben abgelehnt, weil die NPA keine trotzkistische Partei werden wird. Kurz danach haben wir erfahren, dass sie im ersten Wahlgang der Kommunalwahlen auf Listen der Sozialistischen Partei (PS) kandidieren würden. Wo ist da die Kohärenz? Man muss die Hegemonie der PS brechen, und der erste Schritt dahin ist, von ihrer Führung unabhängig zu sein.

Euer Projekt der neuen Partei wird nicht von allen Mitgliedern der LCR unterstützt.

Man muss begreifen, dass die LCR sich in einem Prozess befindet, der unumkehrbar ist. Wir haben einen Appell zur Gründung der NPA lanciert, wir sehen, dass er auf Resonanz stößt, wir werden das durchziehen. Wir werden den Neuen, die kommen und die nicht die erfahrenen alten Hasen sind, den Platz überlassen. Und wir werden die Verbindungen mit den anderen Kräften in Europa stärken, um schließlich eine europäische antikapitalistische Kraft aufzubauen.

(Übersetzung: Hans-Günter Mull)


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