SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2008, Seite 28

Ernesto „Che” Guevara (1928—1967)

Die letzte Ikone des 20.Jahrhunderts

von Michael Löwy

Am 14.Juni wäre Che Guevara 80 Jahre alt geworden. Der argentinisch-kubanische Revolutionär wurde im Oktober 1967 in den bolivianischen Bergen ermordet. Wie kein anderer Revolutionär des 20.Jahrhunderts ist er bis heute weltweit ein Symbol des antiimperialistischen Protests geblieben, und ist es für die heute junge Generation wieder. Nachstehend ein Auszug aus einer Studie Michael Löwys, die zuerst 1970 in Paris erschien.



Ernesto Che Guevara führte ein ganz und gar ungewöhnliches Leben: vom Medizinstudenten in Buenos Aires zum Guerillakommandanten; vom Kämpfer in der Sierra Maestra zum Präsidenten der kubanischen Nationalbank und schließlich vom Industrieminister zum gejagten und in Bolivien von den Söldnern der CIA ermordeten Guerillero. Er ist oft und nicht zu Unrecht mit den großen romantischen Revolutionären des 19.Jahrhunderts verglichen worden.
Es wäre aber falsch zu glauben, der Che sei ein Mann der Vergangenheit, ein Überlebender aus einer anderen Epoche, ein Anachronismus im Zeitalter der Computer. Ganz im Gegenteil ist er der Rache kündende Prophet der künftigen Revolutionen, Revolutionen der „Verdammten dieser Erde”, der Hungernden, Unterdrückten, Ausgebeuteten und Erniedrigten der drei vom Imperialismus beherrschten Kontinente. Er ist der Prophet, der mit flammenden Lettern an die Mauern des neuen Babylon geschrieben hat: „Mene, Mene Tekel Upharsin” — deine Tage sind gezählt.
Für die rebellierende und revolutionäre Jugend, die sich in den industriellen Metropolen Europas erhebt, ist er der Heros geworden als Künder der Zukunft, des neuen Menschen, der kommunistischen Gesellschaft des 21.Jahrhunderts, die auf den Ruinen des dekadenten und „eindimensionalen” Kapitalismus errichtet wird. Das Denken des Che, das zwar auf den kubanischen und lateinamerikanischen Erfahrungen beruht, hat einen zutiefst universellen Charakter, was den Widerhall und den weltweiten Einfluss seiner Schriften erklärt.
Für die unter imperialistischer Herrschaft stehenden Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, für die Schwarzen in Nordamerika ist der Che der bewaffnete Prophet des revolutionären Krieges gegen die Oligarchie, ihre Gorillas und den Imperialismus. Seine Schriften über die Guerilla werden (zusammen mit denen von Mao, Giap und Fanon) an den Gymnasien, an den Universitäten, in den Fabriken und auf dem Lande leidenschaftlich studiert und diskutiert; sie inspirieren die Aktionen der revolutionären Kämpfer von den maquis in Guatemala bis zu den schwarzen Ghettos von Detroit, von den Wäldern in Guinea-Bissau bis zu den Vororten von Rio de Janeiro, von den Ölfeldern am Persischen Golf bis zu den Fabriken in Córdoba.
Der Guevarismus der Dritten Welt bedeutet Verneinung fauler Kompromisse, opportunistischer Manöver, der „friedlichen Koexistenz” Er bedeutet die Verneinung des zwielichtigen Neutralismus und der Unterordnung unter die Diplomatie der mächtigen Rivalen des sozialistischen Lagers. Er bedeutet kompromisslosen bewaffneten Kampf, Volkskrieg bis zur Niederwerfung der bürgerlichen Armeen, permanente Revolution bis zum Sozialismus. Er bedeutet die historische Initiative der revolutionären Vorhut, die den Guerillakrieg auslöst und die Volksmassen mobilisiert. Er bedeutet konkrete internationale Solidarität von Waffengefährten im gemeinsamen Krieg gegen das imperialistische Joch.
Die Ausstrahlungskraft des Che ging jedoch über die Grenzen der Dritten Welt hinaus. Sein Bild war bei den gewaltigen Demonstrationen der Jugendlichen vor dem Pentagon, auf den Barrikaden des Mai in Paris, in den Universitäten von London und auf den Straßen von Berlin zu sehen. Seine Losung „Ein, zwei, drei Vietnam” wurde in den Straßen von Tokyo auf Japanisch gerufen und erschien auf Transparenten in Rom in italienischer Sprache. Wie erklärt sich dieser auf den ersten Blick überraschende Guevarismus der neuen Jugendavantgarde der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder?
Zunächst waren es sein beispielhaftes Leben und sein Martyrium, die ihn als das reinste Symbol des Befreiungskampfs der Dritten Welt erscheinen ließen. Der Che fiel zu einem Zeitpunkt, als der Vietnamkrieg in den kapitalistischen Metropolen zum Katalysator des revolutionären Bewusstseins wurde, bei dem Versuch, dem vietnamesischen Volk zu Hilfe zu kommen; damit wurde er für diese Jugend zum leuchtenden Symbol des Internationalismus, ihres neuen Internationalismus, der sich nach einer langen Nacht absoluter Hegemonie des Chauvinismus wie ein Phönix wieder aus der Asche erhob.
Das Denken und das Handeln des Che repräsentieren für diese Jugend außerdem die unversöhnliche absolute radikale Ablehnung des „Systems” und die revolutionäre Initiative der Vorhut, die dieses System verändern will. In einer seiner brillantesten Schriften ("Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt") zeigt Rudi Dutschke, wie die methodologischen Prinzipien der Theorie des Guerilla-Kerns des Che die Aktionen des deutschen SDS beeinflusst haben:
"Erstmalig wird versucht, die Focus- Theorie von Che Guevara für die politische Praxis hier zu gewinnen. Die Frage lautete: Wie und unter welchen Bedingungen kann sich der subjektive als objektiver Faktor in den geschichtlichen Prozess eintragen? Guevaras Antwort für Lateinamerika war, dass die Revolutionäre nicht immer auf die objektiven Bedingungen für die Revolution zu warten haben, sondern dass sie über den Focus, über die bewaffnete Avantgarde des Volkes die objektiven Bedingungen für die Revolution durch subjektive Tätigkeit schaffen können. Diese Frage stand in letzter Konsequenz auch hinter der Plakataktion, steht heute noch hinter jeder Aktion. Haben wir bei allen unseren Aktionen von der permanenten Ohnmacht unserer politischen Arbeit auszugehen, oder haben wir einen historischen Zeitpunkt erreicht, an dem die subjektive schöpferische Tätigkeit der politisch kooperierenden Individuen über die Wirklichkeit und ihre Veränderbarkeit entscheidet?"
Diese Prinzipien haben zweifellos auch andere Organisationen der neuen Vorhut beeinflusst und ihnen geholfen, die Unbeweglichkeit, den bürokratischen Konservatismus und die passive Anpassung an das bürgerliche „System”, jene Alterskrankheiten der reformistischen alten Linken zu überwinden.
Der dritte Aspekt von Ches Denken, der die revolutionäre Jugend der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder fasziniert hat, ist sein neues Modell des Kommunismus. Für den bürgerlichen Philister war Che ein utopischer und romantischer Anarchist, dessen Ideal der Zukunft nichts anderes war als „die kindliche Vision von einem Elysium ohne Bürokratie und Militär — die ewige Sehnsucht nach einer heilen Welt” (Der Spiegel). Demgegenüber erkennt sich die Neue Linke von Europa und Amerika, die den bürgerlichen wie den bürokratischen Autoritarismus ablehnt, im Denken des Che wieder, für den die kommunistische Gesellschaft eine neue Menschheit sein sollte und nicht eine verstaatlichte Version der amerikanischen Gesellschaft. Für Chruschtschow sollte der Kommunismus im Westen „attraktiv” werden, wenn die Sowjetunion die USA auf dem Gebiet der Produktion und des Konsums eingeholt hat; für den Che und die rote Jugend der industrialisierten Länder soll der Kommunismus viel mehr sein als eine neue Methode der Verteilung von Gütern: ein Gegenmodell von Zivilisation, sozial, kulturell und moralisch eine neue Welt. Es geht also nicht darum, mit dem Kapitalismus und der „privatistischen” bürgerlichen Gesellschaft in Wettbewerb zu treten, indem man sein Spiel mitspielt, sondern es geht darum, die Spielregeln grundsätzlich zu ändern. (1969)

Auszug aus Michael Löwy: Che Guevara, Frankfurt 1987, S.13, 103—106. Dieses Buch erschien 2003 in 6.Auflage beim Neuen ISP Verlag (www.neuerispverlag.de). Michael Löwy (geb.1938) ist Verfasser einer Reihe von Büchern und Artikeln über Marx, Lenin, Luxemburg, Mariátegui, Lukács und Bloch sowie über die revolutionäre Romantik, den Marxismus in Lateinamerika und das Verhältnis von Ökologie.


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