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Trotz Wirtschaftsaufschwung und märchenhaften Gewinnen der Aktionäre hat die Armut in Deutschland in den
letzten Jahren zugenommen. An niemandem ist der Aufschwung so scharf vorbeigegangen wie an den Erwerbslosen, Sozialhilfebeziehenden und
geringfügig Beschäftigten. Dies belegt der 3.Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung — wenngleich wider Willen, denn er
behauptet das Gegenteil.
Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in Deutschland immer mehr auseinander. Teile
der Mittelschicht sind zunehmend vom sozialen Abstieg bedroht. Jedem vierten Bundesbürger droht dauerhafte Armut, es sei denn, er wird durch
staatliche Transferleistungen wie ALG II oder Wohngeld oder Kindergeld davor bewahrt. Das Risiko der Einkommensarmut ist im Zeitraum von 1998 bis 2005
kontinuierlich gestiegen.
Die Dimension des Armutsproblems wird umso deutlicher, wenn man
berücksichtigt, dass die Armutsschwelle trotz der hohen Inflation von 2003 bis heute abgesenkt wurde.
Die Politik trägt eine erhebliche Mitverantwortung an der zunehmenden sozialen
Spaltung in Deutschland. Die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen trotz Arbeit in Armut leben
müssen. Gleichzeitig wurden Spitzenverdiener, Unternehmen und Vermögende massiv entlastet.
Die Erkenntnisse sind alarmierend. Dennoch bleibt festzustellen, dass der Bericht das wahre Ausmaß der Zunahme von Armut und
Einkommensungleichheit verschleiert. Denn die hauptsächlich verwendeten Daten sind mit den Daten des Zweiten Armuts- und Reichtumsberichts gar
nicht vergleichbar. Anders als der Vorgängerbericht aus dem Jahr 2005 ermittelt der diesjährige Bericht die Daten nicht mehr aus dem Sozio-
Ökonomischen Panel (SOEP), sondern aus der europäischen Datenbasis EU-SILC.
In beiden Fällen unterscheiden sich die Erhebungs- und Berechnungsmethoden
erheblich. Die Datenbasis EU-SILC ist unzulänglich und verzerrt die Ergebnisse, bemängeln Wissenschaftler und Politiker der
Oppositionsparteien. Der Umfang der Armut wird dadurch statistisch geschönt.
Legt man nämlich für den betrachteten Zeitraum die Daten aus dem Sozio-
Ökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zugrunde, liegt die Armut nicht bei 13%, wie der 3.Armuts- und
Reichtumsbericht behauptet, sondern bei 18%; die Armut hat demnach zwischen 1998 und 2005 um 6 Prozentpunkte zugenommen, nicht um 1 Prozentpunkt,
wie sich nach EU-SILC ergibt.
Die Kinderarmut liegt nach SOEP-Daten bei eklatanten 26%, er Armutsbericht weist sie
dagegen auf Basis von EU-SILC nur mit 12% aus. Selbst die von der Familienministerin vorgestellte Prognos-Studie sieht die Kinderarmut bei 17%.
Deutliche Unterschiede zwischen den Befunden der EU-SILC und des SOEP zeigen sich
auch bei den Auswirkungen der Sozialtransfers auf das Armutsrisiko. Nach EU-SILC hat sich die Armutsrisikoquote bis zum Jahr 2005 durch Sozialtransfers
von 26% auf 13% halbiert, nach SOEP jedoch lediglich auf 18%.
SOEP macht dabei auch sichtbar, dass sich der Einfluss der Sozialtransfers auf die
Armutsrisikoquote seit 1998 kontinuierlich verringert hat. Diese bedenkliche Entwicklung bleibt im Analyseteil des 3.Armuts- und Reichtumsberichts
gänzlich unerwähnt.
EU-SILC liefert europaweit vergleichbare Ergebnisse, wird jedoch erst seit 2005
jährlich erhoben. Das SOEP hingegen wird schon seit 1984 jährlich erhoben und ermöglicht daher kontinuierliche Zeitvergleiche.
Die EU-SILC-Daten haben eine Reihe methodischer Mängel. Zum Beispiel basieren
sie auf einer rein schriftlichen Befragung ohne Interviewer. Nach Aussagen des Grünen-MdB Strengmann-Kuhn wird dadurch die Gruppe der
Ausländer verzerrt, Geringqualifizierte und Familien mit kleinen Kindern werden nicht ausreichend erfasst.
Eine weitere Kritik muss jedoch noch genannt werden: Im gesamten Bericht fehlt der Zugang zu Armut als strukturelles Problem. Die
Benachteiligungsachsen Geschlecht, Migrationsgeschichte und Familienform werden zwar genannt, Zusammenhänge mit politischen Maßnahmen
(z.B. die Einführung der Hartz-Gesetze) jedoch nur eingeschränkt berücksichtigt. Eine „konzertierte” Politik der
Armutsbekämpfung muss jedoch auf einer strukturell zusammenhängenden Analyse aufbauen.
Die Lage von Einelternfamilien wird im Bericht ignoriert. Der Verband Alleinerziehender
Mütter und Väter (VAMV) beispielsweise bemängelt ausdrücklich, dass der überdurchschnittliche Anteil der Einelternfamilien
in Armut sowohl im Hinblick auf die Ursachen als auch auf die vorgeschlagenen Maßnahmen unangemessen gering berücksichtigt wird. Für
den überproportionalen Anteil Alleinerziehender in Armut gibt es im Bericht kein einziges wirksames Konzept der Armutsbekämpfung.
13% der Bundesbürger gelten entsprechend der EU-Definition als arm. (Laut EU-
Definition ist arm, wer weniger als 60% des mittleren Haushaltseinkommens hat.) Weitere 13% der Gesamtbevölkerung werden durch Sozialtransfers
wie Kindergeld oder Arbeitslosengeld II vor dem Abrutschen in die Armut bewahrt, sind also praktisch ebenfalls als arm anzusehen, weil sie nur am Tropf
staatlicher Almosen über die Armutsschwelle kommen.
Damit ist die Zahl der Armen und der ohne Sozialtransfers von Armut Bedrohten von 20%
im Jahr 2000 auf 26% im Jahr 2005 hochgesprungen. Im Vergleich mit den übrigen 14 Mitgliedern der EU der 15 (vor der Osterweiterung) ist
Deutschland somit im neuen Jahrhundert aus einer Position an der Spitze der Länder mit der geringsten Armut (3.Platz) auf einen Platz im unteren
Mittelfeld (9.Platz) zurückgefallen. Auch die Zahl derer, die arbeiten und trotzdem unter die Armutsgrenze zu rutschen drohen, ist größer
geworden.
Die Beschäftigung im Niedriglohnbereich hat in besorgniserregendem Maße
zugenommen und damit auch die ungleiche Verteilung der Einkommen. Bei Erwerbslosen ist das Armutsrisiko zwischen 1998 und 2005 von 30% auf 53%
gestiegen. Aber auch Erwerbstätigkeit bietet immer weniger Schutz vor Armut: Hier hat sich das Armutsrisiko von 1998 bis 2005 von 6% auf 12%
verdoppelt. Armut ist in unserem Land längst kein Randproblem mehr, sondern ein zentrales gesellschaftliches und sozialpolitisches Problem.
Auch die Kinderarmut wird verharmlost. Der Bericht behauptet, sie sei durch
Transferleistungen um zwei Drittel gesunken. Zum einen wird das wahre Ausmaß von Kinderarmut wegen der zuvor kritisierten unzulänglichen
Datenquelle heruntergespielt, zum anderen ist es inakzeptabel, wenn gesagt wird, sie würde durch das Niveau der Grundsicherung erfolgreich
bekämpft. Von den Beziehern des Kinderzuschlags sind nach Aussage der Bundesregierung nur 7% alleinerziehend. Der Kinderzuschlag wirkt für
Alleinerziehende jedoch nicht armutsvermeidend.
Der im Bericht angeführte Regelbedarf entspricht zudem nicht dem
tatsächlichen Bedarf, insbesondere von Kindern. Es gibt da einen eklatanten Widerspruch zu dem, was angeblich dem Kindeswohl entspricht. Hier schaut
die Bundesregierung einfach weg und verschließt die Augen vor den Problemen. Das wird der Sache nicht gerecht, zumindest hilft es nicht den
Betroffenen.
Die Aussagen über die Reichen sind demgegenüber mehr als dürftig. Die wichtigste ist, dass in Deutschland rund 6,8 Millionen Reiche
mit einem Nettomonatseinkommen von 3418 Euro oder mehr leben. Das sind 8,8% der Bevölkerung. Als Indikator für Reichtum gilt in dieser
Berechnung ein Einkommen, das mindestens das Doppelte vom mittleren Einkommen beträgt.
Die wirklich Reichen hätten für diesen Maßstab nur ein Lächeln
übrig. Darüber hinaus blendet eine solche Reichtumsdefinition nahezu vollständig aus, dass der Begriff Reichtum in engster Relation zu
ökonomischer und gesellschaftlicher Macht zu verstehen ist.
Die Untersuchungen über Reichtum und privilegierte Lebenslagen im Vergleich zur
Armut sind in den Nationalen Armuts- und Reichtumsberichten immer noch unterrepräsentiert. Während es in den vergangenen Berichten aber
mindestens Untersuchungen zur Vermögensverteilung gab, fehlen diese im neuen Bericht gänzlich.
All dies zeigt, dass die Bundesregierung nicht die Armut bekämpft. Im Gegenteil, mit
der Schaffung von Gesetzen wie einer Grundsicherung für Arbeitsuchende oder den sog. 400-Euro-Jobs wird die Armut vergrößert.
Solange die Mängel im Bericht an den entscheidenden Stellen nicht korrigiert werden, wird es auch keine effektiven Maßnahmen der
Bekämpfung der Armut geben können. Der Eindruck drängt sich auf, dass dies so gewollt ist.
Seit Jahren fordere ich die Bundesregierung auf, sich mehr für arme Menschen
einzusetzen und die Folgen von Gesetzen auf sie zu überprüfen. Dies ist nicht einmal im Ansatz erkennbar. Deutlich wird das am Beispiel der
Erhöhung der Mehrwertsteuer. Davon sind insbesondere arme Menschen betroffen, denn bei ihnen macht der unmittelbare Konsum einen viel
höheren Anteil an den Ausgaben aus als bei den Reichen. Bei der Berechnung bzw. Überprüfung der Regelsätze für das
Existenzminimum hat diese Erhöhung keine Rolle gespielt, faktisch wurden den Betroffenen damit indirekt die Geldleistungen gekürzt.
Eine regelmäßige Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist notwendig, um
ein differenziertes Bild über die soziale Lage in Deutschland zu gewinnen.
Dabei darf es aber nicht stehen bleiben, es müssen auch die notwenigen
Konsequenzen gezogen werden. Dem Bericht müssen konkrete politische Schritte und Maßnahmen folgen, um bestehende Armut wirksam zu
bekämpfen bzw. erst gar nicht entstehen zu lassen. Davon ist in diesem Bericht leider nichts erkennbar.
Meine Forderung an die Bundesregierung bleibt seit Jahren die gleiche: Bekämpft die
Armut, und nicht die Armen!
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