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Die geplante EU-Richtlinie zur Arbeitszeit lässt alle Hüllen fallen: Statt der bisherigen 48 Stunden
wöchentliche Höchstarbeitszeit sollen künftig regulär 60 Stunden möglich sein; bei entsprechendem Tarifvertrag sogar 78
Stunden.
Der Rat der EU-Arbeitsminister hat im Juni 2008 den Entwurf einer neuen
Arbeitszeitrichtlinie vorgelegt. Sie soll helfen, aus der EU den „wettbewerbsstärksten Raum” (Lissabon-Strategie) zu machen.
Bundesarbeitsminister Scholz (SPD) spricht von einem „guten Ergebnis”, das „wichtige Bausteine eines sozialen Europas”
liefere. Aus den Gewerkschaften und der eigenen Partei kommt Kritik: „sozialer Rückschritt”, sagt Michael Sommer, „ein Schlag
ins Gesicht für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen”, sagt die Europaabgeordnete Karin Jöns, SPD. Anführer der Hardliner
sind die britische und die deutsche Regierung.
Bei offiziell mehr als 20 Millionen Erwerbslosen in den Ländern der
Europäischen Union, darunter über 7 Millionen in Deutschland, ist es zynisch, die Arbeitszeit zu verlängern, statt Arbeit und Arbeitszeit
unter jenen zu fairteilen, die arbeiten wollen und können. Sorgenvoll wird in der deutschen Debatte auf die Beschäftigungs-, Sozial- und
Arbeitszeitpolitik anderer europäischer Staaten verwiesen und Nachahmung empfohlen.
Das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit ist in allen EU-Ländern
größer, als die offiziellen Daten (standardisierte OECD-Arbeitslosenrate) glauben machen. 70% der 15- bis 64-Jährigen arbeiten Vollzeit,
weitere 10% mit halber Stundenzahl Teilzeit. Die Schweiz, Dänemark und Island zeigen, dass eine solche Erwerbsbeteiligung realistisch ist. Hierzu wird
das im jeweiligen Land vorhandene tatsächliche Arbeitsvolumen ins Verhältnis gesetzt.
Es zeigt sich, dass es für 9—31% der Erwerbsfähigen keine Arbeit gibt.
Am Beispiel Polen kann man sehen, dass weder lange Arbeitszeiten (41,5 Wochenstunden) noch Niedrigstlöhne (Mindestlohn 235 Euro im Monat) zu
mehr Beschäftigung führen.
Entgegen diesen Erkenntnissen will der EU-Ministerrat mit der Arbeitszeitrichtlinie die
Arbeitszeit aber weiter flexibilisieren und verlängern und auch ermöglichen, sich nicht einmal an diese Richtlinie zu halten (Opt-out).
Der Rat will durchsetzen, dass flexible Jahresarbeitszeiten ohne tarifvertragliche Regelung möglich werden. Das ist ein direkter Angriff auf die
Gewerkschaften, denn sie verlören ihre Gestaltungsmöglichkeiten. Die Unternehmer könnten bestehende Vereinbarungen zu
Jahresarbeitszeitkonten kündigen und neue Gesetzeslagen und Mindeststandards nutzen. Die neuen Regelungen sehen vermutlich in etwa so aus:
— Der Arbeits- und Gesundheitsschutz verschlechtert sich, mit Folgen für den
Einzelnen und die Gesellschaft.
— Die Arbeitszeit wird für Beschäftigte weniger kalkulierbar, vor allem
wird sie länger. Dies erschwert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil weniger Zeit für Erziehung und Familie bleibt.
— Der Entwurf ist vor allem frauenfeindlich. Erziehenden wird der Zugang zum
Arbeitsmarkt bei verlängerten Arbeitszeiten fast unmöglich gemacht.
Drei Jahre lang konnten die Arbeitsminister keine Einigung erzielen über die in der
geltenden Arbeitszeitrichtlinie vorgesehene Ausnahme von der maximalen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden: das Opt-out. Genau hier führen die
deutsche und britische Regierung das Lager der Hardliner an, sie verteidigen das Opt-out mit Zähnen und Klauen, Sarkozy und Berlusconi gaben den vor
den jeweiligen Regierungswechseln geübten Widerstand sofort auf. Eine Minderheit um Spanien, Belgien, Griechenland, Ungarn und Zypern pochte
ebenso wie das Europäische Parlament darauf, das Opt-out abzuschaffen.
Der nun erzielte „Kompromiss” sieht vor, dass das Opt-out
grundsätzlich beibehalten wird. Wenn davon Gebrauch gemacht wird, soll die wöchentliche Arbeitszeit (während eines 3-monatigen
Bemessungszeitraums) im Schnitt 60 Stunden nicht überschreiten. Kommen „inaktive” Bereitschaftszeiten hinzu, liegt die
Höchstgrenze bei 65 Stunden. Wird das Opt-out per Tarifvertrag geregelt, sollen 78 Wochenstunden möglich sein. Für
Arbeitsverhältnisse mit einer Laufzeit von weniger als 10 Wochen soll es keine Beschränkung der zulässigen Arbeitszeit geben.
Wer halbwegs ausreichend Lebensunterhalt verdienen will, muss sich länger
ausbeuten lassen — auf diesem Wege wird alles untergraben, was Arbeiterbewegung und Gewerkschaften in den letzten hundert Jahren erkämpft
haben. Es geht nur noch um die Unternehmer, ihr Eigentum, deren Freiheit und Sicherheit. Die arbeitenden Menschen, Kultur, Freiheit und soziale Rechte
bleiben auf der Strecke.
Die Bereitstellung eines breiten öffentlichen Dienstleistungssektors könnte die Arbeitslosigkeit zwar erheblich reduzieren, reicht aber nicht aus,
um Vollbeschäftigung im alten Stil zu erreichen — das zeigt die auch in den skandinavischen Ländern vorhandene
Unterbeschäftigung. Selbst überdurchschnittliche Wachstumsraten senken sie kaum ab. Die für elf EU-Staaten vorliegenden Daten zeigen,
dass zwischen 1970 und 2000 das Arbeitsvolumen in sieben Ländern (Frankreich, Großbritannien, Italien, Deutschland, Dänemark, Belgien
und Finnland) zurückgegangen ist — im Schnitt um 7%; Schweden, Spanien und die Niederlande konnten eine geringe Zunahme (etwa 4%)
verbuchen. Lediglich in Irland stieg das Arbeitsvolumen signifikant an (+26%), hier hat sich Zahl der Erwerbstätigen um 77% erhöht. Auch in
zehn anderen Mitgliedsländern stieg die Anzahl der Beschäftigten (zwischen 4% und 43%).
Pro Erwerbstätigen ist das Arbeitsvolumen überall zurückgegangen und
eine Jahresarbeitszeit gesunken — bei Wachstumsraten von bis zu 4%. Deshalb kann eine Politik, die auf Wachstum setzt, die Massenarbeitslosigkeit
nicht beseitigen. Vielmehr muss das vorhandene Arbeitsvolumen auf die Arbeit suchende Bevölkerung gleichmäßiger verteilt werden. Dies
geht nur durch die Verringerung der Arbeitszeit von Vollzeiterwerbstätigen:
Die tatsächliche Wochenarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten liegt in der EU
der 15 zwischen 37,7 (Frankreich) und 43,3 Stunden (Großbritannien); die BRD liegt mit 39,9 Stunden im Mittelfeld. Mit einer derart hohen Arbeitszeit
kann bei fortschreitender Rationalisierung und gestiegener Frauenerwerbsquote keine Vollbeschäftigung erreicht werden. Die in der EU der 15 im
Durchschnitt bestehende 40-Stunden-Woche geht deshalb mit Millionen von Arbeitsuchenden einher.
Bei einer gleichmäßigeren Verteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens auf
die Bevölkerung ergäbe sich eine erheblich niedrigere Vollzeit. Sie reicht theoretisch von 26,4 Stunden pro Woche in Belgien bis zu 37,4 Stunden
in Tschechien und läge im EU-Durchschnitt bei 31 Stunden. Umverteilung durch Arbeitszeitverkürzung, kurze Vollzeit von 30 Stunden pro
Woche, muss deshalb in ganz Europa auf der Tagesordnung stehen, das entspricht auch den Wünschen vieler Menschen.
Bei VW lief 15 Jahre lang ein „Großversuch” mit 100000 Beschäftigten und einer 30-Stunden-Woche. Damit wurden 30000
Arbeitsplätze zeitweise gesichert und betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen. Diese aus einer Krise geborene 20%ige
Arbeitszeitverkürzung war betriebswirtschaftlich begründet; nicht Humanisierung der Arbeitswelt war das Ziel, sondern Standortsicherung.
Dennoch haben bis heute viele Beschäftigte die angenehmen Seiten des 6-Stunden-Tages bzw. der 4-Tage-Woche in guter Erinnerung.
Weil aber Standortpolitik und Verbesserung der betrieblichen Konkurrenz das Ziel waren,
gab es fast keine Debatten in den Gewerkschaften und keine Bewegung für allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Das protestantische Arbeitsethos
("Morgenstund hat Gold im Mund"; „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen") führt immer noch zur Glorifizierung der
Lohnarbeit. Arbeitszeitverkürzung wird als „Teufelswerk” empfunden, Müßiggang wird nur den Reichen als legitimer Zeit-
Wohlstand zugestanden. Lange Arbeitszeiten, hohe Einkommen und die gedankliche Möglichkeit, auch noch das Unsinnigste zu konsumieren —
zur Not durch Überschuldung —, werden als „Freiheit” propagiert. Eine an den Interessen der Beschäftigten orientierte
Flexibilität kurzer Vollzeitarbeit wird in Debatten systematisch ausgeblendet. Die Frage nach dem Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung wird
derzeit in umgekehrter Richtung beantwortet: durch Arbeitszeitverlängerung bei gleichzeitiger Lohnsenkung.
Der Widerspruch der Regierungen in Belgien, Griechenland, Spanien, Ungarn und Zypern
ist sehr berechtigt: Eine Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche plus zusätzlich viele Ausnahmeregelungen mit Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden
täglich und 78 Stunden pro Woche — oft ohne zusätzliche Vergütung — wären ein beispielloser historischer
Rückschritt und volkswirtschaftlicher Wahnsinn. Diese Rolle rückwärts des EU-Ministerrats führt zu mehr Armut und zu mehr
Erwerbslosen. Noch mehr Menschen werden sich von der europäischen Idee abwenden, weil dieses Europa nicht sozial und nicht friedlich ist;
gestärkt werden nationalistische und separatistische Strömungen. Die beabsichtigte Arbeitszeitverlängerung fördert Sozialdumping
und Konkurrenz zwischen den Staaten, also das Gegenteil von Solidarität und Integration. Am Beispiel der Arbeitszeitrichtlinie wird deutlich, dass
Maßnahmen der EU nicht anonym „aus Brüssel” kommen, sondern von der deutschen Bundesregierung oft forciert werden.
Ohne die Zustimmung des Europäischen Parlaments kann die Richtlinie nicht in
Kraft treten. Die Abgeordneten können den sozialen Rückschritt stoppen und eigene Konzepte für eine Fairteilung der Arbeit zwischen
Männern und Frauen, Älteren und Jüngeren, Erwerbstätigen und Erwerbslosen vorlegen.
Wichtige Partner im Bemühen, die Richtlinie zu stoppen, sind die Gewerkschaften
und sozialen Bewegungen, die gegen die Pläne Sturm laufen. Viele wollen es bei verbalem Protest nicht belassen. Dazu haben Beratungen auf der
europäischen Sommeruniversität von Attac in Saarbrücken begonnen, beim Europäischen Sozialforum in Malmö werden die
Planungen fortgesetzt. Es ist möglich, die Arbeitszeitrichtlinie im Parlament durch starken Druck zum Scheitern zu bringen.
Die Angst vor weiterer Abstrafung durch das Wahlvolk und den möglichen Verlust
von weiteren Europamandaten zerreißt nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch andere Kräfte im Parlament. Bei der zweiten Lesung im Herbst
2008 kommt die Stunde der Wahrheit. Und die Zeit vor den Wahlen zum EU-Parlament im Jahr 2009 ist günstig, die Parteien und die Abgeordneten mit
unseren berechtigten Forderungen zu konfrontieren.
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