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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2008, Seite 09

Arbeitszeitrichtlinie der EU - 30 Stunden sind schon lange genug

Deutsche Regierung treibt EU zurück zur 78-Stunden-Woche

von Stephan Krull

Die geplante EU-Richtlinie zur Arbeitszeit lässt alle Hüllen fallen: Statt der bisherigen 48 Stunden wöchentliche Höchstarbeitszeit sollen künftig regulär 60 Stunden möglich sein; bei entsprechendem Tarifvertrag sogar 78 Stunden.
Der Rat der EU-Arbeitsminister hat im Juni 2008 den Entwurf einer neuen Arbeitszeitrichtlinie vorgelegt. Sie soll helfen, aus der EU den „wettbewerbsstärksten Raum” (Lissabon-Strategie) zu machen. Bundesarbeitsminister Scholz (SPD) spricht von einem „guten Ergebnis”, das „wichtige Bausteine eines sozialen Europas” liefere. Aus den Gewerkschaften und der eigenen Partei kommt Kritik: „sozialer Rückschritt”, sagt Michael Sommer, „ein Schlag ins Gesicht für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen”, sagt die Europaabgeordnete Karin Jöns, SPD. Anführer der Hardliner sind die britische und die deutsche Regierung.
Bei offiziell mehr als 20 Millionen Erwerbslosen in den Ländern der Europäischen Union, darunter über 7 Millionen in Deutschland, ist es zynisch, die Arbeitszeit zu verlängern, statt Arbeit und Arbeitszeit unter jenen zu fairteilen, die arbeiten wollen und können. Sorgenvoll wird in der deutschen Debatte auf die Beschäftigungs-, Sozial- und Arbeitszeitpolitik anderer europäischer Staaten verwiesen und Nachahmung empfohlen.
Das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit ist in allen EU-Ländern größer, als die offiziellen Daten (standardisierte OECD-Arbeitslosenrate) glauben machen. 70% der 15- bis 64-Jährigen arbeiten Vollzeit, weitere 10% mit halber Stundenzahl Teilzeit. Die Schweiz, Dänemark und Island zeigen, dass eine solche Erwerbsbeteiligung realistisch ist. Hierzu wird das im jeweiligen Land vorhandene tatsächliche Arbeitsvolumen ins Verhältnis gesetzt.
Es zeigt sich, dass es für 9—31% der Erwerbsfähigen keine Arbeit gibt. Am Beispiel Polen kann man sehen, dass weder lange Arbeitszeiten (41,5 Wochenstunden) noch Niedrigstlöhne (Mindestlohn 235 Euro im Monat) zu mehr Beschäftigung führen.
Entgegen diesen Erkenntnissen will der EU-Ministerrat mit der Arbeitszeitrichtlinie die Arbeitszeit aber weiter flexibilisieren und verlängern und auch ermöglichen, sich nicht einmal an diese Richtlinie zu halten (Opt-out).

Flexibilisierung

Der Rat will durchsetzen, dass flexible Jahresarbeitszeiten ohne tarifvertragliche Regelung möglich werden. Das ist ein direkter Angriff auf die Gewerkschaften, denn sie verlören ihre Gestaltungsmöglichkeiten. Die Unternehmer könnten bestehende Vereinbarungen zu Jahresarbeitszeitkonten kündigen und neue Gesetzeslagen und Mindeststandards nutzen. Die neuen Regelungen sehen vermutlich in etwa so aus:
— Der Arbeits- und Gesundheitsschutz verschlechtert sich, mit Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft.
— Die Arbeitszeit wird für Beschäftigte weniger kalkulierbar, vor allem wird sie länger. Dies erschwert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil weniger Zeit für Erziehung und Familie bleibt.
— Der Entwurf ist vor allem frauenfeindlich. Erziehenden wird der Zugang zum Arbeitsmarkt bei verlängerten Arbeitszeiten fast unmöglich gemacht.
Drei Jahre lang konnten die Arbeitsminister keine Einigung erzielen über die in der geltenden Arbeitszeitrichtlinie vorgesehene Ausnahme von der maximalen Wochenarbeitszeit von 48 Stunden: das Opt-out. Genau hier führen die deutsche und britische Regierung das Lager der Hardliner an, sie verteidigen das Opt-out mit Zähnen und Klauen, Sarkozy und Berlusconi gaben den vor den jeweiligen Regierungswechseln geübten Widerstand sofort auf. Eine Minderheit um Spanien, Belgien, Griechenland, Ungarn und Zypern pochte ebenso wie das Europäische Parlament darauf, das Opt-out abzuschaffen.
Der nun erzielte „Kompromiss” sieht vor, dass das Opt-out grundsätzlich beibehalten wird. Wenn davon Gebrauch gemacht wird, soll die wöchentliche Arbeitszeit (während eines 3-monatigen Bemessungszeitraums) im Schnitt 60 Stunden nicht überschreiten. Kommen „inaktive” Bereitschaftszeiten hinzu, liegt die Höchstgrenze bei 65 Stunden. Wird das Opt-out per Tarifvertrag geregelt, sollen 78 Wochenstunden möglich sein. Für Arbeitsverhältnisse mit einer Laufzeit von weniger als 10 Wochen soll es keine Beschränkung der zulässigen Arbeitszeit geben.
Wer halbwegs ausreichend Lebensunterhalt verdienen will, muss sich länger ausbeuten lassen — auf diesem Wege wird alles untergraben, was Arbeiterbewegung und Gewerkschaften in den letzten hundert Jahren erkämpft haben. Es geht nur noch um die Unternehmer, ihr Eigentum, deren Freiheit und Sicherheit. Die arbeitenden Menschen, Kultur, Freiheit und soziale Rechte bleiben auf der Strecke.

Arbeit fair teilen

Die Bereitstellung eines breiten öffentlichen Dienstleistungssektors könnte die Arbeitslosigkeit zwar erheblich reduzieren, reicht aber nicht aus, um Vollbeschäftigung im alten Stil zu erreichen — das zeigt die auch in den skandinavischen Ländern vorhandene Unterbeschäftigung. Selbst überdurchschnittliche Wachstumsraten senken sie kaum ab. Die für elf EU-Staaten vorliegenden Daten zeigen, dass zwischen 1970 und 2000 das Arbeitsvolumen in sieben Ländern (Frankreich, Großbritannien, Italien, Deutschland, Dänemark, Belgien und Finnland) zurückgegangen ist — im Schnitt um 7%; Schweden, Spanien und die Niederlande konnten eine geringe Zunahme (etwa 4%) verbuchen. Lediglich in Irland stieg das Arbeitsvolumen signifikant an (+26%), hier hat sich Zahl der Erwerbstätigen um 77% erhöht. Auch in zehn anderen Mitgliedsländern stieg die Anzahl der Beschäftigten (zwischen 4% und 43%).
Pro Erwerbstätigen ist das Arbeitsvolumen überall zurückgegangen und eine Jahresarbeitszeit gesunken — bei Wachstumsraten von bis zu 4%. Deshalb kann eine Politik, die auf Wachstum setzt, die Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigen. Vielmehr muss das vorhandene Arbeitsvolumen auf die Arbeit suchende Bevölkerung gleichmäßiger verteilt werden. Dies geht nur durch die Verringerung der Arbeitszeit von Vollzeiterwerbstätigen:
Die tatsächliche Wochenarbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten liegt in der EU der 15 zwischen 37,7 (Frankreich) und 43,3 Stunden (Großbritannien); die BRD liegt mit 39,9 Stunden im Mittelfeld. Mit einer derart hohen Arbeitszeit kann bei fortschreitender Rationalisierung und gestiegener Frauenerwerbsquote keine Vollbeschäftigung erreicht werden. Die in der EU der 15 im Durchschnitt bestehende 40-Stunden-Woche geht deshalb mit Millionen von Arbeitsuchenden einher.
Bei einer gleichmäßigeren Verteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens auf die Bevölkerung ergäbe sich eine erheblich niedrigere Vollzeit. Sie reicht theoretisch von 26,4 Stunden pro Woche in Belgien bis zu 37,4 Stunden in Tschechien und läge im EU-Durchschnitt bei 31 Stunden. Umverteilung durch Arbeitszeitverkürzung, kurze Vollzeit von 30 Stunden pro Woche, muss deshalb in ganz Europa auf der Tagesordnung stehen, das entspricht auch den Wünschen vieler Menschen.

Praktische Erfahrungen

Bei VW lief 15 Jahre lang ein „Großversuch” mit 100000 Beschäftigten und einer 30-Stunden-Woche. Damit wurden 30000 Arbeitsplätze zeitweise gesichert und betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen. Diese aus einer Krise geborene 20%ige Arbeitszeitverkürzung war betriebswirtschaftlich begründet; nicht Humanisierung der Arbeitswelt war das Ziel, sondern Standortsicherung. Dennoch haben bis heute viele Beschäftigte die angenehmen Seiten des 6-Stunden-Tages bzw. der 4-Tage-Woche in guter Erinnerung.
Weil aber Standortpolitik und Verbesserung der betrieblichen Konkurrenz das Ziel waren, gab es fast keine Debatten in den Gewerkschaften und keine Bewegung für allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Das protestantische Arbeitsethos ("Morgenstund‘ hat Gold im Mund"; „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen") führt immer noch zur Glorifizierung der Lohnarbeit. Arbeitszeitverkürzung wird als „Teufelswerk” empfunden, Müßiggang wird nur den Reichen als legitimer Zeit- Wohlstand zugestanden. Lange Arbeitszeiten, hohe Einkommen und die gedankliche Möglichkeit, auch noch das Unsinnigste zu konsumieren — zur Not durch Überschuldung —, werden als „Freiheit” propagiert. Eine an den Interessen der Beschäftigten orientierte Flexibilität kurzer Vollzeitarbeit wird in Debatten systematisch ausgeblendet. Die Frage nach dem Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung wird derzeit in umgekehrter Richtung beantwortet: durch Arbeitszeitverlängerung bei gleichzeitiger Lohnsenkung.
Der Widerspruch der Regierungen in Belgien, Griechenland, Spanien, Ungarn und Zypern ist sehr berechtigt: Eine Arbeitszeit von 48 Stunden pro Woche plus zusätzlich viele Ausnahmeregelungen mit Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden täglich und 78 Stunden pro Woche — oft ohne zusätzliche Vergütung — wären ein beispielloser historischer Rückschritt und volkswirtschaftlicher Wahnsinn. Diese Rolle rückwärts des EU-Ministerrats führt zu mehr Armut und zu mehr Erwerbslosen. Noch mehr Menschen werden sich von der europäischen Idee abwenden, weil dieses Europa nicht sozial und nicht friedlich ist; gestärkt werden nationalistische und separatistische Strömungen. Die beabsichtigte Arbeitszeitverlängerung fördert Sozialdumping und Konkurrenz zwischen den Staaten, also das Gegenteil von Solidarität und Integration. Am Beispiel der Arbeitszeitrichtlinie wird deutlich, dass Maßnahmen der EU nicht anonym „aus Brüssel” kommen, sondern von der deutschen Bundesregierung oft forciert werden.
Ohne die Zustimmung des Europäischen Parlaments kann die Richtlinie nicht in Kraft treten. Die Abgeordneten können den sozialen Rückschritt stoppen und eigene Konzepte für eine Fairteilung der Arbeit zwischen Männern und Frauen, Älteren und Jüngeren, Erwerbstätigen und Erwerbslosen vorlegen.
Wichtige Partner im Bemühen, die Richtlinie zu stoppen, sind die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die gegen die Pläne Sturm laufen. Viele wollen es bei verbalem Protest nicht belassen. Dazu haben Beratungen auf der europäischen Sommeruniversität von Attac in Saarbrücken begonnen, beim Europäischen Sozialforum in Malmö werden die Planungen fortgesetzt. Es ist möglich, die Arbeitszeitrichtlinie im Parlament durch starken Druck zum Scheitern zu bringen.
Die Angst vor weiterer Abstrafung durch das Wahlvolk und den möglichen Verlust von weiteren Europamandaten zerreißt nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch andere Kräfte im Parlament. Bei der zweiten Lesung im Herbst 2008 kommt die Stunde der Wahrheit. Und die Zeit vor den Wahlen zum EU-Parlament im Jahr 2009 ist günstig, die Parteien und die Abgeordneten mit unseren berechtigten Forderungen zu konfrontieren.

Der Autor ist Mitglied der Attac-AG ArbeitFairTeilen, www.attac-netzwerk.de/ag- arbeitfairteilen.


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