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Lateinamerika macht derzeit dramatische Veränderungen durch. Nachdem es in fast allen Ländern
sozialdemokratische oder linke Regierungen gibt, beginnt ein Prozess der regionalen wirtschaftlichen und sozialen Integration, mit Aussicht auf
Gründung eines eigenen Militärbündnisses. Gleichzeitig eskalierten in den letzten Monaten binnen- und zwischenstaatliche Konflikte; die
USA fuhren mit der IV.Flotte eine ständige Militärpräsenz vor den Küsten Lateinamerikas auf.
Lateinamerikas wirtschaftliche und politische Entwicklung gibt Hoffnung: Alle
Länder weisen ein moderates Wachstum auf, die Ausgaben für Sozialpolitik steigen, die Inflationsraten und die Auslandsverschuldung sinken. Die
neuen Linksregierungen reduzieren die massiven sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte aus der Zeit der neoliberalen Wirtschaftsregimes seit den 70er
Jahren.
Darüber hinaus gibt es einen beispiellosen politischen Einigungsprozess. Im Mai
2008 unterzeichneten zwölf Regierungen Südamerikas die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR). Nach dem
Vorbild der EU sollen bis 2025 ein einheitlicher Markt, ein gemeinsames Parlament und eine einheitliche Währung geschaffen werden. Auch ein
Militärbündnis wird vorbereitet — noch blockiert das Mitgliedsland Kolumbien die Entscheidung darüber.
Im April bombardierte die kolumbianische Armee auf dem Territorium von Ecuador ein Lager der Guerillaorganisation FARC. Dabei wurde deren
Kommandant Raúl Reyes getötet, der zu diesem Zeitpunkt mit internationalen Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch befasst war.
Ecuadors Präsident Rafael Correa stellte im Verlauf der Krise fest, seine eigene Militärführung habe ihn falsch, unvollständig oder zu
spät informiert, und entließ die Generäle, denen er vorwarf, „stärker der CIA verpflichtet zu sein als ihrem Vaterland.”
Wenige Wochen später wurden vier Männer verhaftet, die einen Anschlag auf Correa vorbereitet haben sollen. Drei von ihnen waren Kolumbianer,
Mitglieder der kolumbianischen Paramilitärs AUC.
In Bolivien treibt die bürgerliche Opposition die sozialgeografische Spaltung des
Landes voran, nachdem Präsident Evo Morales in einem Referendum von 67% der Wähler im Amt bestätigt worden ist. Die Städte
der vier Bundesländer im westlichen Tiefland werden von einer Opposition kontrolliert, die sich gegenüber der mehrheitlich indianischen
Bevölkerung als „weiß” definiert und traditionell eine hohe Verfügungsmacht über die natürlichen Ressourcen
Boliviens hat.
Großgrundbesitzer, Unternehmer und staatliche Angestellte bauen gegen das
sozialistische Programm der Bundesregierung eine Autonomiebewegung auf, um die von ihnen kontrollierten, ressourcenreichen Bundesländer von
Bolivien abzuspalten. Bewaffnete Anhänger der rechtsextremen Bewegung besetzen — unterstützt von bisher nicht näher
spezifizierten „Ausländern” — seit Monaten immer wieder Bundesgebäude und Flughäfen, verüben
Anschläge auf Vertreter der sozialistischen Bundesregierung und versuchen, deren Arbeit mit allen Mitteln zu sabotieren.
Derzeit eskaliert der Konflikt, es gibt etliche Tote. Die Militärführung des
Landes bezeichnet sowohl Evo Morales als auch die putschistischen Gouverneure als legitime Repräsentanten und weigert sich einzugreifen.
In Venezuela wurden zeitgleich mit der Zuspitzung in Bolivien zum wiederholten Mal
Putschvorbereitungen gegen Präsidenten Hugo Chávez aufgedeckt. Acht Militärs, die Hugo Chávez umbringen wollten, wurden
verhaftet. Zudem sind kolumbianische Paramilitärs in den an Kolumbien grenzenden Bundesländern aktiv — zwei davon regiert die rechte
Opposition. Neben dem Schwarzhandel mit Treibstoff und Drogen versuchen sie dem Vernehmen nach, die Kontrolle über Transport- und
Taxiunternehmen zu erlangen, um eine eigene mobile Infrastruktur aufzubauen.
Nicht nur halblegale Verbände der kolumbianischen Aufstandsbekämpfung
operieren in Venezuela: Im Mai überflog ein Flugzeug der US-Luftwaffe venezolanischen Luftraum, außerdem planen Kolumbien und die USA die
Errichtung eines US-Stützpunktes auf der direkt an Venezuela grenzenden Halbinsel La Guajira.
Bolivien, Ecuador und Venezuela, die Länder mit den gravierendsten
Zwischenfällen, weisen politische Gemeinsamkeiten auf. Ihre Regierungen betreiben konsequente Transformationsprojekte in Lateinamerika. Obwohl
Rafael Correa von einer „Bürgerrevolution” und nicht, wie Evo Morales und Hugo Chávez, von einem sozialistischen Projekt
spricht, betreibt er eine ähnliche Politik. Im Mittelpunkt stehen verfassungsgebende Prozesse, die auf eine Ausweitung der direkten Demokratie und auf
die Beteiligung bisher ausgeschlossener Bevölkerungsteile setzen. In allen drei Ländern fördert man die (Wieder-)Verstaatlichung von
Schlüsselindustrien sowie Investitionen in Gesundheit, Bildung und Infrastrukturentwicklung.
Die innenpolitischen Konflikte entstehen durch den energischen Widerstand der
bürgerlichen Opposition in den jeweiligen Ländern, in Ecuador und Venezuela spielt die Nachbarschaft zu Kolumbien eine wesentliche Rolle.
Kolumbien hat als Hauptexporteur von Drogen und größter Empfänger
von Militärhilfe aus den USA seit vielen Jahren eine destabilisierende Wirkung auf die gesamte Region. Die konservative Regierung befindet sich in einer
massiven Krise, gegen einen großen Teil ihrer Abgeordneten sowie Kabinettsmitglieder wird ermittelt. Führende Politiker haben offenbar mit den
paramilitärischen Verbänden zusammengearbeitet, um die Guerilla zu bekämpfen.
Seit 2002 regiert der parteilose Präsident Álvaro Uribe mithilfe wechselnder Wahlbündnisse. 2003 ließ er die Verfassung ändern,
um seine Wiederwahl bis 2010 zu ermöglichen. Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten nimmt an den Wahlen teil, die große Mehrheit
der aktiven Wähler unterstützt jedoch den autoritären Charismatiker, dessen politisches Programm in einer konsequent neoliberalen
Wirtschaftspolitik, einer engen Anbindung an die USA sowie der offensiven militärischen Bekämpfung der Guerillabewegungen besteht.
Seit seiner Zeit als Bürgermeister von Medellín wird Uribe aufs Engste mit
den rechtsextremen Paramilitärs in Verbindung gebracht. Diese haben laut Menschenrechtsorganisationen etwa 70000 Menschen in den letzten 20 Jahren
ermordet. Landesweit waren bzw. sind etwa 40000 Bewaffnete in verschiedenen inoffiziellen Militärverbänden organisiert: sie einschüchtern
Vertreter sozialer Bewegungen ein, entführen sie, foltern sie und bringen sie um. Laut Amnesty International wurden von 1991 bis 2006 2245
Gewerkschaftsaktivisten ermordet.
In ländlichen Gebieten vertreiben die Paramilitärs Gemeinden, die angeblich
die Guerilla unterstützen. Dokumentiert wurde dieses Vorgehen zuletzt im Bundesland Uraba, wo der amerikanische Chiquita-Konzern Steuern an die
Paramilitärs zahlte, die wiederum eine Reihe von Gewerkschaftern und Bauern „verschwinden” ließen. Für die Einstellung
eines diesbezüglichen Verfahrens in den USA zahlte der Konzern 25 Millionen Dollar. Etwa 3 Millionen Menschen sind Opfer der internen
Vertreibungen. Die Vertreibungen gehen einher mit der Enteignung großer landwirtschaftlicher Flächen durch die Paramilitärs oder die
Firmen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Auf diese Weise erlangen sie die politische und wirtschaftliche Kontrolle über große Landstriche.
2006 leitete Präsident Uribe einen Legalisierungsprozess der paramilitärischen
Gruppen ein. Er ermöglichte ihnen die Übernahme von Ämtern in Gemeinden und die Gründung von legalen Unternehmen. Einzelne
Paramilitärs wurden zu Haftstrafen verurteilt — durch ihre Auslieferung an die USA wurden Ermittlungen gegen sie wegen
Menschenrechtsverbrechen verhindert, weil die USA nur wegen Drogenhandels ermitteln.
Der Oberste Gerichtshof Kolumbiens leitete inzwischen Ermittlungen gegen mehr als 60
Mitglieder der Regierungsparteien ein, denen enge Verbindungen zu den Paramilitärs nachgewiesen werden konnten — 33 befinden sich in Haft.
Mehrere Mitglieder aus Uribes Kabinett mussten zurücktreten. Bei den Ermittlungen kam auch die Wahlhilfe der Paramilitärs für Álvaro
Uribe zur Sprache. Im August schaltete sich der Internationale Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag in die Ermittlungen ein, nachdem es Hinweise gab, dass
Präsident Uribe versucht, die Arbeit des Obersten Gerichtshofs zu behindern.
Kolumbien ist einer der letzten und wichtigsten Verbündeten der USA in der Region.
Das Land grenzt an fünf andere Staaten, verfügt sowohl über eine Pazifik- als auch über eine Atlantikküste und über
umfangreiche Bodenschätze. Nachdem Ecuador nun den US-Stützpunkt in Manta schließen will, könnte es hier die letzten
Stationierungsmöglichkeiten für die USA südlich des Panamakanals geben — denn auch in Paraguay, wo im April mit Fernando Lugo
ein Befreiungstheologe zum Präsidenten gewählt wurde, wird sich die (inoffizielle) amerikanische Militärpräsenz nicht mehr lange
halten lassen.
Diese Konstellation dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür sein, dass
die US-Regierung im Juli 2008 entschied, ihre IV.Flotte zu reaktivieren. Der Verband aus etwa elf Kriegsschiffen wird in Zukunft permanent vor
lateinamerikanischen Küsten patrouillieren. Die erste Route der Flotte besteht aus einer Liste der letzten Verbündeten auf dem Subkontinent: von
Haiti nach Mittelamerika, nach Kolumbien, entlang der venezolanischen Küste nach Trinidad und Tobago, rund um den Kontinent nach Peru. Der
Flottenverband hat wohl nicht nur eine beobachtende Funktion, sondern soll auch eine abschreckende Wirkung haben.
Bei aller Besorgnis, die dieser Aufrüstungsschritt auslöst: Dass die USA zur
Kontrolle ihres eigenen „Hinterhofs” auf das Wasser ausweichen müssen, ist auch ein Zeichen für die südamerikanische
Geschlossenheit. Seitdem die Länder im November 2005 in Mar del Plata die Unterzeichung des Freihandelsabkommens ALCA mit den USA ablehnten,
ist deutlich, dass die letzte Weltmacht — trotz intensivster diplomatischer Bemühungen — südlich von Kolumbien keine relevanten
Ansprechpartner mehr hat. Nur in Peru und Mexiko konnten neoliberal orientierte Parteien mit erheblicher Unterstützung aus dem Ausland die
Präsidentschaftswahlen knapp für sich entscheiden.
Versuche, einen Keil zwischen „gute” und „schlechte”
Regierungen zu treiben und Argentinien, Brasilien und Chile gegen Bolivien, Ecuador oder Venezuela aufzustellen, scheiterten bisher. Stattdessen waren die
letzten Jahre von vielfältigen gemeinsamen Aktivitäten bestimmt: die Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsbank (Banco del Sur),
eines Nachrichtenkanals (TeleSur), Kooperationen bei Infrastruktur- und Energieunternehmen.
Das alternative Staatenbündnis ALBA konnte in den letzten Jahren weitere
Mitglieder aus Mittelamerika und der Karibik aufnehmen. Im Schatten der Weltpolitik wurden die Grundlagen für eine lateinamerikanische Einheit gelegt,
deren Ziel das Gründungsdokument des UNASUR als Kampf gegen „Ungleichheit, soziale Ausgrenzung, Hunger, Armut und
Unsicherheit” beschreibt.
Eine offene Militärintervention der USA wird derzeit für unwahrscheinlich
gehalten. Gleichzeitig ist klar, dass die letzten neoliberalen Regime der Region — in Kolumbien, Mexiko und Peru — mit jeder Art von Hilfe
seitens der USA und der EU rechnen können, während in Bolivien, Ecuador und Venezuela die rechte Opposition finanziell, medial und durch
Beratung unterstützt wird. Dass damit Regierungen mit der verbrecherischsten Wirtschafts- und Menschenrechtspolitik unterstützt werden,
während die sozialistischen Regierungen der Region nicht nur über eine demokratische Legitimation verfügen, sondern diese auch mit neuen
Konzepten der direkten Demokratie vorantreiben, sollte gerade in Europa stärker diskutiert werden.
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