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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2008, Seite 13

Lateinamerika: Zwischen ultrarechter Aggression und neuem Selbstbewusstsein

Kolumbiens Sonderrolle im Prozess der Einigung Lateinamerika

von Malte Daniljuk

Lateinamerika macht derzeit dramatische Veränderungen durch. Nachdem es in fast allen Ländern sozialdemokratische oder linke Regierungen gibt, beginnt ein Prozess der regionalen wirtschaftlichen und sozialen Integration, mit Aussicht auf Gründung eines eigenen Militärbündnisses. Gleichzeitig eskalierten in den letzten Monaten binnen- und zwischenstaatliche Konflikte; die USA fuhren mit der IV.Flotte eine ständige Militärpräsenz vor den Küsten Lateinamerikas auf.
Lateinamerikas wirtschaftliche und politische Entwicklung gibt Hoffnung: Alle Länder weisen ein moderates Wachstum auf, die Ausgaben für Sozialpolitik steigen, die Inflationsraten und die Auslandsverschuldung sinken. Die neuen Linksregierungen reduzieren die massiven sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte aus der Zeit der neoliberalen Wirtschaftsregimes seit den 70er Jahren.
Darüber hinaus gibt es einen beispiellosen politischen Einigungsprozess. Im Mai 2008 unterzeichneten zwölf Regierungen Südamerikas die Gründung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR). Nach dem Vorbild der EU sollen bis 2025 ein einheitlicher Markt, ein gemeinsames Parlament und eine einheitliche Währung geschaffen werden. Auch ein Militärbündnis wird vorbereitet — noch blockiert das Mitgliedsland Kolumbien die Entscheidung darüber.

Konflikte eskalieren

Im April bombardierte die kolumbianische Armee auf dem Territorium von Ecuador ein Lager der Guerillaorganisation FARC. Dabei wurde deren Kommandant Raúl Reyes getötet, der zu diesem Zeitpunkt mit internationalen Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch befasst war. Ecuadors Präsident Rafael Correa stellte im Verlauf der Krise fest, seine eigene Militärführung habe ihn falsch, unvollständig oder zu spät informiert, und entließ die Generäle, denen er vorwarf, „stärker der CIA verpflichtet zu sein als ihrem Vaterland.” Wenige Wochen später wurden vier Männer verhaftet, die einen Anschlag auf Correa vorbereitet haben sollen. Drei von ihnen waren Kolumbianer, Mitglieder der kolumbianischen Paramilitärs AUC.
In Bolivien treibt die bürgerliche Opposition die sozialgeografische Spaltung des Landes voran, nachdem Präsident Evo Morales in einem Referendum von 67% der Wähler im Amt bestätigt worden ist. Die Städte der vier Bundesländer im westlichen Tiefland werden von einer Opposition kontrolliert, die sich gegenüber der mehrheitlich indianischen Bevölkerung als „weiß” definiert und traditionell eine hohe Verfügungsmacht über die natürlichen Ressourcen Boliviens hat.
Großgrundbesitzer, Unternehmer und staatliche Angestellte bauen gegen das sozialistische Programm der Bundesregierung eine Autonomiebewegung auf, um die von ihnen kontrollierten, ressourcenreichen Bundesländer von Bolivien abzuspalten. Bewaffnete Anhänger der rechtsextremen Bewegung besetzen — unterstützt von bisher nicht näher spezifizierten „Ausländern” — seit Monaten immer wieder Bundesgebäude und Flughäfen, verüben Anschläge auf Vertreter der sozialistischen Bundesregierung und versuchen, deren Arbeit mit allen Mitteln zu sabotieren.
Derzeit eskaliert der Konflikt, es gibt etliche Tote. Die Militärführung des Landes bezeichnet sowohl Evo Morales als auch die putschistischen Gouverneure als legitime Repräsentanten und weigert sich einzugreifen.
In Venezuela wurden zeitgleich mit der Zuspitzung in Bolivien zum wiederholten Mal Putschvorbereitungen gegen Präsidenten Hugo Chávez aufgedeckt. Acht Militärs, die Hugo Chávez umbringen wollten, wurden verhaftet. Zudem sind kolumbianische Paramilitärs in den an Kolumbien grenzenden Bundesländern aktiv — zwei davon regiert die rechte Opposition. Neben dem Schwarzhandel mit Treibstoff und Drogen versuchen sie dem Vernehmen nach, die Kontrolle über Transport- und Taxiunternehmen zu erlangen, um eine eigene mobile Infrastruktur aufzubauen.
Nicht nur halblegale Verbände der kolumbianischen Aufstandsbekämpfung operieren in Venezuela: Im Mai überflog ein Flugzeug der US-Luftwaffe venezolanischen Luftraum, außerdem planen Kolumbien und die USA die Errichtung eines US-Stützpunktes auf der direkt an Venezuela grenzenden Halbinsel La Guajira.
Bolivien, Ecuador und Venezuela, die Länder mit den gravierendsten Zwischenfällen, weisen politische Gemeinsamkeiten auf. Ihre Regierungen betreiben konsequente Transformationsprojekte in Lateinamerika. Obwohl Rafael Correa von einer „Bürgerrevolution” und nicht, wie Evo Morales und Hugo Chávez, von einem sozialistischen Projekt spricht, betreibt er eine ähnliche Politik. Im Mittelpunkt stehen verfassungsgebende Prozesse, die auf eine Ausweitung der direkten Demokratie und auf die Beteiligung bisher ausgeschlossener Bevölkerungsteile setzen. In allen drei Ländern fördert man die (Wieder-)Verstaatlichung von Schlüsselindustrien sowie Investitionen in Gesundheit, Bildung und Infrastrukturentwicklung.
Die innenpolitischen Konflikte entstehen durch den energischen Widerstand der bürgerlichen Opposition in den jeweiligen Ländern, in Ecuador und Venezuela spielt die Nachbarschaft zu Kolumbien eine wesentliche Rolle.
Kolumbien hat als Hauptexporteur von Drogen und größter Empfänger von Militärhilfe aus den USA seit vielen Jahren eine destabilisierende Wirkung auf die gesamte Region. Die konservative Regierung befindet sich in einer massiven Krise, gegen einen großen Teil ihrer Abgeordneten sowie Kabinettsmitglieder wird ermittelt. Führende Politiker haben offenbar mit den paramilitärischen Verbänden zusammengearbeitet, um die Guerilla zu bekämpfen.

Destabilisierungsfaktor Kolumbien

Seit 2002 regiert der parteilose Präsident Álvaro Uribe mithilfe wechselnder Wahlbündnisse. 2003 ließ er die Verfassung ändern, um seine Wiederwahl bis 2010 zu ermöglichen. Weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten nimmt an den Wahlen teil, die große Mehrheit der aktiven Wähler unterstützt jedoch den autoritären Charismatiker, dessen politisches Programm in einer konsequent neoliberalen Wirtschaftspolitik, einer engen Anbindung an die USA sowie der offensiven militärischen Bekämpfung der Guerillabewegungen besteht.
Seit seiner Zeit als Bürgermeister von Medellín wird Uribe aufs Engste mit den rechtsextremen Paramilitärs in Verbindung gebracht. Diese haben laut Menschenrechtsorganisationen etwa 70000 Menschen in den letzten 20 Jahren ermordet. Landesweit waren bzw. sind etwa 40000 Bewaffnete in verschiedenen inoffiziellen Militärverbänden organisiert: sie einschüchtern Vertreter sozialer Bewegungen ein, entführen sie, foltern sie und bringen sie um. Laut Amnesty International wurden von 1991 bis 2006 2245 Gewerkschaftsaktivisten ermordet.
In ländlichen Gebieten vertreiben die Paramilitärs Gemeinden, die angeblich die Guerilla unterstützen. Dokumentiert wurde dieses Vorgehen zuletzt im Bundesland Uraba, wo der amerikanische Chiquita-Konzern Steuern an die Paramilitärs zahlte, die wiederum eine Reihe von Gewerkschaftern und Bauern „verschwinden” ließen. Für die Einstellung eines diesbezüglichen Verfahrens in den USA zahlte der Konzern 25 Millionen Dollar. Etwa 3 Millionen Menschen sind Opfer der internen Vertreibungen. Die Vertreibungen gehen einher mit der Enteignung großer landwirtschaftlicher Flächen durch die Paramilitärs oder die Firmen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Auf diese Weise erlangen sie die politische und wirtschaftliche Kontrolle über große Landstriche.
2006 leitete Präsident Uribe einen Legalisierungsprozess der paramilitärischen Gruppen ein. Er ermöglichte ihnen die Übernahme von Ämtern in Gemeinden und die Gründung von legalen Unternehmen. Einzelne Paramilitärs wurden zu Haftstrafen verurteilt — durch ihre Auslieferung an die USA wurden Ermittlungen gegen sie wegen Menschenrechtsverbrechen verhindert, weil die USA nur wegen Drogenhandels ermitteln.
Der Oberste Gerichtshof Kolumbiens leitete inzwischen Ermittlungen gegen mehr als 60 Mitglieder der Regierungsparteien ein, denen enge Verbindungen zu den Paramilitärs nachgewiesen werden konnten — 33 befinden sich in Haft. Mehrere Mitglieder aus Uribes Kabinett mussten zurücktreten. Bei den Ermittlungen kam auch die Wahlhilfe der Paramilitärs für Álvaro Uribe zur Sprache. Im August schaltete sich der Internationale Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag in die Ermittlungen ein, nachdem es Hinweise gab, dass Präsident Uribe versucht, die Arbeit des Obersten Gerichtshofs zu behindern.
Kolumbien ist einer der letzten und wichtigsten Verbündeten der USA in der Region. Das Land grenzt an fünf andere Staaten, verfügt sowohl über eine Pazifik- als auch über eine Atlantikküste und über umfangreiche Bodenschätze. Nachdem Ecuador nun den US-Stützpunkt in Manta schließen will, könnte es hier die letzten Stationierungsmöglichkeiten für die USA südlich des Panamakanals geben — denn auch in Paraguay, wo im April mit Fernando Lugo ein Befreiungstheologe zum Präsidenten gewählt wurde, wird sich die (inoffizielle) amerikanische Militärpräsenz nicht mehr lange halten lassen.
Diese Konstellation dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür sein, dass die US-Regierung im Juli 2008 entschied, ihre IV.Flotte zu reaktivieren. Der Verband aus etwa elf Kriegsschiffen wird in Zukunft permanent vor lateinamerikanischen Küsten patrouillieren. Die erste Route der Flotte besteht aus einer Liste der letzten Verbündeten auf dem Subkontinent: von Haiti nach Mittelamerika, nach Kolumbien, entlang der venezolanischen Küste nach Trinidad und Tobago, rund um den Kontinent nach Peru. Der Flottenverband hat wohl nicht nur eine beobachtende Funktion, sondern soll auch eine abschreckende Wirkung haben.
Bei aller Besorgnis, die dieser Aufrüstungsschritt auslöst: Dass die USA zur Kontrolle ihres eigenen „Hinterhofs” auf das Wasser ausweichen müssen, ist auch ein Zeichen für die südamerikanische Geschlossenheit. Seitdem die Länder im November 2005 in Mar del Plata die Unterzeichung des Freihandelsabkommens ALCA mit den USA ablehnten, ist deutlich, dass die letzte Weltmacht — trotz intensivster diplomatischer Bemühungen — südlich von Kolumbien keine relevanten Ansprechpartner mehr hat. Nur in Peru und Mexiko konnten neoliberal orientierte Parteien mit erheblicher Unterstützung aus dem Ausland die Präsidentschaftswahlen knapp für sich entscheiden.
Versuche, einen Keil zwischen „gute” und „schlechte” Regierungen zu treiben und Argentinien, Brasilien und Chile gegen Bolivien, Ecuador oder Venezuela aufzustellen, scheiterten bisher. Stattdessen waren die letzten Jahre von vielfältigen gemeinsamen Aktivitäten bestimmt: die Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsbank (Banco del Sur), eines Nachrichtenkanals (TeleSur), Kooperationen bei Infrastruktur- und Energieunternehmen.
Das alternative Staatenbündnis ALBA konnte in den letzten Jahren weitere Mitglieder aus Mittelamerika und der Karibik aufnehmen. Im Schatten der Weltpolitik wurden die Grundlagen für eine lateinamerikanische Einheit gelegt, deren Ziel das Gründungsdokument des UNASUR als Kampf gegen „Ungleichheit, soziale Ausgrenzung, Hunger, Armut und Unsicherheit” beschreibt.
Eine offene Militärintervention der USA wird derzeit für unwahrscheinlich gehalten. Gleichzeitig ist klar, dass die letzten neoliberalen Regime der Region — in Kolumbien, Mexiko und Peru — mit jeder Art von Hilfe seitens der USA und der EU rechnen können, während in Bolivien, Ecuador und Venezuela die rechte Opposition finanziell, medial und durch Beratung unterstützt wird. Dass damit Regierungen mit der verbrecherischsten Wirtschafts- und Menschenrechtspolitik unterstützt werden, während die sozialistischen Regierungen der Region nicht nur über eine demokratische Legitimation verfügen, sondern diese auch mit neuen Konzepten der direkten Demokratie vorantreiben, sollte gerade in Europa stärker diskutiert werden.


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