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Der größte Fehler der Bildungsreform war, dass sie auf halbem Weg stecken geblieben ist.
Gehorsam, Folgebereitschaft und Fügsamkeit — das waren die Merkmale des
westdeutschen Schulwesens bis weit in die 60er Jahre. Sie äußerten sich im Frontalunterricht vom Katheder, es wurde nachgesprochen, auswendig
gelernt und abgeschrieben. Schüler hatten zuzuhören und ruhig zu sein. Autoritäre Rituale und sinnlose Disziplinierungen,
Demütigungen bis hin zur Prügelstrafe gehörten zum Schulalltag, vor allem in den Volksschulen. Oft wurden Schüler vor der Klasse
bloßgestellt und lächerlich gemacht mit dem Ziel, Autorität unangefochten ausüben zu können und partnerschaftliche
Umgangsweisen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die körperliche Züchtigung von Kindern und Jugendlichen war in
Westdeutschland weit verbreitet, die pädagogische Trendwende setzte erst in den 60er Jahren ein, die Abschaffung der Prügelstrafe per Gesetz kam
erst zwischen 1970 und 1973, in Bayern erst 1980. In den Gymnasien herrschte eine Pädagogik der strengen Leistungsauslese, auch hier war der
Umgang starr und autoritär. Die Auslese benachteiligte vor allem Arbeiterkinder und Mädchen. Doch in den 60er Jahren gab es immer mehr
kritische Pädagogen, die sich dagegen wandten.
Schon Mitte der 60er Jahre sprachen bürgerliche Experten vom Bildungsnotstand
und vom Versagen des antiquierten Schulsystems, das den neuen wirtschaftlichen Anforderungen an Ausbildung nicht mehr gerecht würde. Im Interesse
der Wirtschaft sollte das Bildungsniveau erhöht und mehr Kindern der Zugang zu weiterführenden Schulen ermöglicht werden.
Das war nur mit einer grundlegenden Bildungsreform zu schaffen. Im Zuge dieser Reform
wurde aus der Volksschule die Hauptschule von Klasse 5—9, was eine Verlängerung der Pflichtschulzeit bedeutete. Die 4-jährige
Grundschule (in Berlin 6-jährig) wurde zu einer eigenständigen Schulform für alle Kinder — wohnortnah in den Städten und
als Schulzentren auf dem Lande.
Spitze der Reformmaßnahmen war die integrierte Gesamtschule, sie wurde gegen
viele Widerstände von konservativer Seite in einigen Bundesländern und in den Stadtstaaten eingeführt. Sie musste sich vor allem neben
Realschule und Gymnasium behaupten. Die Dreigliedrigkeit des Schulsystems und die ihr zugrundeliegende Begabungstheorie blieben weiterhin unangetastet.
Bis zum heutigen Tag hat sich an der schichtspezifischen Auslese nicht wirklich etwas geändert.
Die Studentenbewegung und eine kritische Öffentlichkeit führten die Diskussion über die halbherzige Reform der Bildungsexperten
hinaus. Sie klagten das dreigliedrige Schulsystem an, weil es die sozialen Schranken vertieft und Arbeiterkindern den Zugang zur weiterführenden
Bildung verwehrt.
Immer wieder ging es um eine Schule, in der alle gemeinsam lernen sollten,
unabhängig von Herkunft und Bildungsgrad des Elternhauses. Bis in die Gewerkschaften hinein — vor allem in der GEW — wurde
gestritten um schulische Inhalte und Lernziele, welche die schichtspezifische Sozialisation und die daraus resultierenden unterschiedlichen Lernvoraussetzungen
berücksichtigen. Es ging sowohl um den Unterrichtsstil der Pädagogen als auch um die Lernformen, die den Schülern Formen der
Gruppenarbeit und selbstbestimmtes Lernen erlauben sollten.
Schule sollte Lebens- und Erfahrungsraum werden und sollte den Spaß am Lernen
fördern, indem sie Kinder und Jugendliche mit ihren Interessen in die Planungen einbezog. Neue Unterrichtsmaterialien wurden erarbeitet, und das
„Einzelkämpferdasein” der Pädagogen sollte durch Kooperation und Koordination abgelöst werden.
Darüber hinaus gab es aber auch systemkritische Initiativen, die mit umfassender
Kritik an der bestehenden Gesellschaft einhergingen und die Kluft zwischen Verfassungsnorm und -wirklichkeit aufzeigten. Ein Teil dieser Impulse floss in die
Revision der Lehrpläne ein, vor allem in die Entwürfe zu den Hessischen Rahmenrichtlinien — am deutlichsten in den Fächern
Deutsch und Gesellschaftslehre.
Gerade der Deutschunterricht sollte es sich zur Aufgabe machen, Sprachbarrieren
abzubauen und den Mittelschichtcharakter der schulischen Sprache als trennendes Element aufzuheben, indem auch Texte aus dem Alltag der Kinder behandelt
wurden — bis hin zu Werbetexten und Comics.
In den Augen der Unternehmerverbände und der bürgerlichen Parteien brach
damit die ganze Kultur des Abendlands zusammen — für sie ging es nur noch um „Erziehung zum Klassenkampf” Die hessischen
Entwürfe wurden zurückgezogen, die Inhalte stark verwässert. Zur gleichen Zeit verabschiedete die „sozialliberale”
Bundesregierung unter Willy Brandt den sog. Radikalenerlass, der sich vor allem gegen allzu kritische Pädagogen richtete. Es wurde nicht nur die
Verfassungstreue überprüft, es gab auch Anhörungen und Disziplinierungsmaßnahmen, weil man etwa ein Gedicht von Brecht oder
Degenhardt gelesen hatte.
Der DGB setzte diese Politik in den eigenen Reihen fort, indem er mit den Unvereinbarkeitsbeschlüssen Mitgliedern bestimmter linker Parteien und
Gruppierungen den Zugang zur Gewerkschaft verwehrte. Doch blieben die Gewerkschaften einschließlich der GEW nicht unberührt von der
Protestbewegung und den angemahnten Gesellschaftsreformen — viele engagierte und politisch links orientierte Pädagogen traten in die
Gewerkschaft ein.
Nie vorher haben Bildung und ihre gesellschaftliche Bedeutung eine so umfassende
Diskussion ausgelöst und eine derartige öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Gerade die Gesamtschule entwickelte sich zu einem Ort, wo es um
soziales und eigenverantwortliches Lernen ging — im Gegensatz zur selektiven Praxis im gegliederten Schulsystem. Doch in der zweiten Hälfte
der 70er Jahre erstarb allmählich das öffentliche Interesse, denn die Vielzahl von Impulsen wurde nur halbherzig aufgegriffen, die Frage nach der
Struktur der Schule nicht angegangen. Stattdessen feierten die alten Begabungstheorien fröhliche Urständ, und dem Bildungssystem ist es bis heute
nicht gelungen, die Ausgrenzung einer hohen Zahl von Kindern und Jugendlichen aufzuheben. Trotzdem haben sich die Schulen seit 1968 verändert, sie
sind humaner und offener geworden, der Umgang zivilisierter, die Erziehungsstile freier.
In den 90er Jahren wurde der Versuch gestartet, diese Verdienste nicht nur kleinzureden,
sondern die 68er-Bewegung in Misskredit zu bringen, indem ihr unterstellt wurde, die Welle der Gewalt, auch die der Rechten, sei auf die emanzipatorische
Erziehung zurückzuführen, die zu frei, zu offen, eben antiautoritär war. Es wurde behauptet, die Gewaltbereitschaft und
Gefühllosigkeit der Jugend, ihre häufige Lernverweigerung und ihre Abkehr von „gesitteten” Umgangsformen seien eine
Spätfolge des Erziehungsstils „linker Aufklärer”, womit vor allem fortschrittliche Pädagogen gemeint waren.
Aber erstens gab es gar nicht so viele „linke” Lehrer, dass ihr Einfluss so
weitreichende Folgen hätte haben können. Zum anderen ist die Behauptung, eine gewaltfreie Erziehung könne zu solchen Ergebnissen
kommen, nicht nur höchst unwahrscheinlich, sondern auch wissenschaftlich unhaltbar.
Im Umkehrschluss muss festgestellt werden, dass von diesem Bereich der 68er-Bewegung
die DDR praktisch unberührt blieb. Dort wurden die Schüler recht eng gehalten, es wurde viel rigider mit ihnen verfahren, Leistungswille,
Pünktlichkeit und Disziplin standen ganz oben auf der Werteskala, wenn es um Erziehungsziele ging. Und gerade dort gab es die ersten
spektakulären Übergriffe auf Asylbewerberheime, offene Gewalt gegenüber Vietnamesen und andere Minderheiten. Untersuchungen haben
ergeben, dass das Gewaltpotenzial unter den Jugendlichen dort viel größer war als im Westen.
Wenn die Behauptung also nur politisch motiviert ist, wie wir vermuten, welches sind dann
die „verhängnisvollen Miterzieher”, die man folgerichtig ins Auge fassen müsste?, fragte damals Hartmut von Hentig in seinem
Buch: „Die Schule neu denken” Und das ist seine Antwort: „Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen bis zum 25.Lebensjahr nicht
braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst
beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, denen die Erwachsenen mit Ernst nachgehen und für die sie als Zeichen und Maß der
Wichtigkeit bezahlt werden, dann zieht sie sich ihre eigenen Zerstörer groß."
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