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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2008, Seite 20

Die 68er sind schuld...

...dass die Prügelstrafe in den Schulen abgeschafft wurde

von Larissa Peiffer-Rüssmann

Der größte Fehler der Bildungsreform war, dass sie auf halbem Weg stecken geblieben ist.
Gehorsam, Folgebereitschaft und Fügsamkeit — das waren die Merkmale des westdeutschen Schulwesens bis weit in die 60er Jahre. Sie äußerten sich im Frontalunterricht vom Katheder, es wurde nachgesprochen, auswendig gelernt und abgeschrieben. Schüler hatten zuzuhören und ruhig zu sein. Autoritäre Rituale und sinnlose Disziplinierungen, Demütigungen bis hin zur Prügelstrafe gehörten zum Schulalltag, vor allem in den Volksschulen. Oft wurden Schüler vor der Klasse bloßgestellt und lächerlich gemacht mit dem Ziel, Autorität unangefochten ausüben zu können und partnerschaftliche Umgangsweisen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die körperliche Züchtigung von Kindern und Jugendlichen war in Westdeutschland weit verbreitet, die pädagogische Trendwende setzte erst in den 60er Jahren ein, die Abschaffung der Prügelstrafe per Gesetz kam erst zwischen 1970 und 1973, in Bayern erst 1980. In den Gymnasien herrschte eine Pädagogik der strengen Leistungsauslese, auch hier war der Umgang starr und autoritär. Die Auslese benachteiligte vor allem Arbeiterkinder und Mädchen. Doch in den 60er Jahren gab es immer mehr kritische Pädagogen, die sich dagegen wandten.
Schon Mitte der 60er Jahre sprachen bürgerliche Experten vom Bildungsnotstand und vom Versagen des antiquierten Schulsystems, das den neuen wirtschaftlichen Anforderungen an Ausbildung nicht mehr gerecht würde. Im Interesse der Wirtschaft sollte das Bildungsniveau erhöht und mehr Kindern der Zugang zu weiterführenden Schulen ermöglicht werden.
Das war nur mit einer grundlegenden Bildungsreform zu schaffen. Im Zuge dieser Reform wurde aus der Volksschule die Hauptschule von Klasse 5—9, was eine Verlängerung der Pflichtschulzeit bedeutete. Die 4-jährige Grundschule (in Berlin 6-jährig) wurde zu einer eigenständigen Schulform für alle Kinder — wohnortnah in den Städten und als Schulzentren auf dem Lande.
Spitze der Reformmaßnahmen war die integrierte Gesamtschule, sie wurde gegen viele Widerstände von konservativer Seite in einigen Bundesländern und in den Stadtstaaten eingeführt. Sie musste sich vor allem neben Realschule und Gymnasium behaupten. Die Dreigliedrigkeit des Schulsystems und die ihr zugrundeliegende Begabungstheorie blieben weiterhin unangetastet. Bis zum heutigen Tag hat sich an der schichtspezifischen Auslese nicht wirklich etwas geändert.

Über die Reform hinaus

Die Studentenbewegung und eine kritische Öffentlichkeit führten die Diskussion über die halbherzige Reform der Bildungsexperten hinaus. Sie klagten das dreigliedrige Schulsystem an, weil es die sozialen Schranken vertieft und Arbeiterkindern den Zugang zur weiterführenden Bildung verwehrt.
Immer wieder ging es um eine Schule, in der alle gemeinsam lernen sollten, unabhängig von Herkunft und Bildungsgrad des Elternhauses. Bis in die Gewerkschaften hinein — vor allem in der GEW — wurde gestritten um schulische Inhalte und Lernziele, welche die schichtspezifische Sozialisation und die daraus resultierenden unterschiedlichen Lernvoraussetzungen berücksichtigen. Es ging sowohl um den Unterrichtsstil der Pädagogen als auch um die Lernformen, die den Schülern Formen der Gruppenarbeit und selbstbestimmtes Lernen erlauben sollten.
Schule sollte Lebens- und Erfahrungsraum werden und sollte den Spaß am Lernen fördern, indem sie Kinder und Jugendliche mit ihren Interessen in die Planungen einbezog. Neue Unterrichtsmaterialien wurden erarbeitet, und das „Einzelkämpferdasein” der Pädagogen sollte durch Kooperation und Koordination abgelöst werden.
Darüber hinaus gab es aber auch systemkritische Initiativen, die mit umfassender Kritik an der bestehenden Gesellschaft einhergingen und die Kluft zwischen Verfassungsnorm und -wirklichkeit aufzeigten. Ein Teil dieser Impulse floss in die Revision der Lehrpläne ein, vor allem in die Entwürfe zu den Hessischen Rahmenrichtlinien — am deutlichsten in den Fächern Deutsch und Gesellschaftslehre.
Gerade der Deutschunterricht sollte es sich zur Aufgabe machen, Sprachbarrieren abzubauen und den Mittelschichtcharakter der schulischen Sprache als trennendes Element aufzuheben, indem auch Texte aus dem Alltag der Kinder behandelt wurden — bis hin zu Werbetexten und Comics.
In den Augen der Unternehmerverbände und der bürgerlichen Parteien brach damit die ganze Kultur des Abendlands zusammen — für sie ging es nur noch um „Erziehung zum Klassenkampf” Die hessischen Entwürfe wurden zurückgezogen, die Inhalte stark verwässert. Zur gleichen Zeit verabschiedete die „sozialliberale” Bundesregierung unter Willy Brandt den sog. Radikalenerlass, der sich vor allem gegen allzu kritische Pädagogen richtete. Es wurde nicht nur die Verfassungstreue überprüft, es gab auch Anhörungen und Disziplinierungsmaßnahmen, weil man etwa ein Gedicht von Brecht oder Degenhardt gelesen hatte.

Antiautoritäre Erziehung

Der DGB setzte diese Politik in den eigenen Reihen fort, indem er mit den Unvereinbarkeitsbeschlüssen Mitgliedern bestimmter linker Parteien und Gruppierungen den Zugang zur Gewerkschaft verwehrte. Doch blieben die Gewerkschaften einschließlich der GEW nicht unberührt von der Protestbewegung und den angemahnten Gesellschaftsreformen — viele engagierte und politisch links orientierte Pädagogen traten in die Gewerkschaft ein.
Nie vorher haben Bildung und ihre gesellschaftliche Bedeutung eine so umfassende Diskussion ausgelöst und eine derartige öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Gerade die Gesamtschule entwickelte sich zu einem Ort, wo es um soziales und eigenverantwortliches Lernen ging — im Gegensatz zur selektiven Praxis im gegliederten Schulsystem. Doch in der zweiten Hälfte der 70er Jahre erstarb allmählich das öffentliche Interesse, denn die Vielzahl von Impulsen wurde nur halbherzig aufgegriffen, die Frage nach der Struktur der Schule nicht angegangen. Stattdessen feierten die alten Begabungstheorien fröhliche Urständ, und dem Bildungssystem ist es bis heute nicht gelungen, die Ausgrenzung einer hohen Zahl von Kindern und Jugendlichen aufzuheben. Trotzdem haben sich die Schulen seit 1968 verändert, sie sind humaner und offener geworden, der Umgang zivilisierter, die Erziehungsstile freier.
In den 90er Jahren wurde der Versuch gestartet, diese Verdienste nicht nur kleinzureden, sondern die 68er-Bewegung in Misskredit zu bringen, indem ihr unterstellt wurde, die Welle der Gewalt, auch die der Rechten, sei auf die emanzipatorische Erziehung zurückzuführen, die zu frei, zu offen, eben antiautoritär war. Es wurde behauptet, die Gewaltbereitschaft und Gefühllosigkeit der Jugend, ihre häufige Lernverweigerung und ihre Abkehr von „gesitteten” Umgangsformen seien eine Spätfolge des Erziehungsstils „linker Aufklärer”, womit vor allem fortschrittliche Pädagogen gemeint waren.
Aber erstens gab es gar nicht so viele „linke” Lehrer, dass ihr Einfluss so weitreichende Folgen hätte haben können. Zum anderen ist die Behauptung, eine gewaltfreie Erziehung könne zu solchen Ergebnissen kommen, nicht nur höchst unwahrscheinlich, sondern auch wissenschaftlich unhaltbar.
Im Umkehrschluss muss festgestellt werden, dass von diesem Bereich der 68er-Bewegung die DDR praktisch unberührt blieb. Dort wurden die Schüler recht eng gehalten, es wurde viel rigider mit ihnen verfahren, Leistungswille, Pünktlichkeit und Disziplin standen ganz oben auf der Werteskala, wenn es um Erziehungsziele ging. Und gerade dort gab es die ersten spektakulären Übergriffe auf Asylbewerberheime, offene Gewalt gegenüber Vietnamesen und andere Minderheiten. Untersuchungen haben ergeben, dass das Gewaltpotenzial unter den Jugendlichen dort viel größer war als im Westen.
Wenn die Behauptung also nur politisch motiviert ist, wie wir vermuten, welches sind dann die „verhängnisvollen Miterzieher”, die man folgerichtig ins Auge fassen müsste?, fragte damals Hartmut von Hentig in seinem Buch: „Die Schule neu denken” Und das ist seine Antwort: „Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen bis zum 25.Lebensjahr nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, denen die Erwachsenen mit Ernst nachgehen und für die sie als Zeichen und Maß der Wichtigkeit bezahlt werden, dann zieht sie sich ihre eigenen Zerstörer groß."


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