SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2008, Seite 21

"Zaofan youli” — Rebellion ist vernünftig!

Über die Faszinationskraft des kulturrevolutionären Maoismus auf die 68er-Bewegung

von Wolfgang Ratzel

"Ich hatte eine kurze Mao-Phase”, sagt Katharina Rutschky, geb. 1941. „Wir waren doch alle Maoisten”, sagt Götz Aly, geb. 1947. Warum ausgerechnet Maoisten?

Faszination meint mehr als Begeisterung. Sie ist wie Liebe auf den ersten Blick. Sie bezaubert, fesselt, „beschreit"; man hört ein Zitat und erschauert. Die Faszination ergreift stets die Person als Ganzes; heilsam bindet sie Fragmentierungen zusammen.
Die Kulturrevolution war die erste Medienrevolution der Geschichte. Ihre globale Faszinationskraft lief über die Brücke wandelbarer Images, das sind „kollektive Projektionen, die sich Menschen vor allem für Objekte erzeugen, bezüglich derer sie über kein direkt zugängliches Wissen oder keinen direkten Kontakt verfügen."
Fasziniert werden kann aber nur, wer selbst fasziniert ist und seine Faszinosa verwirklichen will. Die Mao-Images bezauberten, weil wir 68er in sie projizieren konnten, was wir sehen wollten: Es ist möglich — hier und jetzt!

Grundfaszinosum „Revolutionäre Existenz"

Niemals mehr Abtrennung des alltäglichen vom politischen Leben! Niemals „bloß abstraktes Bekenntnis”! Das ganze Leben sollte bruchlos antisystemisch, kulturrevolutionär, antiautoritär, antibürokratisch, sexualemanzipatorisch sein.
Solche Existenz entwickelte sich in Verhältnissen, die der SDS als „gigantisches System der Manipulation” deutete. Der Spätkapitalismus degenerierte zur Symbiose staatlicher und industrieller Bürokratien in einer „Struktur des Integralen Etatismus": Verfeinerte Manipulationstechniken ergreifen die Seele des Menschen, verinnerlichen die Gewalt der Ausbeutungsbeziehungen samt der „außerökonomische Zwangsgewalt” des Staates. Unter- und Überbau reproduzieren sich mitten im Menschen als Innenbau. Zwar leiden die Massen an Entfremdung und Ausbeutung, doch ihre Widerstandsfähigkeit ist deaktiviert. Dem integrierten Gesamtkapitalisten entsprach eine Gesellschaft der staatlichen Gesamtkaserne. Der Verblendungszusammenhang war komplett — fast! Wo aber war der Riss?
Man glaubte: Der Verwertungsprozess des Kapitals selbst erzeugt den Riss — in Gestalt nicht mehr verwertbarer Systemopfer: Erwerbslose, kranke, überforderte Menschen werden in die Randzonen entlassen; dort verflüchtigen sich die manipulativen Wirkungen der Macht. Der Traum von Emanzipation widersteht der Integration.
Ein weiterer Riss öffnet sich in der Mitte: „Privilegiert-sensible” Menschen begreifen die Zusammenhänge. Für diese galt: Verweigert euch! Bildet „revolutionäre Bewusstseinsgruppen” „Wie kann unter den Bedingungen einer repressiven Befriedigung der materiell elementaren Bedürfnisse das Bedürfnis nach Emanzipation entfaltet werden?” In der direkten Aktion eines Bündnisses zwischen privilegiert-sensiblen Mittelschichten und unterprivilegiert-gequälten Randgruppen.
Die Desintegration des Systems war also möglich: von den Rändern her; durch lokale, organisierte Spontaneität; durch „kleine Räte von Hand- und Kopfarbeitern”

Faszinosum Antizipation

Du sollst das Reich der Freiheit vorwegnehmen! Wo? Überall dort, wo du lebst und arbeitest! „Kritische Gegenuniversität"; jede Wohnung wird zur Kommune; eine Vielzahl von Roten Projekten — Instituts-, Betriebs-, Stadtteilzellen — wuchern zu „befreiten Gebieten”, die weiter in die Gesellschaft wuchern. Freiheit? — Hier ist sie.

Faszinosum Anti-Partei-Bewegung

Das System hockt in den Parteien; es reproduziert sich in der Parteistruktur und vereinnahmt so den Widerstand. Man experimentiert mit „rätedemokratischen Kampforganisationen”, politisch-autonome Abteilungen mit zentraler Koordination. „Wie ist es möglich, eine Organisationsform herauszubilden, die unter den Bedingungen des Zwangs und der Gewalt sowohl autonome Individuen herausbildet, als auch solche, die zu einer bestimmten disziplinären Unterordnung unter die Erfordernisse des Kampfes und unter die Bedingungen des Zwangs fähig sind?"
Hass auf Repräsentation
Wer seine Stimme abgibt, stimmt seiner Fremdbestimmung zu. Wahlen reproduzieren den „Schein von Selbsttätigkeit”, verfestigen „Apathie und Passivität der Massen.” Das Parlament funktioniert als „politischer Markt”, auf dem Klasseninteressen ausgehandelt werden: deshalb APO.

Faszinosum Emanzipation

Primär muss es darum gehen, die Beziehungsverhältnisse der Menschen von Ausbeutung und Entfremdung zu befreien; deshalb müssen die Eigentumsverhältnisse verändert werden. Wer nur die Eigentumsverhältnisse ändert, verhindert nicht „das Elend der Verdinglichung” und „die unpersönliche Knechtschaft der materiellen Produktionsmittel” Ob VEB oder AG — jedes Fließband zerstört den Arbeiter.
Diese Faszinosa konnten an die Images der Kulturrevolution andocken; jene transportierten das Rote Buch, die Mao-Embleme, die Mao-Mode.

Image „Rebellion ist vernünftig"

Die Kulturrevolution kann vom „Innenbau” befreien, weil sie die Seele der Menschen erfasst und damit den ganzen Menschen. Ganz ist er in der Einheit von Studieren, Arbeiten und Kämpfen. Rebelliere gegen entfremdende Abspaltungen, fachidiotische Experten! Schule muss „Halb Arbeit halb Studium” sein, eingebettet in selbst organisierte Kommunen und Betriebe. Lebe antiautoritär, denn Autorität trägt in sich den Keim elitärer Herrschaft! Lebe den ständigen Aufbruch zum Horizont der Möglichkeiten; wähle die Unsicherheit der Erneuerung, verwerfe ein Leben in Strukturen warmgesessener Sicherheit!

Image „Permanente Revolution"

Die Bourgeoisie ist geschlagen, aber nicht besiegt. Sie zielt auf Restauration, und sie entsteht immer aufs Neue, denn sie hat mächtige Verbündete: „die reaktionären bürgerlichen akademischen Autoritäten"; „die alten Ideen, die alte Kultur, die alten Sitten und Gebräuche"; sie lauert in der Bürokratie, versteckt sich in der Elitenherrschaft einer Technokratenklasse; längst sitzt sie mitten in der Kommunistischen Partei. „Gegenwärtig besteht unser Ziel darin, gegen Leute in Machtpositionen, die den kapitalistischen Weg gehen, zu kämpfen und ihnen einen vernichtenden Schlag zu versetzen."
Die Images sagten: Es genügt nicht, die Eigentumsverhältnisse zu verändern; man muss „neue Ideen, eine neue Kultur, neue Sitten und Gebräuche des Proletariats anwenden, um das geistige Antlitz der gesamten Gesellschaft zu ändern."

Image Massenlinie

Die 68er litten schwer unter ihrer Abgetrenntheit von den Massen. Stets wollte man dem Volk dienen, aber das Volk zischte mit hassverzerrtem Gesicht: „Geh doch rüber!” Man blieb Fremdkörper. Der ferne Osten aber war rot! Die Images versprachen die Vereinigung mit dem geliebten Volk, zeigten die wahren Helden: arme Bauern, einfache Arbeiter, vor allem aber die Jugend, die Studierenden. In ihnen wohnte Wahrheit und jene Dynamik, die zur Emanzipation drängt: „In der großen proletarischen Kulturrevolution können die Massen nur selbst sich befreien, und die Methode, in allem für sie zu handeln, darf nicht angewendet werden. Vertraut den Massen, stützt euch auf sie und achtet ihre Initiative. Befreit euch von der Furcht. Habt keine Angst vor Unordnung. Macht den größtmöglichen Gebrauch von den Wandzeitungen mit großen Schriftzeichen und von großen Debatten, um die Dinge auszudiskutieren."

Image Radikaler Egalitarismus

Die 68er fühlten antielitär und radikal-egalitär, man hing an Anti-Autoritäten — wie die Rotgardisten auch. Die Images sagten: Mao ist ein einfacher ping (Soldat); rote Leiter sind keine Machthaber sondern dienen dem Volk; die Armee arbeitet produktiv und schafft Rangabzeichen ab; die Fabrik ebnet Lohnunterschiede und materielle Anreize ein; die Frauen befreien sich; bald sind alle gleich.

Image Anti-Partei-Bewegung

Im Sommer 1965 erkannte Mao: „Ich bin allein mit den Massen” Der Vorsitzende stand ohne Partei da. Sie war in der Hand von Bürokraten — Liu Shaoqi, Deng Xiaoping —, Machthabern, die den kapitalistischen Weg gingen. Die Images sagten: Wir haben die Organisationsfrage gelöst. Die Partei hat nicht immer Recht; sie taugt als Mittel zur Befreiung der Massen; wenn sie verbürokratisiert, wird sie ersetzt; zum Beispiel durch „kulturrevolutionäre Gruppen”

Image Antizipation des Kommunismus

"Es ist notwendig, ein allgemeines Wahlsystem ähnlich dem der Pariser Kommune einzuführen.” Dort, wo Staat war, sollen Volkskommunen werden — nicht am St.Nimmerleinstag, sondern baldmöglichst, jetzt. Von unten nach oben soll der Staat erlöschen; zu einer Ordnung ohne Bürokratie, zu kleinen Strukturen mit Technik von unten: Volkseisenbahn, Volkshochöfen. Die Images sagten: Unser Staat ist Mittel zum Zweck selbst organisierter kommunistischer Verhältnisse.

Image Internationalismus

Die Rettung kommt von den Rändern. Die Städte der Welt — Nordamerika, Westeuropa — sind von den ländlich- bäuerlichen Gebieten eingekreist. Ob die Weltrevolution siegt, „hängt von den revolutionären Kämpfen der asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Völker ab, welche die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung sind.” Die Images sagten: Das rote China ist ein befreites Gebiet im Meer imperialistischer Herrschaft.
Weil alles so bruchlos konvergierte, waren wir Maoisten — zumindest eine Zeitlang.
Heute sind jene Faszinosa und Images verblasst. Zaghaft noch beginnt eine solidarisch- kritische Aufarbeitung aller Teilbewegungen der 68er-Revolution. Hierbei darf nichts verdrängt werden, vor allem nicht die vielen Leichen in den Kellern der Linken.
Was aber bleibt bewahrenswert, was nicht? Für eine neue Linke, die sich den Fragen postmoderner Kapitalismen stellt.


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