SoZ - Sozialistische Zeitung |
Faszination meint mehr als Begeisterung. Sie ist wie Liebe auf den ersten Blick. Sie bezaubert, fesselt, „beschreit";
man hört ein Zitat und erschauert. Die Faszination ergreift stets die Person als Ganzes; heilsam bindet sie Fragmentierungen zusammen.
Die Kulturrevolution war die erste Medienrevolution der Geschichte. Ihre globale
Faszinationskraft lief über die Brücke wandelbarer Images, das sind „kollektive Projektionen, die sich Menschen vor allem für
Objekte erzeugen, bezüglich derer sie über kein direkt zugängliches Wissen oder keinen direkten Kontakt verfügen."
Fasziniert werden kann aber nur, wer selbst fasziniert ist und seine Faszinosa verwirklichen
will. Die Mao-Images bezauberten, weil wir 68er in sie projizieren konnten, was wir sehen wollten: Es ist möglich — hier und jetzt!
Niemals mehr Abtrennung des alltäglichen vom politischen Leben! Niemals „bloß abstraktes Bekenntnis”! Das ganze Leben
sollte bruchlos antisystemisch, kulturrevolutionär, antiautoritär, antibürokratisch, sexualemanzipatorisch sein.
Solche Existenz entwickelte sich in Verhältnissen, die der SDS als
„gigantisches System der Manipulation” deutete. Der Spätkapitalismus degenerierte zur Symbiose staatlicher und industrieller
Bürokratien in einer „Struktur des Integralen Etatismus": Verfeinerte Manipulationstechniken ergreifen die Seele des Menschen,
verinnerlichen die Gewalt der Ausbeutungsbeziehungen samt der „außerökonomische Zwangsgewalt” des Staates. Unter- und
Überbau reproduzieren sich mitten im Menschen als Innenbau. Zwar leiden die Massen an Entfremdung und Ausbeutung, doch ihre
Widerstandsfähigkeit ist deaktiviert. Dem integrierten Gesamtkapitalisten entsprach eine Gesellschaft der staatlichen Gesamtkaserne. Der
Verblendungszusammenhang war komplett — fast! Wo aber war der Riss?
Man glaubte: Der Verwertungsprozess des Kapitals selbst erzeugt den Riss — in
Gestalt nicht mehr verwertbarer Systemopfer: Erwerbslose, kranke, überforderte Menschen werden in die Randzonen entlassen; dort verflüchtigen
sich die manipulativen Wirkungen der Macht. Der Traum von Emanzipation widersteht der Integration.
Ein weiterer Riss öffnet sich in der Mitte: „Privilegiert-sensible”
Menschen begreifen die Zusammenhänge. Für diese galt: Verweigert euch! Bildet „revolutionäre Bewusstseinsgruppen”
„Wie kann unter den Bedingungen einer repressiven Befriedigung der materiell elementaren Bedürfnisse das Bedürfnis nach Emanzipation
entfaltet werden?” In der direkten Aktion eines Bündnisses zwischen privilegiert-sensiblen Mittelschichten und unterprivilegiert-gequälten
Randgruppen.
Die Desintegration des Systems war also möglich: von den Rändern her;
durch lokale, organisierte Spontaneität; durch „kleine Räte von Hand- und Kopfarbeitern”
Du sollst das Reich der Freiheit vorwegnehmen! Wo? Überall dort, wo du lebst und arbeitest! „Kritische Gegenuniversität"; jede
Wohnung wird zur Kommune; eine Vielzahl von Roten Projekten — Instituts-, Betriebs-, Stadtteilzellen — wuchern zu „befreiten
Gebieten”, die weiter in die Gesellschaft wuchern. Freiheit? — Hier ist sie.
Das System hockt in den Parteien; es reproduziert sich in der Parteistruktur und vereinnahmt so den Widerstand. Man experimentiert mit
„rätedemokratischen Kampforganisationen”, politisch-autonome Abteilungen mit zentraler Koordination. „Wie ist es
möglich, eine Organisationsform herauszubilden, die unter den Bedingungen des Zwangs und der Gewalt sowohl autonome Individuen herausbildet, als
auch solche, die zu einer bestimmten disziplinären Unterordnung unter die Erfordernisse des Kampfes und unter die Bedingungen des Zwangs
fähig sind?"
Hass auf Repräsentation
Wer seine Stimme abgibt, stimmt seiner Fremdbestimmung zu. Wahlen reproduzieren den
„Schein von Selbsttätigkeit”, verfestigen „Apathie und Passivität der Massen.” Das Parlament funktioniert als
„politischer Markt”, auf dem Klasseninteressen ausgehandelt werden: deshalb APO.
Primär muss es darum gehen, die Beziehungsverhältnisse der Menschen von Ausbeutung und Entfremdung zu befreien; deshalb
müssen die Eigentumsverhältnisse verändert werden. Wer nur die Eigentumsverhältnisse ändert, verhindert nicht „das
Elend der Verdinglichung” und „die unpersönliche Knechtschaft der materiellen Produktionsmittel” Ob VEB oder AG —
jedes Fließband zerstört den Arbeiter.
Diese Faszinosa konnten an die Images der Kulturrevolution andocken; jene transportierten
das Rote Buch, die Mao-Embleme, die Mao-Mode.
Die Kulturrevolution kann vom „Innenbau” befreien, weil sie die Seele der Menschen erfasst und damit den ganzen Menschen. Ganz ist er
in der Einheit von Studieren, Arbeiten und Kämpfen. Rebelliere gegen entfremdende Abspaltungen, fachidiotische Experten! Schule muss „Halb
Arbeit halb Studium” sein, eingebettet in selbst organisierte Kommunen und Betriebe. Lebe antiautoritär, denn Autorität trägt in sich
den Keim elitärer Herrschaft! Lebe den ständigen Aufbruch zum Horizont der Möglichkeiten; wähle die Unsicherheit der Erneuerung,
verwerfe ein Leben in Strukturen warmgesessener Sicherheit!
Die Bourgeoisie ist geschlagen, aber nicht besiegt. Sie zielt auf Restauration, und sie entsteht immer aufs Neue, denn sie hat mächtige
Verbündete: „die reaktionären bürgerlichen akademischen Autoritäten"; „die alten Ideen, die alte Kultur, die alten
Sitten und Gebräuche"; sie lauert in der Bürokratie, versteckt sich in der Elitenherrschaft einer Technokratenklasse; längst sitzt sie
mitten in der Kommunistischen Partei. „Gegenwärtig besteht unser Ziel darin, gegen Leute in Machtpositionen, die den kapitalistischen Weg
gehen, zu kämpfen und ihnen einen vernichtenden Schlag zu versetzen."
Die Images sagten: Es genügt nicht, die Eigentumsverhältnisse zu
verändern; man muss „neue Ideen, eine neue Kultur, neue Sitten und Gebräuche des Proletariats anwenden, um das geistige Antlitz der
gesamten Gesellschaft zu ändern."
Die 68er litten schwer unter ihrer Abgetrenntheit von den Massen. Stets wollte man dem Volk dienen, aber das Volk zischte mit hassverzerrtem Gesicht:
„Geh doch rüber!” Man blieb Fremdkörper. Der ferne Osten aber war rot! Die Images versprachen die Vereinigung mit dem
geliebten Volk, zeigten die wahren Helden: arme Bauern, einfache Arbeiter, vor allem aber die Jugend, die Studierenden. In ihnen wohnte Wahrheit und jene
Dynamik, die zur Emanzipation drängt: „In der großen proletarischen Kulturrevolution können die Massen nur selbst sich befreien,
und die Methode, in allem für sie zu handeln, darf nicht angewendet werden. Vertraut den Massen, stützt euch auf sie und achtet ihre Initiative.
Befreit euch von der Furcht. Habt keine Angst vor Unordnung. Macht den größtmöglichen Gebrauch von den Wandzeitungen mit
großen Schriftzeichen und von großen Debatten, um die Dinge auszudiskutieren."
Die 68er fühlten antielitär und radikal-egalitär, man hing an Anti-Autoritäten — wie die Rotgardisten auch. Die Images
sagten: Mao ist ein einfacher ping (Soldat); rote Leiter sind keine Machthaber sondern dienen dem Volk; die Armee arbeitet produktiv und schafft
Rangabzeichen ab; die Fabrik ebnet Lohnunterschiede und materielle Anreize ein; die Frauen befreien sich; bald sind alle gleich.
Im Sommer 1965 erkannte Mao: „Ich bin allein mit den Massen” Der Vorsitzende stand ohne Partei da. Sie war in der Hand von
Bürokraten — Liu Shaoqi, Deng Xiaoping —, Machthabern, die den kapitalistischen Weg gingen. Die Images sagten: Wir haben die
Organisationsfrage gelöst. Die Partei hat nicht immer Recht; sie taugt als Mittel zur Befreiung der Massen; wenn sie verbürokratisiert, wird sie
ersetzt; zum Beispiel durch „kulturrevolutionäre Gruppen”
"Es ist notwendig, ein allgemeines Wahlsystem ähnlich dem der Pariser Kommune einzuführen.” Dort, wo Staat war, sollen
Volkskommunen werden — nicht am St.Nimmerleinstag, sondern baldmöglichst, jetzt. Von unten nach oben soll der Staat erlöschen; zu
einer Ordnung ohne Bürokratie, zu kleinen Strukturen mit Technik von unten: Volkseisenbahn, Volkshochöfen. Die Images sagten: Unser Staat ist
Mittel zum Zweck selbst organisierter kommunistischer Verhältnisse.
Die Rettung kommt von den Rändern. Die Städte der Welt — Nordamerika, Westeuropa — sind von den ländlich-
bäuerlichen Gebieten eingekreist. Ob die Weltrevolution siegt, „hängt von den revolutionären Kämpfen der asiatischen,
afrikanischen und lateinamerikanischen Völker ab, welche die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung sind.” Die
Images sagten: Das rote China ist ein befreites Gebiet im Meer imperialistischer Herrschaft.
Weil alles so bruchlos konvergierte, waren wir Maoisten — zumindest eine Zeitlang.
Heute sind jene Faszinosa und Images verblasst. Zaghaft noch beginnt eine solidarisch-
kritische Aufarbeitung aller Teilbewegungen der 68er-Revolution. Hierbei darf nichts verdrängt werden, vor allem nicht die vielen Leichen in den Kellern
der Linken.
Was aber bleibt bewahrenswert, was nicht? Für eine neue Linke, die sich den Fragen
postmoderner Kapitalismen stellt.
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