SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2008, Seite 03

Verstaatlichung.

Damit die Welt bleibt wie sie ist.

von RAINER RILLING

Sozialismus, das ist, wenn Banken ohne Kompensation nationalisiert werden, schrieb jüngst voyou in seinem Blog. Das ist romantisch, hat aber eine Wahrheit. Dass die Linke Recht hatte damit, dass das neoliberale Entwicklungsmodell unhaltbar ist, ist leider kein Anlass zur Freude. Krisen öffnen zwar — aber sie vermehren vorweg das Elend. Die Krisenlösung, die jetzt geschieht, stärkt nicht das Öffentliche, sondern schwächt es.
Die Banker und ihre relativ selbstständig agierenden Staatsrepräsentanten versuchen natürlich, die Krise zu nutzen, um die öffentlichen Haushalte zu plündern und sie mit dem Aufkauf „fauler” und „vergifteter” Papiere in den größten Abfalleimer der Weltgeschichte zu verwandeln. Die Banken sollen mit öffentlichen Mitteln rekapitalisiert werden. Je mehr „Finanz-Tsunami” (AIG-Chef Martin Sullivan), desto mehr öffentliches Geld gibt es. Woher kommt bspw. die Größe „700 Milliarden Dollar”, um die in den USA zwei Wochen lang gestritten wurde? „It‘s not based on any particular data point”, erklärte die Sprecherin des US-Schatzamts. „Sie stützt sich nicht auf konkrete Daten. Wir wollten nur eine richtig große Zahl nennen.” Der Staat wirft mit Geld, that‘s all.
Nicht zu vergessen, wie die Sinns, Koppers und Straubhaars von Staatsversagen, Unfällen und Bereinigungskrisen reden und die Hände mit ihren eigenen Krokodilstränen in Unschuld waschen. „Ich selbst bin seit langem überzeugt, dass die Regulierung zu lasch ist ... Die jetzige Krise wäre im Übrigen vermeidbar gewesen. Sie basiert nicht auf einem grundsätzlichen Fehler des Kapitalismus, sondern liegt viel mehr in der Regulierung des amerikanischen Finanzsystems ... Ich habe das nie für gesund gehalten” (Hans-Werner Sinn in der FAZ vom 12.10.2008). Oder: „Wir wissen doch alle, dass diese extrem hohen Gehälter uns keine Freude machen” (Hilmar Kopper, Die Zeit). Ein Jammer, echt.
Es geht also nicht um die Refinanzierung der wirklich Enteigneten, nicht um die Ausgabe gesellschaftlichen Kapitals für die öffentliche Infrastruktur, sinnvollen gesellschaftlichen Konsum usw. Nicht darum, die Rentner und Alten zu unterstützen, deren private Altersvorsorge sich mit dem Absturz der Finanzmärkte in Luft auflöst. Die US-Pensionsfonds haben in den letzten 15 Monaten über zwei Billionen Dollar an Wert verloren, was bedeutet: Wer noch Arbeit hat, muss länger und für weniger Geld arbeiten, wer keine Arbeit hat, verelendet schneller und gründlicher. Rund ein Drittel des angelegten Vermögens der Welt steckt in den Pensionsfonds (so Michael Schlecht in der Frankfurter Rundschau vom 9.10.2008).

Grundlinien der Krisenpolitik

Auf die Frage nach den Grundlinien der herrschenden Politik in dieser Krise gibt es vier Antworten.
Erstens haben alte Ideologien und die Pflege der Umverteilung Priorität. Dabei geht es um Umverteilung global. Die verkehrte Welt soll bleiben, wie sie ist: Investoren und Profite zuerst. Das muss nur besser vermarktet werden.
Der zweite große Gedanke ist die Beförderung und Garantie der finanzmarktgetriebenen Akkumulation durch Liquiditätssicherung und Säuberung des Marktes von „vergifteten” Papieren. Wenn verstaatlicht werden muss, dann zum Zweck der Rekapitalisierung, damit der Galopp in die Insolvenz gestoppt wird. Auf der letzteren Ebene agieren Zentralbanken und Finanzministerien, bald auch Wirtschaftsministerien mit ihren Konjunkturprogrammen. Die Finanzmärkte sind von 4 Billionen Dollar in 1980 auf über 100 Billionen Dollar angeschwollen. Die Kunst der Anlage und Aufblähung stieg zur gefragtesten Fertigkeit in der Welt der Ökonomie auf. Nun geht es darum, auf die verselbständigte „Selbstregulierung” der neoliberalen Finanzökonomie wieder eine schwere Staatshand zu legen. Es bedarf der Regeln, das sehen (fast) alle ein. Sie sind aber nicht zweckfrei. Sie sollen den Eigentümern helfen, reicher zu werden.
Wenn die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 5.10.2008 titelt „Der Staat rettet den Kapitalismus”, dann geht es in Wirklichkeit um die Mobilisierung des Staates zur Reorganisation eines tief gestürzten Neoliberalismus — mit Rettungsfonds, Verstaatlichung, Verlustübernahmen, Bürgschaften, Regulierungspolitik. Der Staat ist wieder da? War er denn mal weg? Keineswegs. Nun soll er den radikalen Marktliberalismus retten.
Die dritte — zunehmend untergeordnete — Maxime ist die Sicherung der Macht der Finanzmärkte und ihrer Repräsentanten. Mittlerweile ist ein beträchtlicher Teil der herrschenden Klassen in der Welt und auch ihres Geldadels ziemlich sauer über das Desaster, das die Finanzjongleure da angestellt haben — seit 1989 hat niemand so viel Sand ins Getriebe des modernen Kapitalismus gestreut wie die Fondsakrobaten und Hegdefondsverwalter. Hier sind die Reaktionen jedoch recht uneinheitlich — für die britische und deutsche politische Klasse gilt der Kurs der möglichst schwachen Intervention, also Teilverstaatlichung ohne Kontrollbefugnisse. In den Worten des Finanzministers Alistair Darling: „Wir verstaatlichen die Banken nicht, und wir wollen auch keine öffentliche Kontrolle.” Stimmrechtslose Aktien sozusagen. Da ist es wieder: Diese politische Klasse ist eine Dienstklasse. Nur wenige Milliardäre unter ihnen gehören zugleich zu den Herren wie Blumberg, Berlusconi oder Dassault.
Und endlich soll dies alles viertens so arrangiert werden, dass die Gesellschaft, auf die es ankommt, und ihre Politik ordentlich zusammenhalten. „Bedroht”, so schrieb die FAZ am 14.10.08, „war auch die Stabilität der politischen Ordnung ... stand die Welt am Abgrund der allgemeinen Zahlungsfähigkeit.” Man verspricht Einlagegarantien und Return der Steuergelder.

Das Ende der Wall Street, wie wir sie kannten

Im Moment scheint nur die Sache mit der Umverteilung richtig gut zu laufen, und auch die schwere Staatshand ist unterwegs und wird noch kräftig gefordert werden — bis, am Ende, womöglich der autoritäre Kapitalismus einen globalen Auftritt hat. Der Kampf darum ist in den herrschenden Eliten voll im Gange. Das Ende der Wall Street, wie wir sie kannten, ist evident. Die Struktur und Konzentration im amerikanischen Bankenkapital haben sich schlagartig verändert. Die asiatischen Banken haben ihre Stellung im internationalen Finanzsystem dramatisch verbessert. Während der US-Finanzminister auf die Knie fiel, spazierten chinesische Astronauten im Weltraum herum.
Dass der US-Dollar seine Eigenschaft als Leitwährung verliert, ist ein Stück wahrscheinlicher geworden. Noch wahrscheinlicher aber scheint, dass sich mit der Finanzkrise die Laufzeit einer speziellen, hochriskanten und dramatisch unsozialen Variante des Kapitalismus unerwartet flott verkürzt hat. Seit 2006/07 sind die zentralen Apparate des radikalen Marktliberalismus — die Banken, Investoren, Ratingagenturen, auf den neoliberalen Kurs eingeschworenen Finanz- bzw. Wirtschaftsministerien und der ganze Sektor der Schattenbanken immer mehr außer Tritt geraten. Die Kreditmärkte verabschiedeten sich, die Banken stoppten die wechselseitige Kreditierung, das Interbankengeschäft wurde spekulativ durchlöchert, also teurer.
Und endlich und vor allem: Die Finanzierung des Unternehmenssektors bricht stückweise zusammen. Hier geht es nun an das Herz des Finanzsystems. Sicher: Bislang geht um Krise, nicht um Kollaps, selbst wenn über zwei Billionen Dollar fiktives Kapital vernichtet wurden. Doch die Krise ist immer noch auf dem Weg, mit jener von 1929 zu konkurrieren. Die zentralen Ursachen der Krise in den USA — die Verschuldung der Haushalte und des Finanzsektors — werden durch die bisherigen Aktivitäten kaum angegangen. Im September dieses Jahres stieg die Verschuldung, die beim Amtsantritt von Bush II bei 5,7 Billionen Dollar lag, auf über 10 Billionen Dollar (ohne das Rettungspaket). Das Haushaltsdefizit der USA stieg zwischen 2006 und 2007 von 162 Milliarden auf 455 Milliarden Dollar. Schätzungen für 2009 liegen zwischen 750 Milliarden und einer Billion (FAZ, 16.10.2008).
Das Krisenmanagement wird auch noch im nächsten Jahr weithin das Bild beherrschen. Parallel dazu wird der Aufbau einer Finanzarchitektur beginnen, also eine Re-Regulierung der Finanzmärkte. Jene Bereiche der Finanzpraxis, die — wie weite Bereiche der Hedgefonds und des Derivathandels — bislang einer solchen Regulierung faktisch entzogen sind, werden in sie einbezogen werden.
Der alte liberale (Nicht-)Interventionismus ist zu Ende. Die politische Konstituierung der Märkte wird expandieren. Staatskapitalistisches Eigentum wird aufgewertet werden — inwieweit und wie stark es Merkmale des öffentlichen oder gesellschaftlichen Eigentums entwickeln wird, hängt von den Kämpfen um den politischen und sozialen Charakter dieses Eigentum ab. Das Übergreifen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft provoziert immer heftiger Konjunkturprogramme, die anders als in der Zeit des radikalen Marktliberalismus in unterschiedlichem Maß auch Momente der Umverteilung nach unten anrufen. Das Maastricht-Diktat der Begrenzung der Staatsschulden ist binnen weniger Wochen perdü. Doch es bleibt ein Grundproblem: Insbesondere amerikanische Großbanken sind zu groß geworden, um sie wie Lehmann Brothers pleite gehen zu lassen, aber auch zu groß um sie zu retten, ohne den Staatsbankrott zu riskieren.

Ende einer Ära

Und die Stellung der USA? Drei Märkte sind den USA als Bastionen ihres Empire verblieben: der Finanzmarkt, dessen Stellung sprunghaft gemindert wird; der Markt der militärischen Macht, in dem sie seit 1945 unbestritten dominieren, dessen politische Effizienz aber kontinuierlich sinkt; und der Markt der von ihnen vor über einem Jahrhundert erfundenen Konsumgesellschaft — da verlieren sie täglich an Boden gegenüber dem chinesischen Konkurrenten. Es ist nicht erkennbar, dass aus den unmittelbaren Sprösslingen der Dot-Com-Blase — der Immobilien- und Kreditblase — eine neue eigene Akkumulationsperspektive entstanden wäre. Die Perspektiven des American Empire beginnen sich zu verdüstern. John Gray schreibt im Guardian vom 28.9.2008: „Die Ära der amerikanischen Global leadership, die bis zum Zweiten Weltkrieg zurückreicht, ist vorbei."
Wie verhindert die Linke einen selbstmörderischen Linksetatismus? Wie setzt sie praktikable Differenzen in der Staatlichkeit und zu ihr? Bislang plädiert sie für einen stärkeren Interventionismus in den Finanzmarkt und massive Umverteilung nach unten. Radikale Realpolitik aber geht auf mehr: Garantie der sozialen Infrastruktur und der globalen sozialen Rechte. Wenn mit Billionen der Finanzmarkt garantiert werden kann, dann kann auch soziale Gleichheit garantiert werden.

Der Autor unterrichtet Soziologie an der Universität Marburg




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