SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2008, Seite 08

Der Senat ist nackt

SPD und LINKE vereiteln Kita-Volksbegehren in Berlin

von JOCHEN GESTER

In der Berliner Landespolitik wird gerade ein denkwürdiges Stück aufgeführt. Dabei geht es um Bildung und Erziehung, aber auch um Demokratie, um die Frage, wie viel direkte Einflussnahme der Bevölkerung in der real existierenden Demokratie erlaubt wird.
Die vollmundigen Erklärungen aller Parteien über die überragende Bedeutung der Bildung für die Zukunft der Gesellschaft sind Legion. Doch auch Bildung will finanziert sein; und nicht erst in der Schule, sondern auch schon bei Kleinkindern. Gerade in dieser Altersphase werden die Grundlagen für die spätere Entwicklung gelegt.
Verschiedene Pisa-Studien weisen darauf hin, dass hier zu wenig passiert und die soziale Selektion in Deutschland so scharf ist wie sonst nirgends in Europa. Der Berliner Senat ist auf diesem Gebiet nicht untätig, doch die Haushaltspolitik, die sich parteiübergreifend dem „Sparen bis es quietscht” (Sarrazin) verschrieben hat, bremst das Tempo für reale Verbesserungen enorm. Der Senat ist keineswegs mittellos, aber er hat andere Prioritäten.
Dies wollen viele Eltern nun nicht mehr hinnehmen. Eine Umfrage des Landeselternausschusses im vergangenen Jahr hatte ergeben, dass in 94% der Einrichtungen Personal fehlt.
Die Folgen sind fatal: Ausflüge werden gestrichen, Sprachlerntagebücher nicht geführt, sogar das regelmäßige Wechseln der Windeln ist in 22% der Einrichtungen nicht mehr gewährleistet. „Wir hören auch heute noch immer wieder, dass 60 Kinder von zwei Erzieherinnen betreut werden”, sagt der Sprecher des Ausschusses, Burkhard Entrup.
Seit einem Jahr gibt es das Berliner Kitabündnis. Mitbegründer sind unter anderem alle Eigenbetriebe der städtischen Kitas, die Gewerkschaften und der Dachverband der freien Träger. Zentrale Forderung des Bündnisses ist ein verbesserter Personalschlüssel bei den Kita-Beschäftigten. Bewegt hat sich bisher jedoch wenig.
Dies zu ändern und die Situation in den Kitas erkennbar zu verbessern, ist das Ziel eines Volksbegehrens, das der Landeselternausschuss zu Beginn dieses Jahres angestoßen hat. Mit im Boot sitzt die gesamte parlamentarische Opposition: Grüne, FDP, CDU — Parteien also, die mit der Logik der Sarrazin‘schen Haushaltspolitik eigentlich im Reinen sind. Sie wollen die Schwäche des politischen Gegners nutzen, die jetzt durch die Aktivitäten der organisierten Elternschaft entstanden ist.
Die Initiative will die Bildungsqualität in den Kitas durch über 2400 zusätzliche pädagogische Fachkräfte verbessern. Deshalb sollen die Kitagruppen etwas kleiner werden. Zudem sollen alle deutschsprachigen Kinder ab drei Jahren sieben Stunden Kitazeit (bisher fünf Stunden) ohne Bedarfsprüfung erhalten.
Für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache soll dies schon ab zwei Jahren gelten. Der Leiter oder die Leiterin einer Kita soll bereits freigestellt werden, wenn hundert Kinder in der Kita sind. Das hatte die „rot-rote Landesregierung” erst vor wenigen Jahren abgeschafft.
Den Antrag auf ein Volksbegehren haben mehr als dreimal soviel Menschen unterschrieben wie erforderlich ist: 66181. Die Zahl übertrifft auch deutlich die gesammelten Unterschriften vorhergehender Volksbegehrensinitiativen.
Sie ist um so erstaunlicher, als das Thema „frühkindliche Erziehung und Bildung” nicht in erster Linie von Wirtschaftsinteressen getrieben ist, keine wirtschaftlichen Lobbyisten dahinterstehen und die Initiative finanzieren, sondern Eltern, die sich um die Betreuung und Förderung ihrer Kinder sorgen.
Der „rot-rote” Senat hätte die Initiative dankbar übernehmen und daraus eine Gesetzesinitiative schneidern können. Doch er hat sich anders entschieden; er hat das Bürgerbegehren mit einer Begründung abgelehnt, die allen Konservativen das Herz erwärmt: Die „verfassungsrechtliche Erheblichkeitsschwelle” sei beim Forderungsvolumen der Volksinitiative überschritten worden. Es würde die „Budgethoheit des Parlaments” aushebeln.
Formell liegt diese Schwelle nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei tatsächlich denkwürdigen 0,5% des gesamten Haushaltsvolumens. Doch nicht einmal das überzeugt. Der Landeselternausschuss kommt nämlich bei seinen Berechnungen zum Ergebnis, dass das Forderungsvolumen der Initiative mit 0,48% unterhalb der 0,5% liegt.
So steht der „rot-rote” Senat ziemlich nackt da. Das betrifft nicht nur seinen Einsatz für bildungspolitische Ziele sondern auch seine Glaubwürdigkeit in Sachen demokratischer Partizipation. SPD und DIE LINKE bekämpfen in Berlin die Vereinfachung von Volksbegehren nicht, wie aktuell die CDU in Thüringen, mit offenem Visier. Sie sorgen nur dafür, dass sie im Sande verlaufen, wenn sie wirklich etwas bewegen könnten.
Die Landeselternvertretung ist jedoch nicht bereit, sich der Logik zu beugen: „Das Volk darf entscheiden — nur nicht über Geld” Sie will sich weiter engagieren. Unter anderem will sie das Berliner Verfassungsgericht anrufen.


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