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Am 9.April ging einer der längsten und härtesten
Arbeitskonflikte der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende. Nach 30 Tagen gewannen die
430 Arbeiter der Frachtabteilung der Schweizer Bundesbahn (SBB) in Bellinzona (Tessin) ihren
Kampf gegen die Direktion (siehe SoZ 5/08).
In Aussicht gestellt wurde
damals ein Aktionsprogramm zur Rettung des Werks (das im Juni beschlossen wurde) sowie die
Einrichtung eines Runden Tisches, an dem Vertreter der Bundespolitik, die SBB, das
Streikkomitee, die Eisenbahngewerkschaft und die Gewerkschaft Unia über dessen Umsetzung
diskutieren. Der vierte Runde Tisch fand im September statt.
Am 12.September erfuhr ich
über Umwege von einem Treffen mit Seminarcharakter des Streikkomitees des SBB-Industrie-
Werks in Bellinzona (Tessin). Einzelne Medien hatten berichtet, dass sich in Bellinzona die
Belegschaft des SBB-Werks gegen den Abbau ihrer Arbeitsplätze zur Wehr setzte.
Die
„unabhängigen” Medien schrieben aber auch nur das, was sie bekannt werden
lassen wollten. Keine Rede davon, dass es sich um einen „wilden”, sprich
gewerkschaftsunabhängigen Streik handelte. Das erfuhr ich erst von politischen
Unterstützern. Zusätzliche Recherche brachte weitere Informationen zutage. Unter
anderem waren bei Youtube die beeindruckenden Demonstrationen zu sehen, auch dass die Gleise
der wichtigen Nord-Süd-Verbindung (Gotthardstrecke) blockiert wurden. Lokführer
solidarisierten sich akustisch mit den Streikenden. Weichen wurden von den Streikenden
zugeschweißt, damit kein Waggon, keine Lok ihr Werk verlassen konnte.
31 Tage lang besetzten die
Streikenden das Werk. Eine Belegschaft gab sich nicht dem Schicksal hin, das das Unternehmen
für sie vorgesehen hatte. Auf der Hinfahrt nach Bellinzona wurde mir immer klarer, welch
rebellische Kollegen ich treffen würde.
Unterwegs stiegen junge
Aktivisten vom Aufbau aus Zürich in den Zug ein. Über sie war der Kontakt zu dem
Treffen und dem Streikkomitee entstanden. Im Zug tauschten wir viele Informationen und
Hintergründe aus, ich berichtete von den Aktivitäten der Gruppe Standpunkt aus
Berlin. Organisatoren des Treffens, Mitglieder und Funktionäre der Gewerkschaft Unia,
empfingen uns in Bellinzona.
Die Unia wurde nicht erst
aktiv, als die Kollegen des Werks Bellinzona in den Streik traten. Sie war eine tragende
Stütze des Streiks und ist dabei, ein Netzwerk aufzubauen, das die Erfahrungen der
Officina Bellinzona ins Land hinaus tragen soll.
Auf dem Treffen am
20.September wurde vermittelt, wie es zu dem „wilden” Streik gegen den
Belegschaftsabbau gekommen war. Schon Jahre zuvor hatte sich im Werk Bellinzona eine
Basisgruppe gebildet. Die Beschäftigten machten hier ihrer Unzufriedenheit über die
unternehmensfreundlichen Gewerkschaften Luft; in Scharen kehrten sie ihnen den Rücken.
Viele fanden in der kämpferischen Gewerkschaft Unia einen neuen Halt, und das, obwohl die
Unia bei der Schweizer Bundesbahn kein Verhandlungspartner war und ist. Die Unia-Kollegen
schauen nicht danach, ob ein Beschäftigter in ihr Konzept passt, sondern ob sie den
Beschäftigten in ihrem Konflikt helfen können.
Charakteristisch für den
Arbeitskampf ist, dass die Streikenden trotz der Unterstützung durch die Unia ihre
Unabhängigkeit gegen jeden Einfluss von Parteien, Gewerkschaften und anderen
Organisationen verteidigten. So wurde das Streikkomitee von den Kollegen des Werks Bellinzona
selber gewählt. Nicht das Gewerkschafts- oder Parteibuch, sondern allein die Kompetenz
der Beschäftigten in den Augen ihrer Kollegen entschied darüber, wer in das
Streikkomitee gewählt wurde. So war es wohl auch ein Zeichen des Danks für
jahrelange Basisarbeit, dass gerade die im ganzen Werk bekannten Kollegen in das Streikkomitee
gewählt wurden.
Zum Treffen waren auch
Kollegen von INNSE (Werkzeugmaschinen) aus Mailand eingeladen, die ihr Werk besetzten und ohne
Boss weiter produzierten. Eindrücklich berichteten sie über ihren Kampf und dem
Gegenwind, dem sie ausgesetzt sind. Sie hatten nicht, wie in Bellinzona, die
Unterstützung der Bevölkerung und der regionalen Politik auf ihrer Seite. Dennoch
konnten dort durch eine breite Öffentlichkeitsarbeit etwa 600 Arbeitsplätze erhalten
werden.
Für die Region Bellinzona
hängt vom Weiterbestand des Werks viel ab. Deshalb hatten sich an den Demonstrationen bis
zu 15000 Menschen aus der Region beteiligt. Zum Ausgleich für fehlende Streikgelder
wurden in der gesamten Schweiz 1,5 Millionen Franken gesammelt. Damit stand der Streik auf
festem Boden. Die Familien, insbesondere die Frauen der Beschäftigten des Werks
Bellinzona, waren sehr eng in den Kampf einbezogen. Bis heute gibt es eine Theatergruppe der
Frauen der Beschäftigten, die ihre Proben in den Werkhallen des SBB-Industriewerks
Bellinzona durchführen und dort ihr Programm abhalten.
Während des Streiks kam
es auch zu Auseinandersetzungen mit denjenigen Kollegen, die nicht immer vom Streik
überzeugt waren. Weil diese Diskussion jedoch auf den Streikversammlungen offen
ausgetragen wurde, konnte die Geschlossenheit immer wieder hergestellt werden.
Das Streikkomitee nimmt im
Auftrag der und nach ständiger Rücksprache mit den Beschäftigten am Runden
Tisch teil. Weder die Politiker noch die offiziellen Eisenbahngewerkschaften dürfen
während des Runden Tisches Abkommen unterschreiben oder Verträge abschließen,
solange das Streikkomitee dem nicht zugestimmt hat. Bei einem Bruch dieser Vereinbarung
würde das Streikkomitee sofort eine Betriebsversammlung einberufen und über die
Wiederaufnahme des Streik abstimmen.
Es ist wichtig, diese
Erfahrungen zu verbreiten, damit nicht nur eine Officina, sondern zwei, drei, hunderte
Officine entstehen können.
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