SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2008, Seite 09

SBB-Werkstatt Bellinzona (Schweiz)

Belegschaft besteht auf Mitspracherecht

von UWE KRUG

Am 9.April ging einer der längsten und härtesten Arbeitskonflikte der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende. Nach 30 Tagen gewannen die 430 Arbeiter der Frachtabteilung der Schweizer Bundesbahn (SBB) in Bellinzona (Tessin) ihren Kampf gegen die Direktion (siehe SoZ 5/08).
In Aussicht gestellt wurde damals ein Aktionsprogramm zur Rettung des Werks (das im Juni beschlossen wurde) sowie die Einrichtung eines Runden Tisches, an dem Vertreter der Bundespolitik, die SBB, das Streikkomitee, die Eisenbahngewerkschaft und die Gewerkschaft Unia über dessen Umsetzung diskutieren. Der vierte Runde Tisch fand im September statt.
Am 12.September erfuhr ich über Umwege von einem Treffen mit Seminarcharakter des Streikkomitees des SBB-Industrie- Werks in Bellinzona (Tessin). Einzelne Medien hatten berichtet, dass sich in Bellinzona die Belegschaft des SBB-Werks gegen den Abbau ihrer Arbeitsplätze zur Wehr setzte.
Die „unabhängigen” Medien schrieben aber auch nur das, was sie bekannt werden lassen wollten. Keine Rede davon, dass es sich um einen „wilden”, sprich gewerkschaftsunabhängigen Streik handelte. Das erfuhr ich erst von politischen Unterstützern. Zusätzliche Recherche brachte weitere Informationen zutage. Unter anderem waren bei Youtube die beeindruckenden Demonstrationen zu sehen, auch dass die Gleise der wichtigen Nord-Süd-Verbindung (Gotthardstrecke) blockiert wurden. Lokführer solidarisierten sich akustisch mit den Streikenden. Weichen wurden von den Streikenden zugeschweißt, damit kein Waggon, keine Lok ihr Werk verlassen konnte.
31 Tage lang besetzten die Streikenden das Werk. Eine Belegschaft gab sich nicht dem Schicksal hin, das das Unternehmen für sie vorgesehen hatte. Auf der Hinfahrt nach Bellinzona wurde mir immer klarer, welch rebellische Kollegen ich treffen würde.
Unterwegs stiegen junge Aktivisten vom Aufbau aus Zürich in den Zug ein. Über sie war der Kontakt zu dem Treffen und dem Streikkomitee entstanden. Im Zug tauschten wir viele Informationen und Hintergründe aus, ich berichtete von den Aktivitäten der Gruppe Standpunkt aus Berlin. Organisatoren des Treffens, Mitglieder und Funktionäre der Gewerkschaft Unia, empfingen uns in Bellinzona.
Die Unia wurde nicht erst aktiv, als die Kollegen des Werks Bellinzona in den Streik traten. Sie war eine tragende Stütze des Streiks und ist dabei, ein Netzwerk aufzubauen, das die Erfahrungen der Officina Bellinzona ins Land hinaus tragen soll.
Auf dem Treffen am 20.September wurde vermittelt, wie es zu dem „wilden” Streik gegen den Belegschaftsabbau gekommen war. Schon Jahre zuvor hatte sich im Werk Bellinzona eine Basisgruppe gebildet. Die Beschäftigten machten hier ihrer Unzufriedenheit über die unternehmensfreundlichen Gewerkschaften Luft; in Scharen kehrten sie ihnen den Rücken. Viele fanden in der kämpferischen Gewerkschaft Unia einen neuen Halt, und das, obwohl die Unia bei der Schweizer Bundesbahn kein Verhandlungspartner war und ist. Die Unia-Kollegen schauen nicht danach, ob ein Beschäftigter in ihr Konzept passt, sondern ob sie den Beschäftigten in ihrem Konflikt helfen können.
Charakteristisch für den Arbeitskampf ist, dass die Streikenden trotz der Unterstützung durch die Unia ihre Unabhängigkeit gegen jeden Einfluss von Parteien, Gewerkschaften und anderen Organisationen verteidigten. So wurde das Streikkomitee von den Kollegen des Werks Bellinzona selber gewählt. Nicht das Gewerkschafts- oder Parteibuch, sondern allein die Kompetenz der Beschäftigten in den Augen ihrer Kollegen entschied darüber, wer in das Streikkomitee gewählt wurde. So war es wohl auch ein Zeichen des Danks für jahrelange Basisarbeit, dass gerade die im ganzen Werk bekannten Kollegen in das Streikkomitee gewählt wurden.
Zum Treffen waren auch Kollegen von INNSE (Werkzeugmaschinen) aus Mailand eingeladen, die ihr Werk besetzten und ohne Boss weiter produzierten. Eindrücklich berichteten sie über ihren Kampf und dem Gegenwind, dem sie ausgesetzt sind. Sie hatten nicht, wie in Bellinzona, die Unterstützung der Bevölkerung und der regionalen Politik auf ihrer Seite. Dennoch konnten dort durch eine breite Öffentlichkeitsarbeit etwa 600 Arbeitsplätze erhalten werden.
Für die Region Bellinzona hängt vom Weiterbestand des Werks viel ab. Deshalb hatten sich an den Demonstrationen bis zu 15000 Menschen aus der Region beteiligt. Zum Ausgleich für fehlende Streikgelder wurden in der gesamten Schweiz 1,5 Millionen Franken gesammelt. Damit stand der Streik auf festem Boden. Die Familien, insbesondere die Frauen der Beschäftigten des Werks Bellinzona, waren sehr eng in den Kampf einbezogen. Bis heute gibt es eine Theatergruppe der Frauen der Beschäftigten, die ihre Proben in den Werkhallen des SBB-Industriewerks Bellinzona durchführen und dort ihr Programm abhalten.
Während des Streiks kam es auch zu Auseinandersetzungen mit denjenigen Kollegen, die nicht immer vom Streik überzeugt waren. Weil diese Diskussion jedoch auf den Streikversammlungen offen ausgetragen wurde, konnte die Geschlossenheit immer wieder hergestellt werden.
Das Streikkomitee nimmt im Auftrag der und nach ständiger Rücksprache mit den Beschäftigten am Runden Tisch teil. Weder die Politiker noch die offiziellen Eisenbahngewerkschaften dürfen während des Runden Tisches Abkommen unterschreiben oder Verträge abschließen, solange das Streikkomitee dem nicht zugestimmt hat. Bei einem Bruch dieser Vereinbarung würde das Streikkomitee sofort eine Betriebsversammlung einberufen und über die Wiederaufnahme des Streik abstimmen.
Es ist wichtig, diese Erfahrungen zu verbreiten, damit nicht nur eine Officina, sondern zwei, drei, hunderte Officine entstehen können.

Info Der Autor ist Mitglied der Gruppe Standpunkt, die von Berliner Eisenbahnern getragen wird.




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