SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2008, Seite 12

Mehr als eine Rezession

Das neoliberale Wirtschaftsmodell ist am Ende

von JOEL GEIER

Wir befinden uns an einem wichtigen Wendepunkt. Die jetzt stattfindende Rezession bedeutet das Ende eines 25-jährigen Wirtschaftswachstums, das auf dem neoliberalen Modell basierte.
Vor einer Generation — nach dem langen Nachkriegsboom und dem Beginn der Krise in den 70er Jahren — wurden neoliberale Maßnahmen eingeführt, um die kapitalistische Rentabilität wiederherzustellen. Sie nannten sich „Angebotsökonomie” — dazu gehörten Steuersenkungen für die Reichen, ökonomische Deregulierung, Privatisierung, Einschnitte bei den Sozialleistungen, Angriffe auf die Gewerkschaften und Lohnkürzungen. Diese Maßnahmen führten auch zu einer gewaltigen Zunahme der Verschuldung. Die Grundlage der Finanzpolitik bildete der Monetarismus, billige Kredite wurden als Heilmittel gegen den wirtschaftlichen Abschwung betrachtet.
Diese Politik hat nun zu einer ökonomischen Katastrophe geführt — zunächst für die Werktätigen, nun aber auch für das kapitalistische System selbst. Die destruktiven Folgen des Neoliberalismus werden eine Reorganisation des Kreditsystems und der Banken erfordern sowie eine Reform des Systems des Welthandels, das ein tiefes Ungleichgewicht aufweist. Diese Krise reicht tiefer als eine klassische zyklische Rezession; ihr werden lange Jahre schmerzlicher Umstrukturierungen folgen. Das bürgerliche Programm dafür ist noch nicht ausgearbeitet, aber zweifellos treten wir ökonomisch wie politisch in eine neue Periode ein, die auch das Kräfteverhältnis zwischen den führenden Nationen in der Welt verändern wird.
Vor einem Jahr wurde klar, dass die USA in eine Rezession rutschen. Der Wirtschaftszyklus hatte seinen Höhepunkt erreicht, und das Überangebot an Immobilien bewirkte zuerst stagnierende, dann sinkende Immobilienpreise. Die Immobilienblase platzte, und während der Zerfall der Immobilienwerte sich weiter fortsetzt, leitete er zugleich eine Schrumpfung der Kreditblase ein, die der Economist vor einigen Jahren als die größte Finanzblase der Welt bezeichnet hat. Sinkende Hypothekenwerte sandten erste Schockwellen an das stark überschuldete Finanzsystem. Massive Forderungsausfälle nagten an den Profiten der Banken, reduzierten ihre Fähigkeit zur Kreditvergabe und führten in die Kreditkrise und in eine schwere Rezession.
Mindestens erstere ist ein Kind der Asienkrise und der Dot-Com-Krise. Als 1998 die Asienkrise auf das internationale Finanzsystem übergriff, beschloss Alan Greenspan, der Chef der US-amerikanischen Notenbank Federal Reserve Bank (Fed), erstmals, einen laufenden Wirtschaftsboom mit Geldspritzen anzuheizen. Damit konnte er die Rezession in den USA mehr als zwei Jahre erfolgreich hinauszögern. Der Preis dafür war hoch: Die Blase der „New Economy” führte zu einer Implosion der Börsenkurse, und als die USA für Asien zum „letztmöglichen Käufer” wurden, häuften sich gewaltige Handelsdefizite und Auslandsschulden.
2001 erreichte die Rezession schließlich die USA — die Profite stürzten ab wie seit den 30er Jahren nicht mehr. Die Fed federte ihre Auswirkungen mit dem größten Konjunkturpaket seit dem Zweiten Weltkrieg ab. Das Haushaltsplus der Regierung von 250 Milliarden Dollar verwandelte sich in ein Defizit von 300 Milliarden Dollar. Mit Steuersenkungen für die Reichen und einer Ankurbelung der Kriegsausgaben in Höhe von zusammen einer Billion Dollar sollten die Auswirkungen der Krise abgeschwächt werden. Drei Jahre lang wurden die Zinsraten auf 1—2% gesenkt, um Betriebskosten zu senken und die Rentabilität der Kapitalinvestitionen wiederherzustellen. Das Ergebnis war die schwächste Konjunkturerholung seit dem Zweiten Weltkrieg, der Preis eine enorme Immobilien- und Schuldenblase, deren Platzen uns nun die gegenwärtigen Krise beschert.

Rund um den Globus — Wirtschaft im freien Fall

Der Abschwung ist global geworden. Die Rezession begann in den USA und hat dort ihr Zentrum, aber der Konjunkturrückgang trifft auch Europa und Japan. Die europäischen Banken haben ähnliche Schwierigkeiten wie die amerikanischen Banken. Im Januar gab es einen internationalen Börsenkrach, er traf die USA, Kanada, Japan, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, aber auch die aufstrebenden Märkte Brasilien, Russland, Indien und China. Der Krach dauerte drei Wochen, vom 2. bis zum 23.Januar, die Börsenkurse sanken damals zwischen 15 und 20%. Über 7 Billionen Dollar wurden dabei vernichtet. Die damals noch gehegte Hoffnung, die Weltwirtschaft könne sich von der US- Ökonomie abkoppeln und der weltweite Boom trotz Rezession in den USA weitergehen, ging in einer internationalen Börsenpanik unter.
Seit 1973 hat es keine koordinierte internationale Rezession mehr gegeben. Einige Länder boomten, wenn andere in der Rezession steckten, und linderten dieselbe, weil sie Exportmärkte aufrechterhielten. Wenn das Wirtschaftswachstum jedoch überall zurückgeht, ziehen sich die Exportmärkte überall zusammen und vertiefen damit die Rezession.
In den letzten Jahren ist der Anteil der USA an der Weltwirtschaft dramatisch gesunken — von 30% auf unter 25% des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dennoch sind die USA noch immer das Zentrum des internationalen kapitalistischen Systems. 55% aller in Asien produzierten Güter werden exportiert, zwei Drittel davon in die USA und die anderen fortgeschrittenen Industrieländer. Der Verbrauchermarkt beläuft sich in den USA auf 9,5 Billionen Dollar, in Indien und China zusammen auf 1,6 Billionen Dollar. Asiatische Hersteller sind für den Verkauf ihrer Waren vom US-Markt abhängig — ohne ihn haben sie eine Überproduktionskrise. Deshalb wird der Niedergang des US-Marktes eine unheilvolle Auswirkung auf die gesamte übrige Weltwirtschaft haben.

Krise der Finanzmärkte

Die derzeitige Krise ist auch eine Krise des Finanzkapitals, sie hat in den USA begonnen, sich aber auf das gesamte internationale Bankensystem ausgeweitet. Das Bankensystem ist der Schlüssel zur kapitalistischen Produktion und Distribution, beide können ohne Kredit nicht funktionieren. Es ist auch einer der wesentlichen Hebel, mit dem der US-Imperialismus bislang die Welt beherrscht hat.
Die Verluste der Banken haben ihren Ursprung in der Immobilienblase. Bislang [Februar 2008] mussten sie 160 Milliarden Dollar Subprime-Hypotheken abschreiben (ein Drittel davon halten nur drei Banken — Citicorp, Merrill Lynch und UBS); es wird erwartet, dass es insgesamt 300—400 Milliarden Dollar werden. Der Immobilienmarkt hat den Tiefpunkt noch nicht erreicht; wenn die Immobilienpreise weiter sinken — bislang sind sie um 10% gesunken, erwartet werden weitere 10—20% in den nächsten Jahren —, werden die Banken noch größere Verluste zu verzeichnen haben. Die Hausbesitzer werden 4—6 Billionen Dollar verlieren; ein Drittel der Haushalte wird mit Hypotheken belastet sein, die höher sind als der Wert ihres Hauses.
Die Verluste auf dem Subprime- Markt werden zu einer Schrumpfung des Kreditvolumens in Höhe von mindestens 2 Billionen Dollar führen, womöglich noch viel mehr. Die Märkte für gewerbliche Immobilien, die vor Monaten noch boomten, brechen ebenfalls zusammen. Ihre Verluste können ebenso groß werden wie die durch die Subprime-Hypotheken. Auch andere Kreditprobleme nehmen zu: Obligationen, Kreditkartenschulden, Unternehmensfusionen und - käufe, die mit Risikoobligationen (junk bonds) finanziert werden.
Firmenobligationen werden in Paketen finanziert, die den Subprimes ähneln; die schlimmsten, risikoreichsten Pakte erzielen die höchsten Zinsen. Obligationen hochverschuldeter Unternehmen wurden populär, weil ihre Eigner eine Versicherung gegen Kreditausfälle in Form von Credit Derivative Swaps (CDS) erwerben konnten. Diese Kreditderivate stellen einen vollkommen unregulierten Markt von 45 Billionen Dollar mit laxen Leihbedingungen dar. Sie werden ständig gehandelt, sodass niemand weiß, wer den Schutz gerade garantiert, und ob die Mittel dazu vorhanden sind. Wenn in diese Pyramide ein Baustein in Verzug gerät, bricht der ganze Rest zusammen.
Sicher ist: Angesichts von Kreditklemme und Rezession werden viele Unternehmen nicht mehr über das nötige liquide Kapital verfügen, um hohe Schulden abzutragen. Sie werden Pleite gehen oder stark in Verzug geraten — der Prozess fängt gerade erst an und wird in den kommenden zwei Jahren Fahrt gewinnen.
Die Ursache für das wachsende Schuldendebakel liegt in der neoliberalen Politik der Deregulierung der Banken, die mit Reagans Reformen der „Liberalisierung des Marktes” in den 80er Jahren begann. Der Staat erlaubte den Banken Operationen, die nicht in der Unternehmensbilanz auftauchten (wie bei Enron). Um ihre Profite zu steigern, konnten die Banken ihre Kreditbücher belasten, indem sie große Risiken eingingen, ohne ihr Eigenkapital erhöhen zu müssen für den Fall, dass die Darlehen nicht zurückgezahlt werden konnten. Die Steuergesetze von Clinton und Bush ermutigten Operationen außerhalb der Bilanzen, indem sie die Gehälter der Bankangestellten als „Anlage” und Gewinne daraus als „Zinserträge” besteuerten — ein Steuerschlupfloch für die Kapitalisten, um den Steuerhöchstsatz auf 15% zu begrenzen, das die demokratische Mehrheit im Kongress bislang nicht rückgängig gemacht hat.
Clintons besonderes neoliberales Geschenk an die Banken bestand in der Abschaffung des Glass-Steagall-Gesetzes aus dem Jahr 1933, der Zeit der Großen Depression; mit ihm wurde die Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken aufgehoben. Es waren die Investmentbanken, die die Schuldenpakete der Unternehmen zu verantworten haben. Die Ratingagenturen, die die Firmenobligationen zu bewerten hatten (Moody‘s, Standard & Poor‘s, Fitch) wurden von den Emittenten dieser Obligationen dafür bezahlt, dass sie AAA-Ratings lieferten, damit Pensionsfonds und Versicherungsgesellschaften die Schuldverschreibungen erwerben werden konnten. Goldman Sachs, die größte Urheberin dieser tödlichen Schulden, hat mit dem Verkauf solcher Obligationen gewaltige Honorare eingestrichen, gleichzeitig hat sie Milliarden an der Spekulation gegen diese Schuldverschreibungen verdient, wenn sie meinte, dass die sie haltenden Firmen in Zahlungsverzug geraten oder Pleite gehen würden. Es gibt ein paar Gewinner in all diesem Elend!

Zusammenbruch des Konsums

Hinter der Finanzkrise der Banken steht die Schuldenkrise der Verbraucher. Der Hauptgrund für die Explosion der schlechten Schulden ist die extreme soziale Ungleichheit infolge der neoliberalen und gewerkschaftsfeindlichen Freihandelspolitik. Die US-Wirtschaft ist seit 1973 nahezu um das Dreifache gewachsen, aber das gesamte Wachstum ging an das Kapital, an Unternehmer und Eigentümer, nicht an die Arbeitenden. Die Reallöhne sind heute niedriger als 1973. Der einzige Weg, den Lebensstandard zu halten, waren längere Arbeitszeiten und zwei Einkommen in einer Familie. Selbst das reicht nicht: Das reale Familieneinkommen liegt heute unter dem von vor zehn Jahren.
Um ihren Lebensstandard zu halten, hat sich die arbeitende Bevölkerung tief verschuldet. Die äußerste und schlimmste Form der Verschuldung war die Aufnahme von Anleihen auf ihre einzige Ersparnis, ihr Haus, das ihnen steigenden Wert versprach. Zwischen 2004 und der ersten Jahreshälfte 2007 nahmen Hausbesitzer pro Jahr 800 Milliarden Dollar Kredite auf, um ihre Hypotheken zu refinanzieren. 34 Millionen US-amerikanische Haushalte — fast ein Drittel der Bevölkerung — nahmen Anleihen auf ihr Haus auf. Zusammen hatten sie eine Nettosparrate von —13%. Anders gesagt, sie lebten buchstäblich von ihren Häusern.
Als die Immobilienblase platzte und die Hypothekenzinsen in die Höhe schnellten, konnte eine große Anzahl von Lohnabhängigen die Kredite nicht mehr bedienen und trug so zum fortgesetzten Verfall der Immobilienwerte und damit auch zur Bankenkrise bei. Damit stockten aber auch die Konsumausgaben, die auf Anleihen auf den steigenden Häuserwert beruhten. Dies übte seinerseits Druck auf die Hersteller von Konsumgütern aus, insbesondere auf die Produzenten von Autos und elektrischen Haushaltsgeräten, und hat mittlerweile den Einzelhandel erreicht. Der Zusammenbruch der Verbraucherausgaben wird weltweit Einfluss auf die Länder haben, die von den USA als ihrem entscheidenden Exportmarkt abhängig sind.
Seit der Börsenpanik von 1907 und der Schaffung des Zentralbanksystems 1913 ist dies die dritte US-amerikanische Finanzkrise. Die erste fand in den 30er Jahren statt, als die innerimperialistischen Beziehungen in der Zeit zwischen den Kriegen den internationalen Bankenkollaps hervorbrachten, der die Depression der 30er Jahre unlenkbar machte. Damals gab es noch keine Einlagensicherung, und die Krise führte zu einem Sturm auf die Banken, als die Menschen versuchten, ihr Geld abzuziehen. In dieser Panik gingen Tausende Banken bankrott.
Das zweite Finanzdebakel war die Sparkassenkrise der 80er Jahre (Savings & Loan), sie beschränkte sich auf die Emittenten von Hypotheken. Damals wurde ein Verlust von 180 Milliarden Dollar mit Steuergeldern aufgefangen, die Papiere wurden in einem Notverkauf zu Preisen verschleudert, die Investoren gewaltige Profite ermöglichten. Es gab eine Kreditklemme, aber sie war nicht groß genug, um nachhaltig auf die Wirtschaft zu wirken.
Die jetzige dritte Krise ist viel tiefer als die zweite, schon im Anfangsstadium hat sie das Ausmaß der Sparkassenkrise weit hinter sich gelassen. Noch weiß man nicht genau, wie schlimm es wirklich werden wird, aber schon der Verlust eines Teils der Subprime-Kredite lähmt die Banken. Sie mussten ihr Kapital aufstocken, indem sie Bankenanteile an Abu Dhabi, Singapur und andere Staatsfonds verkauften — was dazu führt, dass sie nun teilweise von ausländischen Regierungen kontrolliert werden.
Als Japans Immobilien- und Aktienblase 1990 platzte, lähmten zweifelhafte Kredite die japanischen Banken, die sie hielten. Japan litt über ein Jahrzehnt an Rezession und Stagnation, obwohl der Zinssatz auf nahezu Null gesenkt wurde. Erst mit dem jüngsten Asienboom konnte sich Japan wieder erholen.
Die jetzige Bankenkrise wird schlimmer sein als die Japans, weil die Schaffung von Märkten für nicht regulierte Kreditderivate und von außerbilanzlichen Operationen so viele Banken auf der ganzen Welt involviert. Ihre globale Auswirkung wird größer sein, weil die japanischen Banken, anders als die US-Banken, nicht im Zentrum des internationalen Finanzsystems stehen.

Die Struktur des Welthandels wird unhaltbar

Diese Finanzkrise ist gefährlicher, weil sie vor dem Hintergrund der tiefen Widersprüche der neoliberalen Periode stattfindet. Das System des Welthandels hat nach der Asienkrise von 1997/98 und der Antwort, die die Fed unter der Leitung von Greenspan darauf gegeben hat, eine besondere Form angenommen. Die USA sind zum „letztmöglichen Käufer” geworden: Sie importieren billige asiatische Ware und verlagern Produktionsstätten nach Asien, vor allem nach China. Die USA haben ihre Wettbewerbsposition auf dem Weltmarkt verloren. Das US-Handelsdefizit ist in den letzten Jahren auf jährlich 700—800 Milliarden Dollar gestiegen, es wird mit einer Auslandsverschuldung von 3,5 Billionen Dollar bezahlt — das bedeutet: 80% der weltweiten Ersparnisse fließen in die Finanzierung dieses Defizits.
Im letzten Konjunkturzyklus haben US-Unternehmen nicht in die Schaffung neuer Fabriken und Ausrüstungen in den USA investiert. Es gibt hier heute weniger Fabriken als vor Beginn des Aufschwungs. Und es gibt 3 Millionen Industriearbeiter weniger als vor fünf Jahren. US-Unternehmen haben massiv in neue Fabriken in China und Südostasien investiert. Der größte Teil der Produktion dieser Fabriken geht in den Export, zum großen Teil in die USA.
Dieses internationale Handelssystem mit dem gewaltigen, von asiatischen Zentralbanken finanzierten US- Handelsdefizit, kann nicht ewig bestehen bleiben. Es trifft jetzt auf die Kredit- und Schuldenkrise und auf den Niedergang des Dollars. Die USA, heute der Welt größter Schuldner, haben im Ausland 3,5 Billionen Dollar Schulden, weigern sich aber, ihre Währung zu stützen. Sie haben zugelassen, dass der Dollar seit dem Jahr 2000 um 30% abgewertet wurde (und dies aus Gründen der Exporterleichterung sogar unterstützt). Die ausländischen Gläubiger der USA haben allein dadurch eine Billion Dollar verloren — das ist der größte Schuldenausfall der Geschichte. Ausländische Banken und Investoren sind deshalb sehr zurückhaltend damit, die US- Schulden weiter zu finanzieren, indem sie ihre Dollarreserven erhöhen, weil der Dollar weiter an Wert verliert — wegen der Schulden, der sinkenden Zinsen, der schwachen US- Profite und des Handels- und Haushaltsdefizits.
Zur schmerzhaften Umstrukturierung der US-Ökonomie gehört deshalb eine schmerzhafte Umstrukturierung des Welthandels. Länder, die vom Export in die USA abhängen, werden davon betroffen sein. Der chinesische Binnenkonsum beträgt nur 35% des BIP; bei sinkenden Exporten wird China in den meisten Industriezweigen eine Überproduktion erleben. Die chinesische Überproduktion wurde von einem Handelsdefizit genährt, das nun unhaltbar geworden ist. Die chinesische Regierung hält Fremdwährungsreserven im Wert von 1,5 Billionen Dollar, zum größten Teil US-Schulden. Unhaltbare Bedingungen führen irgendwann zum Eklat.

Weltsupermacht — ade?

Auch die Kriegsökonomie verstärkt das Ausmaß der Krise. Im Jahr 2000 betrugen die Militärausgaben 299 Milliarden Dollar, inzwischen sind es über 800 Milliarden Dollar — 6% des BSP, wie zur Zeit des Vietnamkriegs. Nach der Niederlage in Vietnam konnten die USA Rüstungsausgaben in dieser Höhe nicht länger halten. Heute haben sie eine geringere Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, ein gewaltiges Handelsdefizit und sind darüber hinaus noch von Auslandsanleihen abhängig. Sie haben Probleme, die Kriegsausgaben in dem Umfang aufzubringen, der erforderlich ist, um ihre Position als Weltsupermacht zu bewahren. Die Finanzkrise und die Rezession untergraben ihre Macht und verändern das internationale Kräfteverhältnis.
Aus diesen Gründen erleben wir jetzt mehr als nur den Beginn einer Rezession — wir erleben einen Wendepunkt ähnlich dem, der das Ende des Wirtschaftswunders 1970—1993 markierte. Damals führten die Widersprüche einer permanenten Rüstungswirtschaft, bei der die USA ihre Wettbewerbsposition in der Weltwirtschaft verloren, zu einer tiefen Profitkrise, auf die eine umfassende Restrukturierung des US-Kapitalismus folgte. In den 70er Jahren hatten die USA, gemessen an ihren Hauptkonkurrenten, die höchsten Löhne und die niedrigste Produktivität. Ende der 80er Jahre hatten sie die niedrigsten Löhne und eine höhere Produktivität als ihre Konkurrenten.
Heute stoßen wir an die Grenzen des Neoliberalismus. Die Banken werden wieder reguliert, weil die Staaten eine Krise wie diese nicht so schnell wieder zulassen können. Die Verstaatlichung der Northern Rock Bank in England ist die erste dieser Art seit Jahrzehnten. Weitere Steuerkürzungen für die Reichen sind nicht länger haltbar. Die Spitzensteuersätze werden angehoben werden, egal wer die Wahlen gewinnt. Das gemeinsame Umverteilungsprogramm der Demokraten und Republikaner in Höhe von 150 Milliarden Dollar (vom Februar 2008) war — wie unzureichend auch immer — ein Bruch mit dem Neoliberalismus. Es ist im Wesentlichen ein keynesianisches Paket, das die Konsumentennachfrage stimulieren soll. Es ist auf Personen beschränkt, von denen erwartet wird, dass sie es ausgeben — mit weniger als 150000 Dollar Jahreseinkommen. Man kann es nennen wie man will, aber es ist kein Steuergeschenk an die Reichen.
Der Neoliberalismus hat sich als ökonomische Strategie des Kapitals erschöpft. Er wird nicht verschwinden, solange die herrschende Klasse ihn nicht durch eine alternative Strategie ersetzt. Aber die Bourgeoisie ist mit dem Scheitern ihrer Politik konfrontiert und muss eine Lösung finden. Das wird nicht ohne politischen Kampf gehen. Die herrschende Klasse hat bislang keine neue Strategie, sie schlägt nur Stückwerk vor. Klar ist nur, dass jede neue Strategie, wie sie auch immer heißen mag, mit einer fortgesetzten, wenn nicht gar verstärkten, Offensive der herrschenden Klasse einhergehen wird: mehr Abbau von Löhnen und Sozialleistungen. Es wird eine andere Rechte geben, vielleicht einen rechten Populismus, der Immigranten attackiert und protektionistisch ist, oder vielleicht noch extremer.
Die aus dem Scheitern des Marktes entstandene ideologische Krise führt nicht automatisch zu seiner Ablehnung. Aber es kann sich der Glaube entwickeln, dass der freie Markt schreckliche Auswirkungen hat. Die Krise des Neoliberalismus schafft größere Möglichkeiten, Menschen für eine Alternative zum Kapitalismus zu gewinnen.

Joel Geier ist Redakteur von International Socialist Review (www.isreview.org), der Zeitschrift der International Socialist Organization (ISO), der größten Organisation der revolutionären Linken in den USA (www.internationalsocialist.org). Der vorliegende Beitrag fußt auf einem Vortrag, den er im Februar 2008 gehalten hat. (Übersetzung: Hans-Günter Mull.)


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