SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2008, Seite 14

Wohin mit dem ganzen Geld?

Der Kapitalismus ist dauerhaft nicht beherrschbar

von WERNER RÄTZ

"Eine kleine Bank”, sagte einmal jemand, „kann man pleite gehen lassen. Eine große, an der das ganze System hängt, kann man nicht pleite gehen lassen, weil dann alles zusammenbrechen würde.” Genau so funktioniert Aneignung, und warum machen wir das eigentlich nicht auch so? Wenn die Leute sich erst einmal massenhaft holen würden, was sie brauchen, wäre Politik ein anderes Spiel.
Die Standarderklärung für die derzeitige Finanzkrise ist, dass es eine Krise des Finanzkapitals ist und dass sie im Bankensektor ausgebrochen sei. Das ist beides nur auf den ersten Blick richtig, wenn man die Oberflächenerscheinungen des aktuellen Geschehens anschaut. Tatsächlich beginnt das Ganze viel früher. Dafür müssen wir zurück in die erste Hälfte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Im Ölpreisschock wurde das erste große Symptom der aktuellen Krise sichtbar. Die ölproduzierenden Länder hatten durch die Preiserhöhung sehr viel Geld zur Verfügung und suchten dafür profitable Anlagen. Der Schah von Persien etwa wollte damals 300 Mllionen Ecu (Europäische Rechnungseinheiten, 1:1 in Relation zum Dollar) bei Krupp investieren und stellte fest, dass der ganze Laden so viel nicht wert war. Damit war das wirklich drängende Problem offenbar: Wohin mit dem vielen Geld?
Die ganze Geschichte des Neoliberalismus ist von da an die Geschichte der Beantwortung dieser Frage: Was macht man mit riesigen Geldsummen, die sich nicht mehr in Kapital verwandeln lassen? Die haben damals Antworten gesucht und gefunden, die bis heute die Struktur der Weltwirtschaft prägen.

Ein bisschen Marx

Kapitalismus besteht im Kern darin, dass jemand Geld in ein Geschäft steckt und nach Abschluss des Ganzen mehr Geld zurückerhält. Dieses „Mehr” ist das treibende, wenn nicht das einzige Motiv für wirtschaftliches Handeln im Kapitalismus. Damit es gelingt, sind bestimmte Voraussetzungen nötig. Marx hat im 2.Band des Kapitals darzulegen versucht, wie dieser Reproduktionsprozess des Kapitals funktioniert, Rosa Luxemburg hat in Die Akkumulation des Kapitals Probleme und Schwächen der Marx‘schen Schemata bearbeitet.
Aus beidem wird deutlich, dass ein Mehr-Werden des Kapitals, seine „Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter”, wie Marx das nennt, nur möglich ist, wenn die Instrumente, also die Produktionsmittel, mit denen in der nächsten Produktionsperiode das Wachstum realisiert werden soll, schon in der laufenden Periode hergestellt werden. Damit steht denen aber erst einmal keine Nachfrage gegenüber. Diese Nachfrage entsteht erst im kommenden Produktionszyklus — wenn der Prozess gelingt. Gelingt er nicht, bleiben die kapitalistischen Produzenten auf ihren Produkten sitzen. Das ist ein systemischer Prozess, der wesentlich an der regelmäßigen Wiederkehr von Krisen im Kapitalismus beteiligt ist. Er ist prinzipiell in zwei Richtungen auflösbar, entweder indem Kapital vernichtet wird, oder indem neue Nachfrage geschaffen wird. Beides wird regelmäßig gemacht.
In den 60er, 70er Jahren nimmt dieser Prozess eine neue Qualität an: Der Überhang an akkumuliertem Kapital wird so groß, dass weder Vernichtung noch künstlich geschaffene Nachfrage ausreichen, ihn profitabel unterzubringen. Damit hat das Kapital seine spezielle Funktion verloren, es trägt keinen Profit mehr und ist zum bloßen Geld, zum reinen Schatz geworden. Und das ist der kapitalistische GAU. Dafür müssen Lösungen her. Sie wurden in den 70er Jahren in verschiedenen Richtungen gesucht; die dauerhaft erfolgreichsten bestanden darin, das überschüssige Geld in fiktives Kapital zu verwandeln.

Fiktives Kapital

Fiktives Kapital ist solches, das mehr wird, ohne zwischendurch den Weg durch die Produktion von Waren zu gehen. Das heißt, man leiht sein Geld einem anderen, der es mit Zinsen zurückzahlen muss, ohne dass er diese Zinsen durch die Schaffung von neuem Wert verdienen könnte. Als Kreditnehmer traten damals erst einmal die Regierungen des Südens auf, die ihre Länder innerhalb kürzester Zeit in die erste Schuldenkrise trieben — 1982 war Mexiko pleite. Zweitens dehnte man die Funktion der Finanzmärkte so aus, dass dort immer mehr angebliche „Produkte” handelbar wurden, die monetäre Ansprüche generierten, die erst einmal durch nichts gedeckt waren und sind. Wenn aus diesen Ansprüchen reale Zahlungen werden sollen, dann muss jemand sie begleichen. Das übernehmen oft die Staaten, die damit in eine immense Verschuldung geraten — allein die USA sind gegenwärtig, ohne die Auswirkungen der aktuellen Krise, mit über 10 Billionen Dollar verschuldet. Aber auch Private spielen dabei eine Rolle, wie die Hypothekenkrise in den USA deutlich macht. Und auch für die Staatsverschuldung müssen letztlich die Menschen geradestehen — der Abbau des Sozialen, der Ausverkauf der öffentlichen Güter, die Zerstörung der Infrastruktur sprechen eine beredte Sprache.
Wenn man sich bewusst macht, dass dieser Prozess — überschüssige Produktion, der keine Nachfrage gegenübersteht, und schuldenfinanzierte Generierung von Ansprüchen — systematisch in der Struktur des Kapitalismus angelegt ist, dann es Unsinn, von so etwas wie einer „eigentlichen” Funktion der Finanzmärkte zu sprechen. Was stimmt, ist, dass in Zeiten keynesianischer Regulierung Finanzmärkte im Wesentlichen Kredite für die Produktion zur Verfügung stellten. Heute sind sie der Ort, wo die Profitraten vorgegeben werden, die jedes Kapital zu erzielen versucht, und die damit die sog. Realwirtschaft prägen. Die auf den Finanzmärkten zirkulierenden Summen sind in dieser Realwirtschaft entstanden, und ihre Vernichtung betrifft auch diese. Die Geschichte des modernen Finanzkapitalismus, oder wenn man so will des Neoliberalismus, ist die Geschichte davon, wie der Ausbruch der Krise von Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre bis heute hinausgezögert wurde. Das mag noch einmal für ein paar Jahre gelingen oder es kann auch schon dieses Mal das ganze Gebäude zusammenstürzen — vermeidbar ist der Zusammensturz nicht.
Das wissen auch die neoliberalen Regulierer. Sie stehen heute ebenso fassungslos vor dem Versagen ihres Regulationsmodells wie damals die Keynesianer vor dem des ihren, und wer heute nicht stur „Weiter so” oder geschichtsblind „Zurück zu Keynes” ruft, empfiehlt Durchwurschteln. Das aber geht nicht mehr. Tiefere, genauere Fragen sind angesagt, viel weiter gehende Brüche müssen angefasst werden. Attac muss und kann keine linksradikale Organisation werden, aber auch wir müssen Konsequenzen daraus ziehen, dass der Kapitalismus ein zutiefst krisenhaftes System ist, das nicht dauerhaft beherrschbar und regulierbar ist.

Infrastruktur und Daseinsvorsorge garantieren

Für den Augenblick heißt das Folgendes:
1. Die Bemühungen aller Regierungen weltweit laufen auf die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Systems hinaus. Dabei soll der Staat eine entscheidende Rolle spielen, indem er Profite nicht nur sichert, sondern ihre Bezahlung direkt organisiert. Ein solches System kann nur gewaltsam funktionieren, Weltordnungskrieg ist sein integraler Bestandteil. Deshalb sind die Aktionen gegen das Instrument dieses Krieges, die NATO, im kommenden April in Straßburg und Kehl ein zentrales Ereignis, zu dem wir breit mobilisieren müssen.
2. Selbst wenn ein neues, selbsttragendes Wachstum des kapitalistischen Systems möglich wäre — was ich bezweifle — dann wäre es angesichts von Peak Oil, Klimakatastrophe und Agrarexportmodell der industrialisierten Landwirtschaft nichts, was wir wollen könnten. Die Ökologiefrage erzwingt Lösungen außerhalb der Wachstumsdynamik.
3. Es ist nicht falsch, das Funktionieren der Ökonomie sicherzustellen — ohne funktionierendes Geld und arbeitsteilige Wirtschaft ist unser aller tägliches Leben in Frage gestellt. Deshalb sind auch unsere bisherigen Regulierungsvorschläge nicht falsch, aber sie allein reichen nicht aus. Eingriffe in den ökonomischen Ablauf müssen auch an der Stelle ansetzen, wo die Krise ihre Ursachen hat, sie müssen also antisystemischen Charakter haben, auch wenn klar ist, dass sie den Kapitalismus heute nicht abschaffen werden. Zentraler Punkt für eine solche Intervention ist die Garantie des Sozialen. So wie Merkel sagt, wir garantieren die Sparguthaben, so müssen wir sagen, wir wollen eine Garantie der gesamten gesellschaftlichen Infrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge. Und wir wollen sie aus dem bestehenden und immer wieder neu geschaffenen Reichtum, ehe er in die Hände von Anlegern und auf die Finanzmärkte wandert: Aus allen Einkommen, und vor allem aus allen Unternehmensgewinnen, muss eine umfassende materielle Sicherung für alle gewährleistet werden.
Das muss jetzt geschehen. Und dafür ist es hilfreich, wenn wir Wege finden, wie massenhafte Aneignung des Nötigen praktiziert werden kann. Wir sollten von den Banken lernen und unsere Ansprüche nicht zu bescheiden gestalten!


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