SoZ - Sozialistische Zeitung |
"Eine kleine Bank”, sagte einmal jemand, „kann
man pleite gehen lassen. Eine große, an der das ganze System hängt, kann man nicht
pleite gehen lassen, weil dann alles zusammenbrechen würde.” Genau so funktioniert
Aneignung, und warum machen wir das eigentlich nicht auch so? Wenn die Leute sich erst einmal
massenhaft holen würden, was sie brauchen, wäre Politik ein anderes Spiel.
Die Standarderklärung
für die derzeitige Finanzkrise ist, dass es eine Krise des Finanzkapitals ist und dass
sie im Bankensektor ausgebrochen sei. Das ist beides nur auf den ersten Blick richtig, wenn
man die Oberflächenerscheinungen des aktuellen Geschehens anschaut. Tatsächlich
beginnt das Ganze viel früher. Dafür müssen wir zurück in die erste
Hälfte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Im Ölpreisschock wurde das erste
große Symptom der aktuellen Krise sichtbar. Die ölproduzierenden Länder hatten
durch die Preiserhöhung sehr viel Geld zur Verfügung und suchten dafür
profitable Anlagen. Der Schah von Persien etwa wollte damals 300 Mllionen Ecu
(Europäische Rechnungseinheiten, 1:1 in Relation zum Dollar) bei Krupp investieren und
stellte fest, dass der ganze Laden so viel nicht wert war. Damit war das wirklich
drängende Problem offenbar: Wohin mit dem vielen Geld?
Die ganze Geschichte des
Neoliberalismus ist von da an die Geschichte der Beantwortung dieser Frage: Was macht man mit
riesigen Geldsummen, die sich nicht mehr in Kapital verwandeln lassen? Die haben damals
Antworten gesucht und gefunden, die bis heute die Struktur der Weltwirtschaft prägen.
Kapitalismus besteht im Kern darin, dass jemand Geld in ein Geschäft steckt und nach
Abschluss des Ganzen mehr Geld zurückerhält. Dieses „Mehr” ist das
treibende, wenn nicht das einzige Motiv für wirtschaftliches Handeln im Kapitalismus.
Damit es gelingt, sind bestimmte Voraussetzungen nötig. Marx hat im 2.Band des Kapitals
darzulegen versucht, wie dieser Reproduktionsprozess des Kapitals funktioniert, Rosa Luxemburg
hat in Die Akkumulation des Kapitals Probleme und Schwächen der Marxschen Schemata
bearbeitet.
Aus beidem wird deutlich, dass
ein Mehr-Werden des Kapitals, seine „Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter”,
wie Marx das nennt, nur möglich ist, wenn die Instrumente, also die Produktionsmittel,
mit denen in der nächsten Produktionsperiode das Wachstum realisiert werden soll, schon
in der laufenden Periode hergestellt werden. Damit steht denen aber erst einmal keine
Nachfrage gegenüber. Diese Nachfrage entsteht erst im kommenden Produktionszyklus —
wenn der Prozess gelingt. Gelingt er nicht, bleiben die kapitalistischen Produzenten auf ihren
Produkten sitzen. Das ist ein systemischer Prozess, der wesentlich an der
regelmäßigen Wiederkehr von Krisen im Kapitalismus beteiligt ist. Er ist prinzipiell
in zwei Richtungen auflösbar, entweder indem Kapital vernichtet wird, oder indem neue
Nachfrage geschaffen wird. Beides wird regelmäßig gemacht.
In den 60er, 70er Jahren nimmt
dieser Prozess eine neue Qualität an: Der Überhang an akkumuliertem Kapital wird so
groß, dass weder Vernichtung noch künstlich geschaffene Nachfrage ausreichen, ihn
profitabel unterzubringen. Damit hat das Kapital seine spezielle Funktion verloren, es
trägt keinen Profit mehr und ist zum bloßen Geld, zum reinen Schatz geworden. Und
das ist der kapitalistische GAU. Dafür müssen Lösungen her. Sie wurden in den
70er Jahren in verschiedenen Richtungen gesucht; die dauerhaft erfolgreichsten bestanden
darin, das überschüssige Geld in fiktives Kapital zu verwandeln.
Fiktives Kapital ist solches, das mehr wird, ohne zwischendurch den Weg durch die
Produktion von Waren zu gehen. Das heißt, man leiht sein Geld einem anderen, der es mit
Zinsen zurückzahlen muss, ohne dass er diese Zinsen durch die Schaffung von neuem Wert
verdienen könnte. Als Kreditnehmer traten damals erst einmal die Regierungen des
Südens auf, die ihre Länder innerhalb kürzester Zeit in die erste Schuldenkrise
trieben — 1982 war Mexiko pleite. Zweitens dehnte man die Funktion der Finanzmärkte
so aus, dass dort immer mehr angebliche „Produkte” handelbar wurden, die
monetäre Ansprüche generierten, die erst einmal durch nichts gedeckt waren und sind.
Wenn aus diesen Ansprüchen reale Zahlungen werden sollen, dann muss jemand sie
begleichen. Das übernehmen oft die Staaten, die damit in eine immense Verschuldung
geraten — allein die USA sind gegenwärtig, ohne die Auswirkungen der aktuellen
Krise, mit über 10 Billionen Dollar verschuldet. Aber auch Private spielen dabei eine
Rolle, wie die Hypothekenkrise in den USA deutlich macht. Und auch für die
Staatsverschuldung müssen letztlich die Menschen geradestehen — der Abbau des
Sozialen, der Ausverkauf der öffentlichen Güter, die Zerstörung der
Infrastruktur sprechen eine beredte Sprache.
Wenn man sich bewusst macht,
dass dieser Prozess — überschüssige Produktion, der keine Nachfrage
gegenübersteht, und schuldenfinanzierte Generierung von Ansprüchen —
systematisch in der Struktur des Kapitalismus angelegt ist, dann es Unsinn, von so etwas wie
einer „eigentlichen” Funktion der Finanzmärkte zu sprechen. Was stimmt, ist,
dass in Zeiten keynesianischer Regulierung Finanzmärkte im Wesentlichen Kredite für
die Produktion zur Verfügung stellten. Heute sind sie der Ort, wo die Profitraten
vorgegeben werden, die jedes Kapital zu erzielen versucht, und die damit die sog.
Realwirtschaft prägen. Die auf den Finanzmärkten zirkulierenden Summen sind in
dieser Realwirtschaft entstanden, und ihre Vernichtung betrifft auch diese. Die Geschichte des
modernen Finanzkapitalismus, oder wenn man so will des Neoliberalismus, ist die Geschichte
davon, wie der Ausbruch der Krise von Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre bis heute
hinausgezögert wurde. Das mag noch einmal für ein paar Jahre gelingen oder es kann
auch schon dieses Mal das ganze Gebäude zusammenstürzen — vermeidbar ist der
Zusammensturz nicht.
Das wissen auch die
neoliberalen Regulierer. Sie stehen heute ebenso fassungslos vor dem Versagen ihres
Regulationsmodells wie damals die Keynesianer vor dem des ihren, und wer heute nicht stur
„Weiter so” oder geschichtsblind „Zurück zu Keynes” ruft,
empfiehlt Durchwurschteln. Das aber geht nicht mehr. Tiefere, genauere Fragen sind angesagt,
viel weiter gehende Brüche müssen angefasst werden. Attac muss und kann keine
linksradikale Organisation werden, aber auch wir müssen Konsequenzen daraus ziehen, dass
der Kapitalismus ein zutiefst krisenhaftes System ist, das nicht dauerhaft beherrschbar und
regulierbar ist.
Für den Augenblick heißt das Folgendes:
1. Die Bemühungen aller
Regierungen weltweit laufen auf die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Systems
hinaus. Dabei soll der Staat eine entscheidende Rolle spielen, indem er Profite nicht nur
sichert, sondern ihre Bezahlung direkt organisiert. Ein solches System kann nur gewaltsam
funktionieren, Weltordnungskrieg ist sein integraler Bestandteil. Deshalb sind die Aktionen
gegen das Instrument dieses Krieges, die NATO, im kommenden April in Straßburg und Kehl
ein zentrales Ereignis, zu dem wir breit mobilisieren müssen.
2. Selbst wenn ein neues,
selbsttragendes Wachstum des kapitalistischen Systems möglich wäre — was ich
bezweifle — dann wäre es angesichts von Peak Oil, Klimakatastrophe und
Agrarexportmodell der industrialisierten Landwirtschaft nichts, was wir wollen könnten.
Die Ökologiefrage erzwingt Lösungen außerhalb der Wachstumsdynamik.
3. Es ist nicht falsch, das
Funktionieren der Ökonomie sicherzustellen — ohne funktionierendes Geld und
arbeitsteilige Wirtschaft ist unser aller tägliches Leben in Frage gestellt. Deshalb sind
auch unsere bisherigen Regulierungsvorschläge nicht falsch, aber sie allein reichen nicht
aus. Eingriffe in den ökonomischen Ablauf müssen auch an der Stelle ansetzen, wo die
Krise ihre Ursachen hat, sie müssen also antisystemischen Charakter haben, auch wenn klar
ist, dass sie den Kapitalismus heute nicht abschaffen werden. Zentraler Punkt für eine
solche Intervention ist die Garantie des Sozialen. So wie Merkel sagt, wir garantieren die
Sparguthaben, so müssen wir sagen, wir wollen eine Garantie der gesamten
gesellschaftlichen Infrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge. Und wir wollen sie
aus dem bestehenden und immer wieder neu geschaffenen Reichtum, ehe er in die Hände von
Anlegern und auf die Finanzmärkte wandert: Aus allen Einkommen, und vor allem aus allen
Unternehmensgewinnen, muss eine umfassende materielle Sicherung für alle
gewährleistet werden.
Das muss jetzt geschehen. Und
dafür ist es hilfreich, wenn wir Wege finden, wie massenhafte Aneignung des Nötigen
praktiziert werden kann. Wir sollten von den Banken lernen und unsere Ansprüche nicht zu
bescheiden gestalten!
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