SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2008, Seite 17

Klassenkampf um die Staatskasse

Sozialismus für die Reichen, Kapitalismus für die Armen

von INGO SCHMIDT

Demonstranten statt Banker und Broker bevölkerten die Wall Street am 25.September. Einem Aufruf des New York City Central Labor Council folgend artikulierten sie ihren Unmut darüber, dass die US-Regierung 700 Milliarden Dollar ausgeben will, um die Verluste von Banken und anderen Finanzunternehmen zu begrenzen. Am 13.Oktober wurde der Wirtschaftsnobelpreis an Paul Krugman vergeben. Obwohl er theoretisch in den Fußstapfen einer keynesianisch angereicherten Neoklassik steht, hat er sich in seinen Kolumnen für die New York Times als Sozialdemokrat alter Schule profiliert.
In den Wochen zwischen diesen beiden Akten wurden das Dollar-Wall-Street-Regime zu Grabe getragen und Fundamente für einen neuen Kapitalismus geschaffen. Er ist noch schwer zu begreifen, weil er unfertig ist und wir noch in den mühsam erarbeiteten Begriffen der finanzmarktgetriebenen Akkumulation befangen sind. Eine Ahnung, was die neue Zeit bringen wird, hatten die Wall-Street- Demonstranten auf ihre Transparente geschrieben: „Sozialismus für die Reichen, Kapitalismus für die Armen”
Ob ihre Kritik an dieser Entwicklung sie zu Sozialdemokraten à la Krugman oder zu Sozialisten macht, die eine Gesellschaft jenseits des Gegensatzes von Armut und Reichtum anstreben, ist ebenso offen wie der neue Kapitalismus noch formbar und vielleicht sogar überwindbar ist. Die Erkundung des veränderten Terrains, auf dem der Klassenkampf geführt wird, ist in jedem Falle eine Voraussetzung, um fortschrittlichen Bewegungen eine Richtung zu geben.

Wir kennen keine Parteien mehr

Rund drei Jahrzehnte konnten private Unternehmen, vom Staat großzügig mit Steuererleichterungen, niedrigen Sozialstandards und ehemals öffentlichem Eigentum ausgestattet, die Macht der Arbeiterklasse im Betrieb sowie in ihren sozialstaatlichen Rückzugsräumen zurückzudrängen. Je länger die Kapitaloffensive währte, desto weniger waren sich ihre Vorkämpfer der helfenden Hand des Staates bewusst. Zum Schluss glaubten viele von ihnen selbst an die Existenz eines aus staatlichen Regulierungen herausgewachsenen Weltmarkts.
Der Glaube, die unsichtbare Hand des Marktes schaffe spielend Reichtümer, die die lebendige Arbeitskraft im Schweiße ihres Angesichts niemals zu Wege brachte, erfasste auch die Mittelklasse und mit Spargroschen ausgestatte Arbeiterhaushalte. Besser ein kleiner Mitspieler im Finanzmarktroulette als Lohnsklave in der Weltmarktfabrik.
Damit ist Schluss, seit die Silberkugel auf die Null gefallen ist. Enorme Einsätze sind verloren, viele Einlagen sind gesperrt und werden von den Banken als Druckmittel genutzt, um vom Staat Finanzhilfen und Bürgschaften zu erpressen. Sie drohen: Ohne Staatshilfe geht nicht nur das Casino unter, sondern auch seine Besucher.
Die Gesellschaft der Vermögensbesitzer beantragt Konkursausfallgeld beim Staat. Da kennt sie keine Klassen und keine Parteien mehr. Die demokratische Sprecherin des US-Kongresses, Nancy Pelosi, und der republikanische Finanzminister Paulson, die Präsidentschaftskandidaten McCain und Obama, die Großkoalitionäre Merkel und Steinbrück, der Konservative Sarkozy und der New-Labour-Mann Brown — nie waren sich die politischen Hilfstruppen des Neoliberalismus so einig wie im Moment seines Verschwindens.
Das Treffen der Finanzminister der G7-Staaten am 10.Oktober wurde zum 18.Brumaire des Finanzmarktkapitalismus. Um die Fassaden von Wall Street, der City of London, Mainhattan und anderen Finanzzentren zu retten, verständigte man sich auf Staatshilfen und Bürgschaften in einer Höhe, die locker mit den Fantasiegewinnen und Börsenkursen der Vorkrisenzeit konkurrieren können.
Dahinter wird ein staatskapitalistisches Spiel gespielt. Die USA bringen dafür 700 Milliarden Dollar Einsatz auf, die großen europäischen Länder Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Österreich 1000 Milliarden Euro. Mit diesem Geld werden Banken und faule Kredite ganz oder teilweise übernommen und für neue Kredite gebürgt.
Weiteres Geld wurde für die Sicherung privater Spareinlagen in Aussicht gestellt. Steinbrück und Merkel sind mit Zusagen von 1000 Milliarden Euro vorgeprescht. Für Politiker, die bislang Forderungen der Linken nach 10 oder 50 Milliarden Euro schweren Konjunkturprogrammen immer als unfinanzierbar, inflationsträchtig und kapitalfeindlich bezeichnet haben, sind dies bemerkenswerte Zusagen.
Sie sind noch bemerkenswerter, wenn man sich folgende Vergleichszahlen vor Augen hält: Die Gesamtausgaben des Bundeshaushalts belaufen sich in 2008 auf 280 Milliarden Euro; das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands zu laufenden Preisen wird in diesem Jahr etwa 2500 Milliarden Euro betragen.
Die Bundesregierung aber hofft, ebenso wie die Regierungen der anderen G7 und EU-Länder, ihre bloßen Zahlungsversprechungen werde den Geldkreislauf neu in Gang setzen. Dann blieben ihre tatsächlichen Zahlungen auf ein Minimum beschränkt, die Befürchtungen der Wall- Street-Demonstranten, „Sozialismus für die Reichen”, wären unbegründet.

Öffentliches Defizit und Notenpresse


Wie tief die Verunsicherung über die wirtschaftliche Zukunft ist, zeigte der spontane Aufschrei, den Paulsons 700- Milliarden-Dollar-Rettungsplan provozierte. Die kleine Schar von Wall-Street-Demonstranten war nur ein Symbol für einen spontanen Ausdruck von Klassenbewusstsein. Viele, die sich eben noch zur Gesellschaft der Vermögensbesitzer zählten, spüren, dass ihre Löhne, Renten, Häuser und Ausbildungspläne nicht nur durch die Finanzkrise bedroht sind, sondern auch durch die staatliche Rechnung, die Paulson ihnen ausstellt. Eine Flut individueller Protestanrufe und -schreiben und eine Serie kleinerer Demonstrationen von der Atlantik- bis zur Pazifikküste waren die Folge.
Im Unterschied zu unzähligen anderen Protesten veranlassten diese viele Abgeordnete dazu, im Kongress gegen Paulsons Vorschläge zu stimmen. Erst die intensive Bearbeitung durch das Führungspersonal von Amerikas politischer Klasse samt der Befriedigung zahlreicher Lobbyinteressen führte in einer zweiten Abstimmung zur gewünschten Mehrheit.
Die ungewohnten Schwierigkeiten, das kapitalistische Gesamtinteresse gegen die subalternen Klassen zu organisieren, dürften zu Steinbrücks und Merkels vorauseilendem Bekenntnis zum Volkskapitalismus beigetragen haben. Solange sie für die Versicherung, der deutsche Michel sitze mit Herrn Ackermann im selben Boot, nicht zahlen müssen, sind die Garantien von Spareinlagen und Girokonten billig. Sollte der Staat im Laufe einer anhaltenden Wirtschaftskrise für seine Versprechungen einstehen müssen, wird es teuer — für den Michel, nicht für Ackermann, Steinbrück und Merkel & Co. Dann wird er merken, dass soziale Marktwirtschaft und europäisches Sozialmodell ihn ebenso wenig vor den Folgen der kapitalistischen Krise schützen, wie die amerikanische Jane das Versprechen unbegrenzter Möglichkeiten.
Hier wie dort wird die Staatskasse zum Zentrum des Klassenkampfs. Um dem Michel und der Jane ihren bescheidenen und doch bedrohten Wohlstand zu sichern, kann der Staat ihnen in die eine Hosentasche Geld stecken, das er ihnen aus der anderen wieder herauszieht. Besser geht es ihnen dadurch nicht. Dafür wird es schlimmer, wenn erst so richtig große Summen an den Finanzsektor geliefert werden müssen. Um diese Summen aufzubringen, könnte die Internationale der Finanzminister zu Maßnahmen greifen, die unter normalen Umständen als Teufelszeug gelten.
Aber was ist schon noch normal in diesen Tagen? Wenn die Prediger der freien Marktwirtschaft, ausgeglichener Haushalte und stabilen Geldwertes nahezu unbegrenzte staatliche Zahlungsversprechungen abgeben und die Verstaatlichung von Banken vorbereiten, wird möglich, was gestern noch undenkbar war.
Seit die Überakkumulation von Profitansprüchen zu einer Krise in den Zentren der Akkumulation geführt hat, gelten andere Gebote. Um einen Teil der in den letzten drei Jahrzehnten aufgebauten Vermögensillusionen samt der davon abhängigen Investitionsneigung des Kapitals zu erhalten, muss der Staatshaushalte aufs Äußerste mobilisiert werden. Zur Finanzierung der Rettungsmaßnahmen wird es daher, in neoliberaler Tradition, weitere Ausgabenkürzungen im Sozial- und Ausbildungsbereich geben.
Im Unterschied zu dieser Tradition wird es anstelle des Versprechens allgemeiner Steuersenkungen eine höhere Steuerlast der subalternen Klassen ersetzt. Da deren Finanzkraft schon angegriffen ist, werden sich öffentliche Defizite aufhäufen, die ebenso untilgbar sind wie die faulen Kredite der Banken. Dann gibt es nur noch eins: die Notenpresse und eine inflationäre Entwertung von Papiervermögen zum Wohle der kleinen Schar von Produktionsmittel- und Grundeigentümern.

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