SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2008, Seite 20

Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder

Frankfurt/New York: Campus, 2007

"Diese offene Situation und die in ihr sichtbare Neuzusammensetzung der sozialen Konflikte war Ausgangspunkt meiner Neugier auf eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der wilden Streiks. Die Arbeitskonflikte schienen mir ein Thema zu sein, das einen anderen Blick auf ‘1968‘ ermöglichen könnte als in der bundesdeutschen Forschung üblich. Mich interessierte auf der einen Seite, wie diese Konflikte jenseits der Fabrik wirkten, und auf der anderen Seite, wie die neuen sozialen Bewegungen sich in den Fabriken geltend machten. Ich nahm an, dass es genügend Spuren und Hinweise geben müsste, um diese Frage anhand der wilden Streiks zu untersuchen. Ich nahm mir vor, dies nicht anhand des französischen oder italienischen Beispiels zu diskutieren, sondern anhand zweier Länder, die eher ... für die ‘repressive Trennung‘ [zwischen Studenten- und Arbeiterkämpfen] als für die ‘organische Verbindung‘ der Proteste bekannt sind. Damit begannen die Probleme ... Das erste Problem: Man könnte meinen, dass die ‘1968er‘ zumindest in der Bundesrepublik so gut ‘beforscht‘ sind, dass es irgendwo mal ein Projekt mit Namen ‘1968 in der Fabrik‘ gegeben haben müsste. Tatsächlich werden nicht nur die Verweigerung der Arbeit und die Proteste der Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern das Thema ‘Arbeit‘ überhaupt in der Debatte um ‘1968‘ fast nie berührt. Selbst die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, die das Leben der sagenhaften ‘Akteure‘ des Aufstands bestimmt haben müssten, kommen so gut wie nicht vor. Wilde Streiks? Ebenfalls ein ‘blinder Fleck‘ in der aktuellen Forschung. Die vorliegende Arbeit ist leider die erste systematisch zusammenfassende Studie über die ‘illegalen‘ Arbeitskämpfe in der Zeit von 1950 bis 1973."
So der Autor in seiner Einleitung.
Die schlechte Gesellschaft, in der sich die abhängig Beschäftigten mehr und mehr um ihr kritisches Bewusstsein bringen ließen und lassen, hat schon lange auch die Sprache erreicht. „Wild” ist alles, was ein Jäger vor die Flinte bekommen kann, dass ein Arbeitskampf „wild” ist, wurde in Deutschland erst nach 1945 in den Sprachgebrauch eingeführt. Wer als Verkäufer seiner Arbeitskraft diese verweigert, aus gutem Grunde und leider viel zu selten, der ist dann ein „wilder” Streiker, wenn nicht eine der im sozialpartnerschaftlichen Geschmuse eingebundene Gewerkschaft diesen „Kampf” ausruft. Allein schon der Begriff „Tarifpolitik” sagt nur zu deutlich, dass es hier gesittet zugeht. Verhandlung, Scheitern der Verhandlung, Urabstimmung und dann Streik. Das ist der geregelte Ablauf. So muss das gehen, sonst wird es „wild”! Auch beim Autor Peter Birke. „Wild” war und ist, bis zum heutigen Tage, die Vorgehensweise des Kapitals gegen die, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
Zu gut erinnere ich mich an den Ausspruch des Neusser Polizeipräsidenten Knecht im Jahre 1973 vor dem Fabriktor der Firma Pierburg : „Wilder Streik ist Revolution” — das Kapital hatte schon da seine Bündnispartner, um Ruhe und Ordnung zu schaffen, damit die Profimaximierung klappt.
Die „Untersuchung” der Arbeitskämpfe an denen sich die Gewerkschaften nicht beteiligen wollten, reicht bis in das Jahr 1973/74 — warum da Schluss ist mit der „Beforschung”, das ist nicht erkennbar. Warum man deutsche Arbeitskämpfe mit denen in Dänemark in einem Buch untergebracht hat, ist mir auch ein Rätsel. Der Forschungsgegenstand, sich mit solchen Arbeitskämpfen der BRD zu beschäftigen, die in der alleinigen Verantwortung der Belegschaften stattfanden, hätte genauer untersucht werden können. So blieb viel an der Oberfläche. Obwohl es deutliche Spuren gab, hätte man genauer gesucht!
Traurig ist, dass einer der wichtigsten Kämpfe, die Betriebsbesetzung der Zementfarik Seibel & Söhne in Erwitte bei Lippstadt nicht erwähnt wird. Weil Peter Birke seine Arbeit nicht bis zum Jahr 1975 und darüber hinaus ausdehnte. Dabei war dies ein prachtvolles Beispiel für eine Betriebsbesetzung, wie man sie heute wieder bräuchte. Wie fein Nokia abgewickelt wurde, weil das Wissen um den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit fehlte!
Auch die Kämpfe der ausländischen Frauen bei Pierburg in Neuss kommen in dieser Untersuchung am Rande vor, gehen nicht in die Tiefe. Und es wäre auch lohnend gewesen, sich mit dem Ford-Streik in Köln zu beschäftigen und zu dokumentieren, wie da ein rechter „kölscher” Gewerkschaftsklüngel den Kampf zur Niederlage werden ließ.
Ich hatte an dieses Buch die Erwartung, dass es in die Tiefe geht, Möglichkeiten aufzeigt, wie man diese Kämpfe organisiert hat, aber es bleibt leider bei ziemlich oberflächlichen Beschreibungen. Trotz einer langen Literaturliste.
Deshalb seien hier einige Beispiele gelungener Kampf- und Streikberichterstattung erwähnt:
Wir gehen nach vorn von Gerd Höhne zu den Auseinandersetzungen bei Mannesmann im Jahre 1974; das Buch der Plakat- Gruppe, das die Kämpfe bei Mercedes-Benz beschreibt, an denen Willi Hoss beteiligt war, samt ihrer exemplarischen politischen Betriebsarbeit; die vielen Auseinandersetzung bei Opel Bochum, an denen nicht nur das Kapital, sondern auch die IG Metall beteiligt war; Kampf um Bosch von Eugen Eberle und Tilman Fichter; Berni Kelbs Betriebsfibel aus dem Jahre 1971...
Ich bin der Meinung, dass die APO und die heute so seltsam fremd und unreal dargestellte 68er Bewegung gerade bei den „echten” Kämpfen in den Jahre ab 1970 herum sehr viel bewirkte und auch bei den Gewerkschaften Spuren hinterließ. Nicht die, nun zu kämpfen, sondern die Linken zu schwächen. Besonders schlimm waren die Aktionen gegen jene Linken, die sich in kleinen Parteien organisiert hatten. Unvereinbarkeitsbeschlüsse sorgten für den Ausschluss aus der Gewerkschaft, dem bald darauf Kündigung und Berufsverbot folgte.
Das wäre ein Thema zur „Beforschung”!

Dieter Braeg


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