SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2008, Seite 21

Streiken gegen den Krieg

Der Berliner Metallarbeiterstreik 1918 als Generalprobe der Revolution

von JOCHEN GESTER

Der 9.November ist in Deutschland ein geschichtsträchtiger Tag — das Novemberpogrom von 1938, 15 Jahre zuvor marschierte Hitler auf die Münchner Feldherrenhalle, 1989 fiel die Berliner Mauer. Weniger bekannt ist der Jahrestag 1848: An diesem Tag wurde Robert Blum erschossen. Damit erstickte man den ersten großen Versuch, in Deutschland demokratische Verhältnisse herzustellen.
Wir richten das Augenmerk jedoch auf den 9.November 1918, an dem Philip Scheidemann und Karl Liebknecht zeitgleich die Monarchie für beendet erklärten. Diesen Ereignissen vorausgegangen waren solche, die die Novemberrevolution vorbereitet haben: die Revolte der Matrosen im Sommer 1917 in Wilhelmshaven und nicht zuletzt der Streik der Berliner Metallindustrie im Januar 1918. Diesen Streik lassen die Autoren des Buches Streiken gegen den Krieg* Revue passieren und fragen, was man daraus für heute lernen kann. Anstoß für das Buch gab ein gleichnamiges Seminar in der IG-Metall-Bildungsstätte Berlin.

Größter Massenstreik gegen den Krieg

Der Streik, der am 28.Januar 1918 in Berlin begann, war der größte Massenstreik gegen den Ersten Weltkrieg und einer von vier politischen Streiks in Deutschland im ganzen 20.Jahrhundert. Er erfasste 400000 Arbeiterinnen und Arbeiter — im ganzen Land nahmen fast eine Million Menschen an der Streikbewegung teil, die Berliner Rüstungsindustrie kam für eine Woche zum erliegen.
Die Streikenden forderten die monarchistische Staatsordnung heraus: Außer einer Verbesserung der Lebensmittelversorgung forderten sie ein Ende des Krieges ohne Eroberungen und Kriegsentschädigungen, die Hinzuziehung von Arbeitervertretern aller Länder zu den Verhandlungen, die Aufhebung des Belagerungszustands, die Wiederherstellung aller durch die Militärbehörde verordneten Einschränkungen demokratischer Rechte, die Freilassung aller politischen Gefangenen und eine durchgreifende Demokratisierung des preußischen Staatswesens.
Im Buch Streiken gegen den Krieg beschreibt Ralf Hoffrogge Motive und Akteure der Massenaktion: „Spontaner Wutausbruch und geplante Aktion — beide Beschreibungen treffen zu auf den Januarstreik des Jahres 1918. Hier entlud sich die Wut der Arbeiterklasse über das fast vier Jahre andauernde Massaker an Ost- und Westfront, über offensichtliche deutsche Eroberungsgelüste im Rahmen eines vermeintlichen Verteidigungskrieges, über Mangel, Entbehrungen und den nackten Hunger an der ‘Heimatfront‘. Nach dem Startschuss in Berlin breitete sich die Bewegung wie ein Lauffeuer aus. In Hamburg, Danzig, Magdeburg und vielen weiteren Städten kam es spontan zu ähnlichen Protesten und Arbeitsniederlegungen. Bei näherem Hinsehen jedoch brach auch dieser Streik nicht einfach aus, er wurde gemacht. Hinter ihm standen die USPD und die Spartakusgruppe, vor allem aber die Revolutionären Obleute mit ihrem Sprecher Richard Müller. Sie waren es, die vor allem in Berlin den breiten Rückhalt in der Arbeiterschaft hatten, ohne den jede geplante Widerstandsaktion ins Leere laufen musste."
Dabei gelang den Obleuten erfolgreich ein Bruch mit eingefahrenen gewerkschaftlichen Traditionen. Daraus lässt sich auch heute noch viel lernen. Hoffrogge: „Der Kriegsausbruch im August 1914 stellte die bisherige politische Praxis vieler Aktivisten der Arbeiterbewegung radikal in Frage. Kollektivität und Solidarität waren für sie bisher gleichgesetzt mit Disziplin und Loyalität gegenüber der eigenen Gewerkschaft. Nun jedoch mussten Müller und seine Genossen feststellen, dass die Leitung des DMV [Deutscher Metallarbeiterverband] nicht nur dem Ausbruch des Krieges keinen Widerstand leistete, sondern durch die Vereinbarung eines ‘Burgfriedens‘ mit den Unternehmern auch ohne Not das Streikrecht aus der Hand gab ... Dieser Entscheidung wollte sich Müller nicht beugen, und auch die Mehrheit der Berliner Dreher lehnte den Burgfrieden ab. Bereits im ersten Kriegsjahr führten sie unter der Leitung von Müller in Berlin wilde Streiks durch und traten damit in offene Opposition gegen die Führung des DMV. Obwohl sich die Arbeitskämpfe zunächst auf ökonomische Forderungen beschränkten, waren sie doch ein entscheidender Schritt gegen die nationalistische Vereinnahmung der Arbeiterbewegung. Während unter den Linken in Sozialdemokratie und Gewerkschaften noch Lähmung und Verunsicherung dominierten, zeigten sich hier auf lokaler Ebene erste Ansätze von Widerstand."
Die hierarchische Struktur der damaligen Gewerkschaftsbewegung sah horizontale Kommunikation oder Willensbildung jedoch kaum vor, sodass es fast zwei Jahre dauerte, bis sich aus diesen Ansätzen eine handlungsfähige überregionale Opposition entwickelte, das Netzwerk der „Revolutionären Obleute” Diese Organisation entstand aus der Berliner Branche der Dreher und setzte sich zusammen aus Vertrauensleuten der Großbetriebe der Berliner Metall- und Rüstungsindustrie. Jeder dieser „Obmänner” hatte seinerseits Vertraute in den Werkstätten und Abteilungen seines Betriebes, sodass die nur etwa 50 Leute umfassende und im Geheimen agierende Gruppe dennoch Einfluss auf Zehntausende, später Hunderttausende Arbeiter im Großraum Berlin und darüber hinaus hatte.
Soviel Einfluss war möglich durch die enge Basisbindung der Obleute: Nur Arbeiter, die tatsächlich das Vertrauen einer Mehrheit ihrer Kollegen und Kolleginnen genossen, wurden in den Kreis aufgenommen. Die Obleute hatten stets ein besseres Ohr für die Stimmung der Massen als die in den Parlamenten agierende USPD und der Spartakusbund. Bei ihren Aktionen achteten sie stets darauf, nicht gegen die Stimmung der Basis in den Fabriken zu handeln — das trug ihnen teilweise den Vorwurf der Zögerlichkeit ein, gewährleistete andererseits aber auch den Erfolg ihrer Aktionen.

Ende des Streiks

Der Streik verschärfte sich nach dem 28.Januar mit jedem Tag und gipfelte in der Ankündigung der Oberbefehlshaber, sieben Großbetriebe unter ihr Kommando zu stellen und außerordentliche Kriegsgerichte einzuführen, sollte die Arbeit bis zum 4.Februar nicht wieder aufgenommen werden.
Richard Müller, der Sprecher der Revolutionären Obleute, schrieb in einem Rückblick: „Es gab jetzt drei Möglichkeiten. Erstens: Verhandlung mit der Regierung unter Hinzuziehung der Generalkommission und dann Abbruch des Streiks. Zweitens: Steigerung des Streiks bis zum Aufruhr, und drittens: Abbruch des Streiks ohne Verhandlungen. Die erste Möglichkeit wurde abgelehnt. Um keinen Preis durfte der Generalkommission [der Gewerkschaften] die Möglichkeit geboten werden, als ‘Retter in der Not‘ zu erscheinen. Es hatte einen langen, harten und zähen Kampf gekostet, um der Generalkommission das Vertrauen der Masse zu entziehen. Der gewaltige Massenstreik, auf den die ‘berufenen‘ Gewerkschaftsführer nicht den geringsten Einfluss ausübten, war der beste Beweis für den Erfolg der Arbeit der letzten Jahre. Man glaubte auch nicht an das ‘zufällige‘ Verhandeln über Wirtschaftsfragen mit dem Reichskanzler. Vielmehr glaubte man an ein abgekartetes Spiel beider Teile. Die Opfer des Streiks wären nicht geringer geworden, aber das Vertrauen der Masse zu den revolutionären Obleuten hätte einen schweren Stoß erhalten.
"Die zweite Möglichkeit, Steigerung des Streiks bis zum Aufruhr, wurde von dem Spartakusbund propagiert. Die Leitung der revolutionären Obleute lehnte es ab. Eine Steigerung der Bewegung war für Berlin möglich, aber sie wäre isoliert vom übrigen Reich erfolgt, denn überall war der Streik durch Verhandlungen wieder beigelegt worden, oder das Ende stand unmittelbar bevor. Die Berliner Arbeiter konnten allein den Endkampf mit der Regierung und der Bourgeoisie nicht aufnehmen. Der Versuch wäre mit unermesslichen Opfern bezahlt worden und mit dem Verlust der revolutionären Kraft an der wichtigsten Stelle. Ein Kampf, wie ihn der Spartakusbund forderte, war ohne die Hilfe der Soldaten unmöglich; wenn sich auch im Heere eine Anzahl revolutionärer Elemente befanden, so konnten sie sich doch noch nicht loslösen und entfalten. Ob die Truppen, die in Berlin lagen, sich der revolutionären Bewegung anschließen würden, stand erst recht im Zweifel."
"Es blieb nur die dritte Möglichkeit: Abbruch des Streiks ohne Verhandlungen. Man war sich klar darüber, dass dieser Ausgang als große Niederlage der Arbeiter und als Sieg der Regierung vom Vorwärts bis zur Kreuz-Zeitung bewertet werden würde. Aber darauf kam es nicht an. Entscheidend war, wie ein solcher Ausgang von den im Kampfe Stehenden empfunden wurde. Und da täuschte sich die Leitung nicht. Ihre Parole zum Abbruch wurde am 3.Februar ausgegeben und ohne Murren befolgt. Die Arbeiter fühlten sich nicht geschlagen, sondern als Kämpfer, die den Rückzug antreten, um mit stärkerer Kraft vorzustoßen. Aus der geschaffenen Stimmung klang es überall heraus: wir brauchen Waffen, wir müssen unsere Propaganda in das Heer tragen. Nur eine Revolution bringt uns Rettung."
Müllers Chronik endet mit den Worten: „Wie vorauszusehen war, blieben die Opfer des Kampfes nicht aus. Die Arbeiter beklagten sechs Tote und eine erhebliche Anzahl zum Teil schwer Verletzter. Dazu wurden von den außerordentlichen Kriegsgerichten viele Jahre Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verhängt. Fast alle revolutionären Obleute wurden zum Kriegsdienst eingezogen, dazu noch Tausende am Streik Beteiligte. Die Regierung glaubte damit der revolutionären Bewegung Herr zu werden. Die Rechnung war falsch. Neun Monate später wurde sie beglichen."
Diesen mutigen Arbeitern zollen die Autorinnen und Autoren des Buches noch nachträglich Anerkennung und Respekt.

*Streiken gegen den Krieg — die Bedeutung der Massenstreiks in der Metallindustrie vom Januar 1918 (Hg. C.Boebel/L.Wentzel), Hamburg: VSA, 2008, 10,80 Euro.


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