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Der 9.November ist in Deutschland ein geschichtsträchtiger
Tag — das Novemberpogrom von 1938, 15 Jahre zuvor marschierte Hitler auf die
Münchner Feldherrenhalle, 1989 fiel die Berliner Mauer. Weniger bekannt ist der Jahrestag
1848: An diesem Tag wurde Robert Blum erschossen. Damit erstickte man den ersten großen
Versuch, in Deutschland demokratische Verhältnisse herzustellen.
Wir richten das Augenmerk
jedoch auf den 9.November 1918, an dem Philip Scheidemann und Karl Liebknecht zeitgleich die
Monarchie für beendet erklärten. Diesen Ereignissen vorausgegangen waren solche, die
die Novemberrevolution vorbereitet haben: die Revolte der Matrosen im Sommer 1917 in
Wilhelmshaven und nicht zuletzt der Streik der Berliner Metallindustrie im Januar 1918. Diesen
Streik lassen die Autoren des Buches Streiken gegen den Krieg* Revue passieren und fragen, was
man daraus für heute lernen kann. Anstoß für das Buch gab ein gleichnamiges
Seminar in der IG-Metall-Bildungsstätte Berlin.
Der Streik, der am 28.Januar 1918 in Berlin begann, war der größte Massenstreik
gegen den Ersten Weltkrieg und einer von vier politischen Streiks in Deutschland im ganzen
20.Jahrhundert. Er erfasste 400000 Arbeiterinnen und Arbeiter — im ganzen Land nahmen
fast eine Million Menschen an der Streikbewegung teil, die Berliner Rüstungsindustrie kam
für eine Woche zum erliegen.
Die Streikenden forderten die
monarchistische Staatsordnung heraus: Außer einer Verbesserung der Lebensmittelversorgung
forderten sie ein Ende des Krieges ohne Eroberungen und Kriegsentschädigungen, die
Hinzuziehung von Arbeitervertretern aller Länder zu den Verhandlungen, die Aufhebung des
Belagerungszustands, die Wiederherstellung aller durch die Militärbehörde
verordneten Einschränkungen demokratischer Rechte, die Freilassung aller politischen
Gefangenen und eine durchgreifende Demokratisierung des preußischen Staatswesens.
Im Buch Streiken gegen den
Krieg beschreibt Ralf Hoffrogge Motive und Akteure der Massenaktion: „Spontaner
Wutausbruch und geplante Aktion — beide Beschreibungen treffen zu auf den Januarstreik
des Jahres 1918. Hier entlud sich die Wut der Arbeiterklasse über das fast vier Jahre
andauernde Massaker an Ost- und Westfront, über offensichtliche deutsche
Eroberungsgelüste im Rahmen eines vermeintlichen Verteidigungskrieges, über Mangel,
Entbehrungen und den nackten Hunger an der Heimatfront. Nach dem Startschuss in
Berlin breitete sich die Bewegung wie ein Lauffeuer aus. In Hamburg, Danzig, Magdeburg und
vielen weiteren Städten kam es spontan zu ähnlichen Protesten und
Arbeitsniederlegungen. Bei näherem Hinsehen jedoch brach auch dieser Streik nicht einfach
aus, er wurde gemacht. Hinter ihm standen die USPD und die Spartakusgruppe, vor allem aber die
Revolutionären Obleute mit ihrem Sprecher Richard Müller. Sie waren es, die vor
allem in Berlin den breiten Rückhalt in der Arbeiterschaft hatten, ohne den jede geplante
Widerstandsaktion ins Leere laufen musste."
Dabei gelang den Obleuten
erfolgreich ein Bruch mit eingefahrenen gewerkschaftlichen Traditionen. Daraus lässt sich
auch heute noch viel lernen. Hoffrogge: „Der Kriegsausbruch im August 1914 stellte die
bisherige politische Praxis vieler Aktivisten der Arbeiterbewegung radikal in Frage.
Kollektivität und Solidarität waren für sie bisher gleichgesetzt mit Disziplin
und Loyalität gegenüber der eigenen Gewerkschaft. Nun jedoch mussten Müller und
seine Genossen feststellen, dass die Leitung des DMV [Deutscher Metallarbeiterverband] nicht
nur dem Ausbruch des Krieges keinen Widerstand leistete, sondern durch die Vereinbarung eines
Burgfriedens mit den Unternehmern auch ohne Not das Streikrecht aus der Hand gab
... Dieser Entscheidung wollte sich Müller nicht beugen, und auch die Mehrheit der
Berliner Dreher lehnte den Burgfrieden ab. Bereits im ersten Kriegsjahr führten sie unter
der Leitung von Müller in Berlin wilde Streiks durch und traten damit in offene
Opposition gegen die Führung des DMV. Obwohl sich die Arbeitskämpfe zunächst
auf ökonomische Forderungen beschränkten, waren sie doch ein entscheidender Schritt
gegen die nationalistische Vereinnahmung der Arbeiterbewegung. Während unter den Linken
in Sozialdemokratie und Gewerkschaften noch Lähmung und Verunsicherung dominierten,
zeigten sich hier auf lokaler Ebene erste Ansätze von Widerstand."
Die hierarchische Struktur der
damaligen Gewerkschaftsbewegung sah horizontale Kommunikation oder Willensbildung jedoch kaum
vor, sodass es fast zwei Jahre dauerte, bis sich aus diesen Ansätzen eine
handlungsfähige überregionale Opposition entwickelte, das Netzwerk der
„Revolutionären Obleute” Diese Organisation entstand aus der Berliner Branche
der Dreher und setzte sich zusammen aus Vertrauensleuten der Großbetriebe der Berliner
Metall- und Rüstungsindustrie. Jeder dieser „Obmänner” hatte seinerseits
Vertraute in den Werkstätten und Abteilungen seines Betriebes, sodass die nur etwa 50
Leute umfassende und im Geheimen agierende Gruppe dennoch Einfluss auf Zehntausende,
später Hunderttausende Arbeiter im Großraum Berlin und darüber hinaus hatte.
Soviel Einfluss war
möglich durch die enge Basisbindung der Obleute: Nur Arbeiter, die tatsächlich das
Vertrauen einer Mehrheit ihrer Kollegen und Kolleginnen genossen, wurden in den Kreis
aufgenommen. Die Obleute hatten stets ein besseres Ohr für die Stimmung der Massen als
die in den Parlamenten agierende USPD und der Spartakusbund. Bei ihren Aktionen achteten sie
stets darauf, nicht gegen die Stimmung der Basis in den Fabriken zu handeln — das trug
ihnen teilweise den Vorwurf der Zögerlichkeit ein, gewährleistete andererseits aber
auch den Erfolg ihrer Aktionen.
Der Streik verschärfte sich nach dem 28.Januar mit jedem Tag und gipfelte in der
Ankündigung der Oberbefehlshaber, sieben Großbetriebe unter ihr Kommando zu stellen
und außerordentliche Kriegsgerichte einzuführen, sollte die Arbeit bis zum 4.Februar
nicht wieder aufgenommen werden.
Richard Müller, der
Sprecher der Revolutionären Obleute, schrieb in einem Rückblick: „Es gab jetzt
drei Möglichkeiten. Erstens: Verhandlung mit der Regierung unter Hinzuziehung der
Generalkommission und dann Abbruch des Streiks. Zweitens: Steigerung des Streiks bis zum
Aufruhr, und drittens: Abbruch des Streiks ohne Verhandlungen. Die erste Möglichkeit
wurde abgelehnt. Um keinen Preis durfte der Generalkommission [der Gewerkschaften] die
Möglichkeit geboten werden, als Retter in der Not zu erscheinen. Es hatte
einen langen, harten und zähen Kampf gekostet, um der Generalkommission das Vertrauen der
Masse zu entziehen. Der gewaltige Massenstreik, auf den die berufenen
Gewerkschaftsführer nicht den geringsten Einfluss ausübten, war der beste Beweis
für den Erfolg der Arbeit der letzten Jahre. Man glaubte auch nicht an das
zufällige Verhandeln über Wirtschaftsfragen mit dem Reichskanzler.
Vielmehr glaubte man an ein abgekartetes Spiel beider Teile. Die Opfer des Streiks wären
nicht geringer geworden, aber das Vertrauen der Masse zu den revolutionären Obleuten
hätte einen schweren Stoß erhalten.
"Die zweite
Möglichkeit, Steigerung des Streiks bis zum Aufruhr, wurde von dem Spartakusbund
propagiert. Die Leitung der revolutionären Obleute lehnte es ab. Eine Steigerung der
Bewegung war für Berlin möglich, aber sie wäre isoliert vom übrigen Reich
erfolgt, denn überall war der Streik durch Verhandlungen wieder beigelegt worden, oder
das Ende stand unmittelbar bevor. Die Berliner Arbeiter konnten allein den Endkampf mit der
Regierung und der Bourgeoisie nicht aufnehmen. Der Versuch wäre mit unermesslichen Opfern
bezahlt worden und mit dem Verlust der revolutionären Kraft an der wichtigsten Stelle.
Ein Kampf, wie ihn der Spartakusbund forderte, war ohne die Hilfe der Soldaten unmöglich;
wenn sich auch im Heere eine Anzahl revolutionärer Elemente befanden, so konnten sie sich
doch noch nicht loslösen und entfalten. Ob die Truppen, die in Berlin lagen, sich der
revolutionären Bewegung anschließen würden, stand erst recht im Zweifel."
"Es blieb nur die dritte
Möglichkeit: Abbruch des Streiks ohne Verhandlungen. Man war sich klar darüber, dass
dieser Ausgang als große Niederlage der Arbeiter und als Sieg der Regierung vom
Vorwärts bis zur Kreuz-Zeitung bewertet werden würde. Aber darauf kam es nicht an.
Entscheidend war, wie ein solcher Ausgang von den im Kampfe Stehenden empfunden wurde. Und da
täuschte sich die Leitung nicht. Ihre Parole zum Abbruch wurde am 3.Februar ausgegeben
und ohne Murren befolgt. Die Arbeiter fühlten sich nicht geschlagen, sondern als
Kämpfer, die den Rückzug antreten, um mit stärkerer Kraft vorzustoßen. Aus
der geschaffenen Stimmung klang es überall heraus: wir brauchen Waffen, wir müssen
unsere Propaganda in das Heer tragen. Nur eine Revolution bringt uns Rettung."
Müllers Chronik endet mit
den Worten: „Wie vorauszusehen war, blieben die Opfer des Kampfes nicht aus. Die
Arbeiter beklagten sechs Tote und eine erhebliche Anzahl zum Teil schwer Verletzter. Dazu
wurden von den außerordentlichen Kriegsgerichten viele Jahre Zuchthaus- und
Gefängnisstrafen verhängt. Fast alle revolutionären Obleute wurden zum
Kriegsdienst eingezogen, dazu noch Tausende am Streik Beteiligte. Die Regierung glaubte damit
der revolutionären Bewegung Herr zu werden. Die Rechnung war falsch. Neun Monate
später wurde sie beglichen."
Diesen mutigen Arbeitern
zollen die Autorinnen und Autoren des Buches noch nachträglich Anerkennung und Respekt.
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