SoZ - Sozialistische Zeitung |
Berlin. Die Demo mit 80000—10000 Teilnehmenden ist
gerade zu Ende gegangen. Die vorgesehene Abschlusskundgebung auf dem Bebelplatz findet nicht
statt, weil die Polizei die Demonstration vorher beendete. Ich bin mich mit Niklas Wuchenauer
in einem Kreuzberger Café verabredet. Niklas hat die Aufgabe, den Medien Auskunft zu
geben. Ab und zu schaut er besorgt nach draußen, wenn gerade ein paar Wannen
vorbeifahren. Er will dazu beitragen, dass die Aktion, die die Schülerinnen und
Schüler wochenlang vorbereitet haben, in ihrem Sinne ausgeht. In kurzen Abständen
klingelt immer wieder sein Handy, und ich bin beeindruckt wie souverän der 16-
Jährige das macht. Geschlagene 20 Minuten telefoniert er mit einem Journalisten von Bild,
der immer neue Fallen auslegt, um zitierfähige Botschaften zu bekommen. Doch der
Kreuzberger Gymnasiast umschifft alle Klippen. Das hätte ich mit 16 nicht gekonnt. Am
nächsten Tag titelt Bild mit der Schlagzeile: „Chaoten verwüsten die Humboldt-
Uni” (ein Teil der Demo hatte den Versuch unternommen, den Betrieb der HU ein wenig
durcheinander zu bringen, dabei wurde eine Ausstellung beschädigt) — aus dem
miterlebten Telefongespräch konnte der Redakteur nichts Brauchbares gegen den
Schulprotest verwenden. Worum geht es und was lief?
Über 100000 Jugendliche
haben nach Angaben der Schülerinitiative „Bildungsbarrieren einreißen”
an den bundesweiten Schulstreiks und Demonstrationen teilgenommen, die am 12.November in mehr
als 40 Städten durchgeführt wurden. Bemerkenswert an dieser Initiative waren nicht
nur die Zahl der Teilnehmenden und die Tatsache, dass die Aktion bundesweit koordiniert
stattfand. Bemerkenswert ist die politische Stoßrichtung des vor allem von jungen
Gymnasiasten organisierten Protests. Hier mobilisieren nicht Kinder ständisch
orientierter Mittelschichten, die die Konkurrenz für ihren Nachwuchs klein halten wollen,
sondern Heranwachsende und junge Erwachsene, die den Kern der neoliberalen Bildungsreform
angreifen und ihr ein umfassendes Modell einer solidarischen Schule und Gesellschaft
entgegensetzen.
Gefordert wird eine kostenlose
Bildung für alle und damit die Abschaffung von Kitagebühren, Büchergeld und
Studiengebühren. Förderung soll nicht wie bei der selbstfinanzierten Nachhilfe vom
Geldbeutel abhängen, sondern muss in der Schule stattfinden und ein Anrecht sein. Die
Klassenstärke soll auf 20 Schüler beschränkt werden, was nur durch die
Neueinstellung von Lehrern geht. Die Initiative fordert die Abschaffung des dreigliedrigen
Schulwesens und sieht auch ihre Ersetzung durch ein zweigliedriges Schulsystem kritisch.
Fester Bestandteil des Forderungspakets ist die Demokratisierung der Schulen. Schüler
sollen sich an der Erstellung der Lehrpläne beteiligen können. Ein Schulleiter soll
durch eine Mehrheit von Schülern, Lehrern und der Eltern abgewählt werden
können.
Ebenfalls in der Kritik steht
der Unterricht: „Frontalunterricht ist pädagogisch gesehen schwachsinnig, erzieht
zum blinden Gehorsam und lässt kaum Raum für Eigeninitiative. Projektarbeit,
Gruppenarbeit, lernen in der realen Welt statt in stickigen Klassenzimmern ist
lehrreicher und bringt deutlich mehr Spaß.” Auf offene Ablehnung stößt
eine Entwicklung, in der Konzerne über Sponsoring und Werbung immer stärker Einfluss
auf Schulen und Universitäten nehmen: „Statt unabhängig und gesellschaftlich
Sinnvolles zu lernen, wird immer mehr das gelehrt, was den Interessen einiger Unternehmen
entspricht.” Die Initiative spricht sich deshalb gegen Privatisierungen, gegen den
Verkauf von Schulgebäuden und gegen Werbung an den Schulen aus. Die erforderlichen
Geldmittel für die Beendigung der strukturellen Unterfinanzierung des Bildungswesens
wären im Vergleich zum sog. „Rettungspaket” der Banken ausgesprochen
bescheiden.
Die Schulstreikaktion wurde
nicht nur von der Landesschülervertretung getragen, sondern auch von der Landes-Asten-
Konferenz und der GEW. Deshalb wollten die Veranstalter ihre Aktion auch als
„Bildungsstreik” sehen. Der Bildungsstreik orientiere sich am Ziel einer
partizipatorisch-demokratischen Gesellschaft.
Mit Blick auf die laufenden
Verhandlungen über den Hochschulhaushalt wurde der Senat von Berlin aufgefordert, die von
den Hochschulen geforderten 160 Millionen Euro Mehrkosten zu bewilligen. Ohne diese
Geldspritze sieht die Initiative 15000 Studienplätze auf dem Spiel. Doch die
Bereitschaft, aus vollmundigen Absichtserklärungen real finanzierte Entwicklungen zu
machen, fehle beim „rot-roten” Senat; allerdings sehen Teile der Protestierenden
in der Linkspartei eine Bereitschaft, über die Umsetzung ihrer Forderungen nachzudenken.
Niklas Wuchenauer sieht die
Aktionen der Schüler als „gelebte Demokratie”, er betrachtet es als ein
Problem, dass Lehrern und Medien solche politischen Demonstrationen nicht in diesen Kontext
stellen.
Die Berliner
Schülerinitiative ist selbstbewusst und sie ist hartnäckig. Es ist der vierte
Schulstreik seit 2006, und die Organisatoren lassen sich nicht davon entmutigen, dass
dieselben Parteienvertreter, die eine bessere Bildung zum Topthema erklärt haben, sie wie
ein unerwünschtes Kind behandeln. Die „Kinder” werden sich im Dezember auf
einer bundesweiten Konferenz zusammensetzen und beraten, wie es weitergehen soll. Ein
großer Schritt voran wäre es, wenn nicht nur die Interessenvertretung der Eltern und
Lehrer, sondern auch andere Gewerkschaften den Kampf für ein anderes Bildungssystem als
eine gemeinsame Aufgabe begreifen würden. Die Schülerinitiative ist so angelegt,
dass man die ausgestreckte Hand nur ergreifen muss.
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