SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 08

Kostenlose Bildung für alle

100000 Jugendliche mobilisieren bundesweit

von JOCHEN GESTER

"Bildungsbarrieren einreißen” hieß die Losung, für die am 12.November im ganzen Land Schülerinnen und Schüler auf die Straße gingen.

Berlin. Die Demo mit 80000—10000 Teilnehmenden ist gerade zu Ende gegangen. Die vorgesehene Abschlusskundgebung auf dem Bebelplatz findet nicht statt, weil die Polizei die Demonstration vorher beendete. Ich bin mich mit Niklas Wuchenauer in einem Kreuzberger Café verabredet. Niklas hat die Aufgabe, den Medien Auskunft zu geben. Ab und zu schaut er besorgt nach draußen, wenn gerade ein paar Wannen vorbeifahren. Er will dazu beitragen, dass die Aktion, die die Schülerinnen und Schüler wochenlang vorbereitet haben, in ihrem Sinne ausgeht. In kurzen Abständen klingelt immer wieder sein Handy, und ich bin beeindruckt wie souverän der 16- Jährige das macht. Geschlagene 20 Minuten telefoniert er mit einem Journalisten von Bild, der immer neue Fallen auslegt, um zitierfähige Botschaften zu bekommen. Doch der Kreuzberger Gymnasiast umschifft alle Klippen. Das hätte ich mit 16 nicht gekonnt. Am nächsten Tag titelt Bild mit der Schlagzeile: „Chaoten verwüsten die Humboldt- Uni” (ein Teil der Demo hatte den Versuch unternommen, den Betrieb der HU ein wenig durcheinander zu bringen, dabei wurde eine Ausstellung beschädigt) — aus dem miterlebten Telefongespräch konnte der Redakteur nichts Brauchbares gegen den Schulprotest verwenden. Worum geht es und was lief?
Über 100000 Jugendliche haben nach Angaben der Schülerinitiative „Bildungsbarrieren einreißen” an den bundesweiten Schulstreiks und Demonstrationen teilgenommen, die am 12.November in mehr als 40 Städten durchgeführt wurden. Bemerkenswert an dieser Initiative waren nicht nur die Zahl der Teilnehmenden und die Tatsache, dass die Aktion bundesweit koordiniert stattfand. Bemerkenswert ist die politische Stoßrichtung des vor allem von jungen Gymnasiasten organisierten Protests. Hier mobilisieren nicht Kinder ständisch orientierter Mittelschichten, die die Konkurrenz für ihren Nachwuchs klein halten wollen, sondern Heranwachsende und junge Erwachsene, die den Kern der neoliberalen Bildungsreform angreifen und ihr ein umfassendes Modell einer solidarischen Schule und Gesellschaft entgegensetzen.
Gefordert wird eine kostenlose Bildung für alle und damit die Abschaffung von Kitagebühren, Büchergeld und Studiengebühren. Förderung soll nicht wie bei der selbstfinanzierten Nachhilfe vom Geldbeutel abhängen, sondern muss in der Schule stattfinden und ein Anrecht sein. Die Klassenstärke soll auf 20 Schüler beschränkt werden, was nur durch die Neueinstellung von Lehrern geht. Die Initiative fordert die Abschaffung des dreigliedrigen Schulwesens und sieht auch ihre Ersetzung durch ein zweigliedriges Schulsystem kritisch. Fester Bestandteil des Forderungspakets ist die Demokratisierung der Schulen. Schüler sollen sich an der Erstellung der Lehrpläne beteiligen können. Ein Schulleiter soll durch eine Mehrheit von Schülern, Lehrern und der Eltern abgewählt werden können.
Ebenfalls in der Kritik steht der Unterricht: „Frontalunterricht ist pädagogisch gesehen schwachsinnig, erzieht zum blinden Gehorsam und lässt kaum Raum für Eigeninitiative. Projektarbeit, Gruppenarbeit, lernen in der ‘realen Welt‘ statt in stickigen Klassenzimmern ist lehrreicher und bringt deutlich mehr Spaß.” Auf offene Ablehnung stößt eine Entwicklung, in der Konzerne über Sponsoring und Werbung immer stärker Einfluss auf Schulen und Universitäten nehmen: „Statt unabhängig und gesellschaftlich Sinnvolles zu lernen, wird immer mehr das gelehrt, was den Interessen einiger Unternehmen entspricht.” Die Initiative spricht sich deshalb gegen Privatisierungen, gegen den Verkauf von Schulgebäuden und gegen Werbung an den Schulen aus. Die erforderlichen Geldmittel für die Beendigung der strukturellen Unterfinanzierung des Bildungswesens wären im Vergleich zum sog. „Rettungspaket” der Banken ausgesprochen bescheiden.
Die Schulstreikaktion wurde nicht nur von der Landesschülervertretung getragen, sondern auch von der Landes-Asten- Konferenz und der GEW. Deshalb wollten die Veranstalter ihre Aktion auch als „Bildungsstreik” sehen. Der Bildungsstreik orientiere sich am Ziel einer partizipatorisch-demokratischen Gesellschaft.
Mit Blick auf die laufenden Verhandlungen über den Hochschulhaushalt wurde der Senat von Berlin aufgefordert, die von den Hochschulen geforderten 160 Millionen Euro Mehrkosten zu bewilligen. Ohne diese Geldspritze sieht die Initiative 15000 Studienplätze auf dem Spiel. Doch die Bereitschaft, aus vollmundigen Absichtserklärungen real finanzierte Entwicklungen zu machen, fehle beim „rot-roten” Senat; allerdings sehen Teile der Protestierenden in der Linkspartei eine Bereitschaft, über die Umsetzung ihrer Forderungen nachzudenken.
Niklas Wuchenauer sieht die Aktionen der Schüler als „gelebte Demokratie”, er betrachtet es als ein Problem, dass Lehrern und Medien solche politischen Demonstrationen nicht in diesen Kontext stellen.
Die Berliner Schülerinitiative ist selbstbewusst und sie ist hartnäckig. Es ist der vierte Schulstreik seit 2006, und die Organisatoren lassen sich nicht davon entmutigen, dass dieselben Parteienvertreter, die eine bessere Bildung zum Topthema erklärt haben, sie wie ein unerwünschtes Kind behandeln. Die „Kinder” werden sich im Dezember auf einer bundesweiten Konferenz zusammensetzen und beraten, wie es weitergehen soll. Ein großer Schritt voran wäre es, wenn nicht nur die Interessenvertretung der Eltern und Lehrer, sondern auch andere Gewerkschaften den Kampf für ein anderes Bildungssystem als eine gemeinsame Aufgabe begreifen würden. Die Schülerinitiative ist so angelegt, dass man die ausgestreckte Hand nur ergreifen muss.


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